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Erkrankungen bei alten Menschen
Medizin der Person anpassen
BERICHT
Bei alten Menschen verläuft vieles schwerer, vor allem wenn Sarkopenie und Frailty bestehen. Beides kann aber teilweise rückgängig gemacht werden, deshalb sollten sie gesucht werden. Auch geriatrische Notfälle verhalten sich anders. Trotz schwerer Erkrankungen sind die Betroffenen häufig oligosymptomatisch, und die Diagnose Delir sollte auf dem Notfall grosszügig gestellt werden, denn es löse ein anderes Management aus, erklärte PD Dr. Thomas Münzer, Chefarzt Geriatrische Klinik St. Gallen
Alte Menschen haben ein grösseres Risiko für die Entwicklung von chronischen Erkrankungen. Zudem sind sie je länger, desto mehr von Muskelabbau, zunehmender Gebrechlichkeit, verringerter Funktionalität und Mobilität sowie einem abnehmenden Gedächtnis betroffen. Einsamkeit ist in diesem Alter ebenfalls häufig. Im Gegenzug könnten aber die Biografie und die Lebenserfahrung gewisse Einschränkungen aufwiegen, so Münzer. Häufig sei auch die Einstellung gegenüber der Medizin bei alten Menschen anders, sodass die Medizin an die Person angepasst werden müsse und nicht umgekehrt.
Wann liegt eine Sarkopenie vor?
Etwa ab dem 40. Lebensjahr beginnt die Muskulatur um 1 bis 2 Prozent pro Jahr abzunehmen. Eine Sarkopenie entsteht bei einer Dysbalance zwischen Proteinsynthese und -abbau sowie Apoptose. Davon ist die periphere wie auch die Stammmuskulatur betroffen. Vermutlich seien aber auch die altersbedingten Schluckbeschwerden eine Folge der Sarkopenie beziehungsweise des Muskelabbaus der glatten Muskulatur, so der Geriater. Zu unterscheiden ist die Sarkopenie von einer Kachexie, die im Rahmen von chronisch entzündlichen, kardialen oder pulmonalen Erkrankungen oder Tumorleiden auftreten kann. Die Muskelatrophie wird durch das Propeptid Myostatin mitinduziert, das dafür sorgt, dass der Muskel nicht unkontrolliert wächst. Die altersbedingte Muskelatrophie bezie-
KURZ & BÜNDIG
� Sarkopenie und Frailty gehen Hand in Hand und gelten beide als prognostische Marker.
� Sarkopenie ist teilweise reversibel, beispielsweise durch Training und Ernährungsanpassung.
� Den Frailty-Status bei allen älteren Patienten erheben.
� Sarkopenie bei älteren Patienten suchen und eine positive Diagnose bei Spitaleinweisungen an das Spital weiterleiten.
� Alte Patienten weisen trotz schwerer Erkrankung häufig atypische Symptome auf.
hungsweise Sarkopenie kommt unter anderem durch eine Hypermyostatinämie zustande. Von aussen ist das aber nicht immer ersichtlich. Während bei einer nicht sarkopenen Person der Muskelanteil im Oberschenkelquerschnitt grösser ist als der Fettanteil, kann es sich bei einer sarkopenen Person mit gleich grossem Oberschenkelumfang umgekehrt verhalten, was als «sarcopenic obesity» bezeichnet wird (1). Folgen der schwindenden Muskulatur sind abnehmende Kraft und reduzierte Kapazität der Sauerstoffaufnahme. Der Muskelersatz durch Fettgewebe könne überall, beispielsweise auch in der Rückenmuskulatur, auftreten (2), was mit ein Grund für die zunehmenden Rückenbeschwerden im Alter sein könne, so Münzer.
Sarkopenie suchen
Als Ursachen für eine Sarkopenie kommen verschiedene Faktoren infrage. Neben den alterungsbedingt hormonellen Veränderungen und dem physiologischen Muskelabbau tragen zusätzliche Faktoren wie zum Beispiel Mangelernährung, Kortikosteroide, Insulinresistenz, Immobilität, intrazellulärer oxidativer Stress, Entzündung, neurodegenerative Erkrankungen und Kachexie zur Entwicklung einer Sarkopenie bei. Weil die Sarkopenie bis zu einem gewissen Grad rückgängig gemacht werden kann, ist es wichtig, bei älteren Patienten danach zu suchen. Dazu eignet sich beispielweise der Abklärungsalgorithmus der European Working Group on Sarcopenia in Older People 2 (EWGSOP2) (3). Bei positiv beantworteten 5 Screeningfragen (SARC-F) oder einem klinischen Verdacht soll anschliessend die Muskelkraft mit einem Dynamometer gemessen (Sarkopenie bei < 16 kg bei Frauen, < 27 kg bei Männern) oder ein Vom-Stuhl-Aufsteh-Test durchgeführt werden (5-mal Aufstehen ohne Armeinsatz). In der klinischen Praxis reichen diese Parameter für eine Sarkopeniediagnose und für die Einleitung einer Therapie. Die Diagnose kann durch Messung der Muskelmasse mit Bioimpedanz und Bildgebung weiter bestätigt werden (3). Der Massen- und der Kraftverlust müssen jedoch mit einer funktionellen Einbusse einhergehen.
Konsequenzen einer Sarkopenie
Bei sarkopenen Personen häufen sich aufgrund der verringerten Muskelraft die Stürze, was zu mehr Hospitalisationen
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führt und in der Folge die Sarkopenie durch Immobilisierung im Spital weiter fördert. Die Wundheilung ist erschwert, und auch postoperative Komplikationen treten häufiger auf. Insgesamt sind Lebensqualität und Lebenszeit verringert (4). Um eine Sarkopenie zu vermindern oder sie erst gar nicht entstehen zu lassen, sind intensives regelmässiges Krafttraining (3-mal 20 min/Woche) und proteinreiche Kost (1,2–1,5 g/kg Körpergewicht [KG]/Tag) erforderlich.
Frailty abklären
In früheren Jahren wurden Sarkopenie und Gebrechlichkeit (Frailty) als getrennte Entitäten angesehen. Doch sei mit der Zeit klar geworden, dass die Überlappung sehr gross sei, so Münzer. Ein sarkopener Patient ist meist gebrechlich und ein gebrechlicher oft sarkopen. Das klinische Krankheitsbild der Gebrechlichkeit ist definiert durch ungewollte Gewichtsabnahme von >5 kg/Jahr, rasche Ermüdbarkeit, geringe körperliche Aktivität, Sarkopenie und langsamen Gang (5). Gebrechliche Menschen weisen eine erhöhte Vulnerabilität auf. Das Krankheitsbild ist das Resultat einer Abnahme der funktionellen Reservekapazität in allen Organen, der abnehmenden körperlichen Aktivität und einer Mangelernährung (6). Ein zusätzlicher Stressor, wie beispielsweise eine Zystitis, kann in dieser Situation zu weiteren Problemen wie Sturz, Delir oder zu vorübergehender Behinderung führen, was dann eventuell eine Hospitalisierung und Langzeitpflege nötig macht. Während fitte Menschen eine Zystitis unbeschadet überstehen, kann sie bei gebrechlichen Menschen eine Kaskade auslösen, die zum Verlust der Unabhängigkeit führt (6). Frailty kann in Stadien von 1 bis 9 eingeteilt werden. Sie erlauben, die verbleibende Lebenszeit abzuschätzen (7). Diese verkürzt sich in Abhängigkeit von der medizinischen Fitness beziehungsweise den vorhandenen Komorbiditäten (8).
Geriatrische Notfälle erkennen
Meist präsentieren sich geriatrische Notfälle eher atypisch. Dabei sind die Auslöser häufig Exazerbationen bestehender chronischer Erkrankungen. Liegt eine Polymorbidität vor, können die Befunde verschleiert sein. So kann eine Pneumonie bei gleichzeitiger koronarer Herzerkrankung eine kardiale Dekompensation auslösen. Trotz schwerer Erkrankung sind alte Menschen häufig oligosymptomatisch. Deshalb müssen Vitalzeichen anders interpretiert werden: Bei einem Verdacht auf Sepsis gilt beispielsweise ein Blutdruck < 120 mmHg als Alarmzeichen, ebenso ein Wert < 110 mmHg bei Verdacht auf Trauma mit Blutverlust oder eine Pulsfrequenz < 50 und > 110. Zudem zeigen alte Patienten trotz Infekten häufig kaum erhöhte Entzündungszeichen und eine normale bis tiefe Temperatur. Ein klinischer Verdacht auf eine Infektion sollte daher in jedem Fall abgeklärt werden. Zudem ist zu bedenken, dass diese Patienten oft eine lange Medikationsliste haben, darunter häufig Schmerzmittel wie Paracetamol oder Metamizol. Diese wirken nicht nur analgetisch, sondern auch antipyretisch, was die Klinik verschleiern kann. Bei verwirrten Personen, die irgendwo aufgegriffen werden, sollte als Erstes an ein Delir gedacht werden. Eine Sauerstoffsättigung von 95 Prozent kann bei betagten Patienten toleriert werden. Sinkt sie unter diesen Wert, muss nach der Ursache gesucht werden.
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Auch Interaktionen mit Medikamenten können zu Notfallsituationen führen. Denn bei alten Patienten ist die Compliance, auch dank der Spitex, zwar meist gut, was in gewissen Situationen aber zu erheblichen Problemen führen kann. Beispielsweise können regulär verschriebene Diuretika bei einer banalen Gastroenteritis eine Niereninsuffizienz auslösen. Auch SGLT2-Hemmer wirken diuretisch und können bei krankheitsbedingtem Flüssigkeitsverlust die Nierenfunktion einschränken. Um dies zu verhindern, ist es wichtig, die «sick day rule» zu befolgen, das heisst, Medikationen wie Diuretika, NSAR, SGLT2-Hemmer und Metformin bei akuter Erkrankung zu pausieren.
Leicht zu übersehen
Zu den geriatrischen Notfällen, die man leicht übersehen kann, gehören beispielsweise Stürze mit Schambeinast- oder Sakrumfraktur als Folge. Die Frakturen sind mit der konventionellen Bildgebung kaum zu sehen; Schmerzen treten erst verspätet nach mehreren Tagen auf. Bei einer Konstellation Sturz mit verzögertem Schmerzbeginn empfiehlt sich daher eine Computertomografie. Auch die Überlaufinkontinenz ist nicht immer offensichtlich. Denn die Miktion kann «normal» erscheinen, was die Frequenz betrifft, aber das gelöste Volumen ist jeweils sehr klein. So könne sich ein Harnvolumen von bis zu 2 Litern anstauen, so Münzer. Eine Überlaufinkontinenz entsteht häufig bei Männern aufgrund einer Prostatahyperplasie, sie kann aber auch bei Frauen auftreten. Bei kranken, sehr ruhigen Personen sollte auch an ein akutes hypoaktives Delir gedacht werden, beispielsweise wenn die Antwort auf offene Fragen seltsam erscheint. Ein hypoaktives Delir kann im Verlauf schwanken. Zu weiteren geriatrischen Notfällen können Wirbelköperfrakturen mit verspäteten Schmerzen führen, ebenso Pseudogichtanfälle am Handgelenk mit wenig Schmerzen, aber häufig Fieber und hohem CRP-Wert. Weitere Gründe können ein Liegetrauma mit Dekubitus, Mangelernährung, ein «akutes» Abdomen infolge Obstipation sowie der Wegfall der Hilfe zuhause sein.
Delir bei «komischen» Patienten
Risikofaktoren für ein Delir sind Alter, kognitive Einschrän-
kung, Komorbiditäten, Frailty, Depression, Mangelernäh-
rung und Rauschmittelkonsum. Auslöser können beispiels-
weise Infekte, Dehydrierung, Herz- und Niereninsuffizienz
sowie Krampfanfälle sein. Bei Patienten, die in der Notfall-
situation ein wenig «komisch» erscheinen, sollte man die
Delirdiagnose grosszügig stellen, denn das löse ein anderes
Management aus, berichtete der Geriater. Auch nach der
Spitalentlassung können Patienten delirant werden oder blei-
ben, beispielsweise nach Schlafmangel im Spital sowie unter
psychoaktiven Substanzen, Benzodiazepinen und Anticholi-
nergika. Delirien sind ein häufiges Leitsymptom.
s
Valérie Herzog
Quelle: «Die häufigsten Krankheitsbilder beim älteren Patienten», Hausarztfortbildungstage St. Gallen, 7./8. März 2024.
Referenzen: 1. Nair KS: Aging muscle. Am J Clin Nutr. 2005;81(5):953-963. doi:10.1093/
ajcn/81.5.953. 2. Kalichman L et al.: The association between imaging parameters of the
paraspinal muscles, spinal degeneration, and low back pain. Biomed Res Int. 2017;2017:2562957. doi:10.1155/2017/2562957. 3. Cruz-Jentoft AJ et al.: Sarcopenia: revised European consensus on definition and diagnosis. Age Ageing. 2019;48(1):16-31. doi:10.1093/ageing/ afy169. 4. Prado CM et al.: Advances in muscle health and nutrition: A toolkit for healthcare professionals. Clin Nutr. 2022;41(10):2244-2263. doi:10.1016/j. clnu.2022.07.041. 5. Fried LP et al.: Frailty in older adults: evidence for a phenotype. J Gerontol A Biol Sci Med Sci. 2001;56(3):M146-M156. doi:10.1093/gerona/56.3.m146. 6. Clegg A et al.: Frailty in elderly people. Lancet. 2013;381(9868):752-762. doi:10.1016/S0140-6736(12)62167-9. 7. Rockwood K et al.: A global clinical measure of fitness and frailty in elderly people. CMAJ. 2005;173(5):489-495. doi:10.1503/cmaj.050051. 8. Rockwood K et al.: A global clinical measure of fitness and frailty in elderly people. CMAJ. 2005;173(5):489-495. doi:10.1503/cmaj.050051.
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