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BERICHT
Geriatrie
Schmerztherapie bei alten Patienten – eine Herausforderung
Mit zunehmendem Alter stellen sich bei vielen chronische Schmerzen ein – meist am Bewegungsapparat, vor allem Rücken- und (Knie-)Gelenkschmerzen. Doch bei multimorbiden Senioren wird es mit der Schmerztherapie schwierig; es drohen starke Neben- und Wechselwirkungen. Dr. Marius Wipfli, Bern, gab Tipps, wie sich bei älteren Patienten Schmerzen dennoch lindern lassen.
Je älter der Mensch wird, desto mehr knirscht es im Gebälk – anders ausgedrückt: Mit zunehmendem Alter schreitet die Degeneration des Organismus fort, was sich am Bewegungsapparat mit Gelenkbeschwerden, vor allem an Rücken und Knie, bemerkbar macht. Wie Wipfli, Schmerzspezialist am Lindenhofspital in Bern, berichtete, lässt sich bei 75 Prozent der Menschen über 60 Jahren eine degenerative Bandscheibenveränderung im Zervikalbereich nachweisen, am häufigsten zwischen C5 und C6. Das heisst aber nicht, dass alle diese Menschen Schmerzen haben. Bekanntlich korrelieren die Befunde der Bildgebung nicht mit der Symptomatik. Umgekehrt können starke Schmerzen bestehen, während in der Magnetresonanztomografie (MRT) kaum Veränderungen sichtbar sind.
Auch Demente haben Schmerzen
Nicht alle alten Patienten, die Schmerzen haben, äussern das auch. Vor allem demente Senioren klagen kaum, obwohl ihre Schmerzschwelle die gleiche ist wie bei nicht dementen, was sich mittels funktioneller MRT nachweisen lässt. Dennoch brauchen auch sie Analgetika. Wipfli berichtete von einer Studie, bei der Demenzkranke randomisiert über 4 Wochen entweder Plazebo oder Paracetamol (3g/Tag) erhalten haben.
KURZ & BÜNDIG
� Bei einer Therapie mit NSAR drohen geriatrischen Patienten neben den kardiovaskulären und gastrointestinalen Nebenwirkungen auch Wechselwirkungen; z. B. wird die antithrombotische Wirkung von ASS in der Sekundärprophylaxe aufgehoben.
� Bei alten Patienten ist Methadon als Opiat günstig, da es nicht renal eliminiert wird und in allen Darreichungsformen zur Verfügung steht.
� Mit Verfahren der interventionellen Schmerztherapie lassen sich effektiv Gelenkschmerzen, vor allem Rückenschmerzen, lindern – ganz ohne die Gefahr der Arzneimittelinteraktion.
In der Verumgruppe wurden zu Studienende eine deutlich verbesserte soziale Interaktion sowie ein verbessertes Arbeitsverhalten (selbstständig essen, sich anziehen etc.) festgestellt, und auch der Bedarf an Sedativa ging deutlich zurück. Eine suffiziente Schmerztherapie lohnt also auch auf kognitiver Ebene bei dementen Patienten. Paracetamol als schwach wirksames Analgetikum reicht jedoch in der Regel bei chronischen Schmerzen am Bewegungsapparat nicht aus. Doch was ist für geriatrische Schmerzpatienten geeignet? Zwar gebe es sehr viele Review-Studien zum Thema Schmerz, doch nur 2 Prozent davon hätten Teilnehmer über 65 Jahren, und Studien mit über 85-Jährigen existierten überhaupt nicht, beklagte Wipfli.
Cave: Wechsel- und Nebenwirkungen
Bei den multimorbiden Älteren ist eine Schmerztherapie in jedem Fall komplex. Denn viele chronische Erkrankungen (z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, COPD oder Diabetes) gehen bereits mit einer Polypharmazie einher. Wird zusätzlich eine Schmerztherapie nötig, muss bei der Wahl des Analgetikums umso mehr auf Wechselwirkungen geachtet werden. Dazu kommt noch, dass die Nierenfunktion physiologisch mit dem Alter abnimmt. Dadurch drohen Akkumulationseffekte und insgesamt eine höhere Rate an Nebenwirkungen.
NSAR – Gefahr für Herz und Magen
Die am häufigsten verordneten Analgetika – nicht nur bei Senioren – sind nicht steroidale Antirheumatika (NSAR). Für alle Vertreter dieser Substanzgruppe gilt, dass sie bei höheren Dosen ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre und gastrointestinale (GI) Ereignisse (Blutungen) bergen. Aber es gibt Unterschiede: Wie Wipfli erläuterte, steigt unter COX-2Hemmern, Ibuprofen und Diclofenac die kardiovaskuläre Mortalität, nicht aber unter Naproxen. Allerdings erhöhen alle NSAR das Risiko, dass eine bestehende Herzinsuffizienz dekompensiert. In Sachen GI-Blutungen ist Naproxen am gefährlichsten: Hier ist das Risiko im Vergleich zu Plazebo um mehr als das 4-Fache erhöht (Risk Ratio: 4,2), bei den COX-2-Hemern (z. B. Etoricoxib) beträgt das Risiko für
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GI-Blutungen nur knapp das Doppelte (RR: 1,8). Und diese Blutungen seien keine Bagatelle: Etwa 2 Prozent verliefen tödlich, betonte Wipfli. Der Schmerztherapeut machte auch noch auf eine wichtige Wechselwirkung aufmerksam: NSAR, vor allem Naproxen, können den antithrombotischen Effekt von Acetylsalicylsäure (ASS) aufheben. Und die kleinen ASS-Dosen werden häufig bei Vorhofflimmern zur Schlaganfallprophylaxe verordnet. Insgesamt ist Wipfli bei alten Patienten mit NSAR zurückhaltend: Zwar werden diese Analgetika sehr häufig bei Rückenschmerzen verschrieben, sie sind aber nur wenig besser als Plazebo. Bei Arthroseschmerzen setzt der Schmerztherapeut sie im Entzündungsschub durchaus ein, allerdings nur für maximal 10 Tage. «NSAR sind bei Arthrose keine Dauertherapie.»
schlecht steuerbar ist. Zudem hemmt Tramadol die Wiederaufnahme von Serotonin. Wird es zusammen mit Serotoninwiederaufnahmehemmern (wie z. B. Fluoxetin) eingenommen, kann sich ein lebensbedrohliches Serotoninsyndrom entwickeln. s Morphin wird über die Niere ausgeschieden und wirkt stark sedierend, was bei alten Menschen fatale Folgen (Stürze, Kognitionseinschränkungen) haben kann. s Pethidin wirkt durch seine anticholinerge Wirkkomponente schon per se negativ auf die geistige Leistungsfähigkeit, das heisst, Pethidin leistet einer Demenz Vorschub und ist daher bei alten Menschen ungeeignet. Nicht zuletzt aufgrund der Wechselwirkungen und auch des Suchtpotenzials ist Wipfli generell mit dem Einsatz von Opiaten bei Patienten mit chronischen nicht tumorbedingten Schmerzen sehr zurückhaltend.
Geeignete Opiate
Aufgrund der Wechsel- und Nebenwirkungen von NSAR kann bei geriatrischen Patienten auch frühzeitig der Einsatz von Opiaten erwogen werden. Doch nicht alle Vertreter dieser Substanzgruppe sind für alte Patienten geeignet. Laut Wipfli kommen infrage: s Buprenorphin s Tapentadol (lindert auch neuropathischen Schmerz) s Hydromorphon (vorteilhaft, weil es nicht renal eliminiert
wird) s Oxycodon (mit Naloxon), niedrig dosiert beginnen s Methadon. Aufgrund seiner Erfahrungen setzt Wipfli von diesen Opiaten vor allem Methadon ein, auch wenn es durch den Einsatz als Drogenersatztherapie bei Suchtkranken einen schlechten Ruf hat. Der grosse Vorteil: Methadon wird hepatisch und nicht renal eliminiert, sodass der Wirkstoff nicht akkumulieren kann, wie es bei alten Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion zu befürchten ist. Und Methadon kann auf jedem Weg verabreicht werden: oral, intravenös, subkutan, bukkal und rektal. Methadon ist ein My-Rezeptor-Agonist und hemmt zusätzlich den NMDA-Rezeptor, wodurch es auch neuropathische Schmerzen lindert. Methadon hat eine sehr lange Halbwertszeit von 20 bis 30 Stunden, und es dauert 5 bis 7 Tage, bis die nächste Dosis nötig wird. Wipfli warnte daher vor einer zu schnellen Dosiserhöhung, da sonst eine Akkumulation drohe. Da Methadon über das CytochromP3A4-Isoenzym abgebaut wird, kann es zu Wechselwirkungen mit Antibiotika oder Carbamazepin kommen. Wipfli wies auch darauf hin, dass es unter sehr hohen Dosen von Methadon (> 400 mg/Tag) – und manche Patienten brauchen dies – zu Herzrhythmusstörungen vom Torsade-depointes-Typ kommen kann.
No-go-Opiate im Alter
Als Opiate, die bei geriatrischen Patienten eher ungeeignet seien, nannte Wipfli die folgenden: s Codein wird von Patient zu Patient unterschiedlich schnell
verstoffwechselt. Daher lässt sich die Dosierung nur schwer abschätzen, es ist schlecht steuerbar, und es besteht die Gefahr einer Intoxikation. s Das gilt auch für Tramadol, das über den gleichen Weg wie Codein verstoffwechselt wird und daher ebenfalls
Alternative: interventionelle Schmerztherapie
Eine Alternative zu Analgetika könnte die interventionelle
Schmerztherapie sein. Hier gibt es verschiedene Verfahren,
um die sensiblen Nerven an der Schmerzweiterleitung zu
hindern, die allerdings den Schmerzspezialisten vorbehalten
sind. Wipfli nannte hier einige Beispiele:
s Die epidurale Steroidinfiltration bei Spinalkanalstenose
ist zwar gut etabliert, obwohl der Erfolg nicht gut belegt
ist.
s Periradikuläre Steroidinfiltrationen an den Facettengelen-
ken – vor allem im Zervikalbereich – senken Nacken- und
Schulterschmerzen.
s Mit einer Denervation an den Facettengelenken der Wir-
belkörper oder am Iliosakralgelenk lassen sich Rücken-
schmerzen erfolgreich lindern, diese haben sich in der
Praxis bewährt.
s Ebenfalls in der Praxis etabliert, mit ebenfalls gut belegten
Erfolgen, ist die Neurolyse mittels Kryotherapie, Alkohol
oder Phenol. Diese Verfahren kommen beispielsweise bei
Patienten zum Einsatz, die zwar eine gut sitzende Knie-
endoprothese, aber dennoch starke Schmerzen, sowohl
im Alltag als auch nachts, haben. Bei diesen Patienten
werden durch die Neurolyse die Nervi geniculares, also
die sensiblen Nerven des Gelenks, verödet.
Die interventionelle Schmerztherapie erfolgt unter Röntgen-
und/oder Ultraschallkontrolle, wobei Wipfli vor allem letz-
tere favorisiert, weil sich damit auch die Gefässe darstellen
und so Fehlinjektionen vermeiden lassen.
Nachteil der interventionellen Schmerztherapie: Für alte,
mobilitätseingeschränkte Patienten ist es häufig organisato-
risch sehr aufwendig, mehrmals zum oft weit entfernten
Schmerztherapeuten zu gelangen. Dennoch sollten Haus-
ärzte gerade bei multimorbiden Patienten an die Möglich-
keiten der interventionellen Schmerztherapie denken – nicht
zuletzt, um Wechselwirkungen aus dem Weg zu gehen,
schloss Wipfli.
s
Angelika Ramm-Fischer
Quelle: «Schmerztherapie beim komplexen geriatrischen Patienten», FOMF-Hausarzt-Fortbildungstage, 15.3.2024 in Bern.
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