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BERICHT
Diabetes bei betagten Patienten
HbA1c-Ziel an die Therapie anpassen
Foto: zVg
Betagte Patienten mit Diabetes sind nicht ganz einfach zu behandeln. Denn in diesem Alter häufige Symptome wie Kognitionseinbussen, eingeschränkte Nierenfunktion und schlechte Ernährung können die Diabetestherapie erschweren. Worauf hierbei zu achten ist und welche Antidiabetika sich in welchem Fall eignen, legte Prof. Peter Wiesli, Chefarzt Innere Medizin, Kantonsspital Frauenfeld dar.
Peter Wiesli
Ältere Diabetespatienten sind trotz ihrer beiden Gemeinsamkeiten Alter und Diabetes eine sehr heterogene Population. Bei manchen dauert die Erkrankung schon sehr lange an, und sie leiden bereits unter diabetesbedingten Komplikationen, andere sind erst kürzlich daran erkrankt. Gemein sind ihnen jedoch altersbedingt das höhere Risiko für kognitive Einschränkungen und Demenz sowie die damit verbundene schlechte Diabeteseinstellung. Dies wiederum verschlechtert die kognitive Funktion, die Wundheilung und die Hydrierung und leistet Infekten und damit einem schlechteren Outcome Vorschub. Dieser Zusammenhang wurde während der Coronapandemie deutlich sichtbar: Schlecht eingestellte Diabetespatienten mit COVID-19 wiesen eine höhere Mortalität auf (1), wie Wiesli erklärte. In höherem Alter ist zudem häufig auch die Medikamentenliste länger.
Typisches Beispiel
Anhand eines Fallbeispiels illustrierte Wiesli die Problematik: Eine 82-jährige Patientin leidet seit 32 Jahren unter Diabetes.
KURZ & BÜNDIG
� Medikation so anpassen, dass möglichst keine Hypoglykämien auftreten können.
� Bei Therapie mit Hypoglykämiepotenzial höheren HbA1cZielwert anstreben als bei Therapie ohne Hypoglykämiepotenzial.
� Bei Insulin: Besser sind Basalinsuline als kurz wirksame Insulinpräparate.
� Bei Basalinsulin: Jene mit dem geringsten Hypoglykämierisiko auswählen.
� Bei GLP-1-RA: An Inappetenz, Nausea und Gewichtsabnahme denken.
� Bei SGLT2-Hemmern: «Sick day rule» berücksichtigen.
Dieser war immer gut eingestellt. Sie lebt allein, ist selbständig ohne Unterstützung, arbeitet gerne im Garten und fährt Auto. Sie hat eine arterielle Hypertonie und aktuell Rückenund Hüftschmerzen, weswegen sie bei ihrem Hausarzt in Behandlung ist. Aufgrund einer Hypoglykämie wurde sie mit dem Rettungsdienst ins Spital gebracht, weil man sie in nicht ansprechbarem Zustand im Auto sitzend vorgefunden hatte. Einen Autounfall konnte die Polizei ausschliessen. Die betagte Frau hatte im Anschluss an die morgendliche Insulininjektion von 20 IE nur 1 Scheibe Brot anstatt wie sonst üblich 2 Scheiben gegessen und dann den ganzen Tag im Garten gearbeitet. Nach stationärer Verabreichung von Glukose erhellte sich ihr Zustand, und der Blutzucker stieg von 1,3 auf 9,4 mmol/l. Zur Behandlung einer Hypoglykämie eigne sich laut Wiesli auch Glukagon, das in Form eines Nasensprays einfach anzuwenden sei. Dieses kann auch betagten Diabetespatienten zur Behandlung einer Hypoglykämie im Notfall mitgegeben werden, da keine Dosisanpassung bei eingeschränkter Nierenfunktion erforderlich ist (3). Hypoglykämien werden in 3 Grade eingeteilt (2): s Grad 1: ≤ 3,9 mmol/l; Zufuhr schnell resorbierbarer Koh-
lehydrate angezeigt s Grad 2: < 3,0 mmol/l; klinisch relevante Hypoglykämie s Grad 3: schwere Hypoglykämie ohne Grenzwert mit
schweren kognitiven Beeinträchtigungen; für die Behandlung ist Fremdhilfe nötig (2). Die betagte Patientin erlitt demnach eine Hypoglykämie Grad 3.
Langzeitfolgen von Hypoglykämien
Hypoglykämien gilt es laut Wiesli unbedingt zu verhindern, denn jede erlittene Hypoglykämie erhöht das Risiko für eine Demenzentwicklung: Nach 1 Hypoglykämie liegt das Risiko bei 1,26, nach 2 Episoden bei 1,8, nach ≥ 3 bei 1,94 (4). Hypoglykämien sind jedoch vor allem bei älteren Patienten unterdiagnostiziert, denn die Symptome sind nicht spezifisch: Schwäche, Schläfrigkeit, Doppelbilder, Schwanken, Schwindel, schlechte Konzentration oder Schwindel lassen nicht unbedingt als Erstes an eine Hypoglykämie denken. Auch
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neurologische Zeichen können auftreten (5, 6). Mitunter könne bei eingewiesenen Patienten mit Verdacht auf eine transitorische ischämische Attacke, vertebrobasiläre Minderversorgung oder epileptischen Anfall auch eine Hypoglykämie als Ursache dahinterstecken, wie Wiesli berichtete. Mit einer geeigneten Diabetestherapie und der Beachtung von Risikofaktoren lassen sich Hypoglykämien weitgehend vermeiden. Besonders zu beachten sind deshalb Therapien, die Unterzuckerungen induzieren können, wie Insulin, Sulfonamide und Glinide. Von einer Kombination von Insulin und Sulfonylharnstoffen (SU) werde deswegen abgeraten, so Wiesli. Risikofaktoren für Hypoglykämien sind bei älteren Patienten eine reduzierte Nierenfunktion, Polypharmazie, Medikationsfehler (Kombination von Insulin plus SU) und kognitive Beeinträchtigung beziehungsweise Demenz, schlechte Ernährung, Nüchternheit für medizinische Untersuchungen sowie chronische Leber- oder kardiovaskuläre Erkrankungen (7). Bei Therapien mit Hypoglykämiepotenzial (Insulin, SU) ist gemäss den Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGED) bei betagten Patienten ein HbA1c-Wert von > 8 Prozent anzusteuern. Bei einer Medikation ohne Hypoglykämiepotenzial dürfe ein ambitionierterer Wert zwischen 6,5 und 7,5 Prozent das Ziel sein, so Wiesli. Zu den Diabetesmedikamenten ohne Hypoglykämierisiko gehören Metformin, SGLT2-Hemmer, GLP-1Rezeptor-Agonisten (GLP-1-RA) und DPP-4-Hemmer (8).
Bei Niereninsuffizienz
Liegt eine Niereninsuffizienz vor, ist der Insulinbedarf reduziert, denn etwa ein Drittel des Insulins wird in der Niere abgebaut. Bei eingeschränkter Nierenfunktion ist die Wirkdauer des Insulins demnach verlängert. Eine regelmässige Bestimmung der geschätzten glomerulären Filtrationsrate (eGFR) ist bei diesen Patienten daher empfehlenswert. Gemäss Konsensusstatement der Schweizerischen Gesellschaften für Diabetes und Nephrologie (9) sollten bestimmte Antidiabetika auf die eingeschränkte Nierenfunktion abgestimmt werden: s Metformin: reduzierte Dosis (max. 1000 mg) bei eGFR
30–45, Stopp bei eGFR < 30, Stopp bei Dialyse s SGLT2-Hemmer: bei eGFR 30–45 «nur» nephroprotek-
tive Wirkung, nicht mehr blutzuckersenkend; Stopp bei Dialyse s GLP-1-RA: keine Dosisanpassungen notwendig (ausser Exenatide), Nebenwirkungen könnten bei eingeschränkter Nierenfunktion jedoch stärker sein s DPP-4-Hemmer: Dosisanpassung bei eGFR < 60, ausser bei Linagliptin (9).
Noch zu bedenken
Bei Patienten im Alter von 65 bis über 80 Jahre sind typische
geriatrische Symptome häufig. Dazu gehören Gebrechlich-
keit, kognitive Beeinträchtigung, Demenz, Urininkontinenz,
Stürze und Frakturen. Besteht zudem eine Mangelernährung,
soll auf GLP-1-RA wegen des appetitvermindernden Effekts
verzichtet werden. DPP-4-Hemmer, vorzugsweise Linaglip-
tin, sowie SGLT2-Hemmer sind wegen ihres zusätzlich kar-
diorenalen Schutzes in diesem Fall empfohlen. Bei SGLT2-
Hemmern sind die Nebenwirkungen zu beachten: vermehrte
Nykturie bei Prostatahypertrophie sowie Genitalinfekte, die
mit entsprechenden Massnahmen jedoch verhindert werden
können (8).
Bei Verwendung von Metformin sollte nach möglicher Nau-
sea gefragt werden; sie kann zu Appetitverlust führen. In
diesem Fall soll die Dosis auf 1000 mg reduziert oder eine
retardierte Formulierung eingesetzt werden. Auf die Gabe
von Sulfonylharnstoffen soll bei schlechtem Appetit verzich-
tet werden, da diese ein hypoglykämisches Potenzial besit-
zen. Dagegen können DPP-4-Hemmer und Insulin eine Op-
tion sein.
s
Valérie Herzog
Quelle: «Diabetestherapie bei betagten Patienten», FOMF-WebUp, 2. April 2024.
Referenzen: 1. Holman N et al.: Risk factors for COVID-19-related mortality in people
with type 1 and type 2 diabetes in England: a population-based cohort study. Lancet Diabetes Endocrinol. 2020;8(10):823-833. doi:10.1016/ S2213-8587(20)30271-0. 2. American Diabetes Association (ADA): Standards of Medical Care in Diabetes 2017. Glycemic Targets. Diabetes Care. 2017;40(Suppl. 1);S48-S56. 3. Fachinformation Baqsimi®: www.swissmedicinfo.ch 4. Whitmer RA et al.: Hypoglycemic episodes and risk of dementia in older patients with type 2 diabetes mellitus. JAMA. 2009;301(15):1565-1572. doi:10.1001/jama.2009.460. 5. McAulay V et al.: Symptoms of hypoglycaemia in people with diabetes. Diabet Med. 2001;18(9):690-705. doi:10.1046/j.1464-5491.2001.00620.x. 6. Bauduceau B et al.: Hypoglycaemia and dementia in diabetic patients. Diabetes Metab. 2010;36 Suppl 3:S106-S111. doi:10.1016/S12623636(10)70476-6. 7. Chelliah A et al.: Hypoglycaemia in elderly patients with diabetes mellitus: causes and strategies for prevention. Drugs Aging. 2004;21(8):511530. doi:10.2165/00002512-200421080-00003. 8. Gastaldi G et al.: Swiss recommendations of the Society for Endocrinology and Diabetes (SGED/SSED) for the treatment of type 2 diabetes mellitus (2023). Swiss Med Wkly. 2023;153:40060. doi:10.57187/ smw.2023.40060. 9. Zanchi A et al.: Diabetic kidney disease in type 2 diabetes: a consensus statement from the Swiss Societies of Diabetes and Nephrology. Swiss Med Wkly. 2023;153:40004. doi:10.57187/smw.2023.40004.
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