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BERICHT
Häufige Infekte
«Korrekte Diagnose ist wichtiger als Antibiotikawahl»
Die meisten Antibiotika hätten ein breites Spektrum, deshalb spiele die Wahl des Präparats eine untergeordnete Rolle. Nehme der Infekt einen schlechten Verlauf, habe dies oft andere Gründe als die Wahl eines falschen Antibiotikums. Viel wichtiger sei die Frage, ob eine Antibiose überhaupt nötig sei. Wie bei Erysipel, Weichteilinfekten, Zystitis, Pneumonie, Divertikulitis und einer Penizillinallergie vorgegangen werden soll, erläuterte Prof. Philip Tarr am Forum Medizin Fortbildung (FOMF) Allgemeine Innere Medizin in Basel.
Das Erysipel ist als diffuse Infektion der Dermis und der dermalen Lymphgefässe meist durch Streptococcus pyogenes hervorgerufen. Eintrittspforten sind Hautdefekte wie beispielsweise Rhagaden, Fusspilzläsionen, Ulcus cruris oder Insektenstiche. Im Fall einer Tinea pedis soll der Fusspilz erst nach Abklingen des Erysipels antimykotisch beispielsweise mit Terbinafin 1 Prozent bei Hautbefall behandelt werden, bei Nagelbefall peroral mit 250 mg/Tag während 12 Wochen. Die Streptokokken werden in der Regel empirisch ohne Blutkultur behandelt, denn diese sei in weniger als 5 Prozent der Fälle positiv, so Tarr. Die Therapie ist mit Amoxicillin-Clavulansäure meist ausreichend, auch für Diabetiker. In 10 bis 20 Prozent der Fälle besteht eine Infektion mit Staphylococcus aureus, der in > 60 Prozent der Fälle gegen Amoxicillin resistent ist, deshalb braucht es die Kombination mit Clavulansäure. Bei einer Penicillinallergie kommt Clindamycin zum Einsatz, bei schwer erkrankten oder immungeschwächten Patienten in Kombination mit Ciprofloxacin. Sehr wichtig für die Abheilung des Erysipels ist das Hochlagern des Beins.
KURZ & BÜNDIG
� Vor einem Antibiotikaeinsatz ist eine sorgfältige Diagnose essenziell.
� Bei Erysipel reicht eine Therapie mit Amoxicillin/Clavulansäure.
� Bei Penizillinallergie kommt ein Cephalosporin zum Einsatz, sofern keine Urtikaria oder Schleimhautschwellung vorhanden ist.
� Bei Pneumonie reicht Amoxicillin, sofern keine Komorbiditäten vorhanden sind.
� Zystitis und Streptokokkenangina können primär antibiotikafrei behandelt werden, ebenso eine Divertikulitis in ausgewählten Fällen.
Penizillinallergie: Erst nachfragen
Penizillinallergien treten weniger häufig auf als vermutet (< 1%). Etwa 10 Prozent der Patienten geben zwar eine Penizillinallergie an, davon entwickeln aber nur etwa 5 bis 10 Prozent wirklich eine Allergie, wenn sie Penizillin erhalten. Berichtet jemand von einer Penizillinallergie, sollen Zeitpunkt und Art der Reaktion nachgefragt werden. Trat die Allergie irgendwann in der Kindheit auf, besteht diese im Erwachsenenalter nicht zwingend weiter. Beschreiben die Patienten den Vorfall mit Durchfall, Bauchschmerzen und Übelkeit, handelt es sich nicht um eine Allergie. Tritt nach einer Penizillingabe ein makulopapulöser Ausschlag auf, kann auf ein Cephalosporin gewechselt werden. Das Risiko einer Kreuzallergie beträgt dabei 4 bis 5 Prozent (1). Tritt jedoch eine anaphylaktoide Reaktion wie Urtikaria, Schleimhautschwellung, heisses Gefühl oder Dyspnoe auf, ist das Risiko einer Kreuzallergie mit Cephalosporinen zwar gleich hoch, doch können die Folgen schwerwiegender sein. Daher sollte dieses Risiko nur unter Überwachung im Spital eingegangen werden. Im ambulanten Bereich empfiehlt sich ein Wechsel auf Clindamycin oder auf ein Quinolon, intravenös auf Vancomycin oder Ertapenem. Bei Letzterem ist allerdings eine Kreuzallergie mit Penizillinen auch nicht ganz auszuschliessen.
Weichteilinfekte: keine blinde Antibiose
Bei allen chronischen Wunden, sollte immer auch eine Osteomyelitis in Betracht gezogen werden. Dies vor allem, wenn Komorbiditäten wie Diabetes, periphere Neuropathie oder eine periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK) bestehen oder die Wunde nässt. Solche Fälle bedürfen einer Rücksprache oder einer chirurgischen Zuweisung, zumal eine Osteomyelitis nicht mit Antibiotika allein geheilt werden kann, sondern nur im Zusammenspiel mit einem chirurgischen Debridement. Zudem sollte der Keim abgeklärt werden. Das erfordert eine chirurgische Knochenbiopsie, denn Kulturen aus oberflächlichen Wunden sind unzuverlässig. Eine blinde Antibiotikatherapie ist nicht empfehlenswert.
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Intravenöse Antibiotika ambulant verabreichen
Nicht immer ist eine orale Verabreichung von Antibiotika möglich, dies beispielsweise bei bestehenden Resistenzen. In diesen Fällen empfiehlt sich eine i. v. Verabreichung von Ceftriaxon 2 g 1 ×/Tag beispielsweise bei Pyelonephritis, Streptokokkenendokarditis oder Neuroborreliose. Ertapenem 1 g 1 ×/Tag i. v. kommt zum Beispiel bei betalactamaseproduzierenden Escherichia coli (ESBL) oder Klebsiellen zum Einsatz, Daptomycin 4–6 (8–10) mg/kg 1 ×/Tag i. v. bei methicillinresistentem Staphylococcus aureus (MRSA) und Enterokokken. Für die Verabreichung von Daptomycin muss jedoch vorgängig eine Kostengutsprache eingeholt werden. Die Antibiotikainfusion kann entweder in der Praxis, via Spitex oder beispielsweise in Onkologieambulatorien mittels PICC-(peripherally inserted central venous catheter-)Katheter erfolgen.
Was Resistenzen fördert
Resistenzen werden durch Selektionsdruck induziert. Je länger eine Antibiotikagabe dauert, desto höher wird der Selektionsdruck auf die Bakterien. Deshalb sollten Antibiotikatherapien lieber «kurz und heftig» sein als lange und womöglich unterdosiert. Dass Antibiotikapackungen «leer gemacht» werden sollen, um Resistenzen zu verhindern, ist laut Tarr obsolet. Mittlerweile setzt sich bei gewissen Infekten ein Trend zur kürzeren Antibiotikatherapiedauer durch (Tabelle) (2, 3). Bei einer Otitis media soll zudem gemäss den Guidelines der Schweizerischen Gesellschaft für Infektiologie die ersten 2 bis 3 Tage antibiotikafrei behandelt werden. Wenn die Symptome nicht bessern, ist eine Antibiotikatherapie indiziert (4). Bei einer Streptokokkenpharyngitis soll primär ebenso antibiotikafrei behandelt werden (4). Mit einem zurückhaltenden Antibiotikaeinsatz können die Resistenzen vermieden beziehungsweise vermindert werden. Das Potenzial dafür ist gross, denn über 80 Prozent der Antibiotika werden ambulant verschrieben und bis zur Hälfte davon sind entweder nicht indiziert oder zu breit im Spektrum. Ein übermässiger Antibiotikaverbrauch in der Tiermast und die Reisetätigkeit in Regionen mit hohen Resistenzraten bleiben allerdings weiterhin Treiber für Resistenzen.
Antibiotikafreie Therapien erwägen
Häufige Infekte heilen oft ohne Antibiotika ab, sodass es sich lohnt, auf Antibiotika zu verzichten oder mit ihrem Einsatz zuzuwarten. Das ist neben der Resistenzproblematik auch schonender für die Darmflora der Patienten. Es empfiehlt sich, diese Aspekte der Behandlung mit den Patienten zu besprechen und sie in die Entscheidung mit einzubeziehen. Dies vor allem bei Infekten wie Zystitis, Streptokokkenangina, Pneumonie und Divertikulitis.
Bei Zystitis ist abwarten erlaubt
Eine Zystitis ist > 100-mal häufiger als eine Pyelonephritis und erfordert keine Urinkultur, wenn sie nicht antibiotisch behandelt wird. Vorerst kann auf Antibiotika verzichtet werden, wenn die Patientin damit einverstanden ist, dafür in Frage kommt und keine Alarmzeichen vorhanden sind. Dazu gehören Flankenschmerz, Flankenklopfdolenz, Fieber, schlechter Allgemeinzustand, Erbrechen, Leukozytose, erhöhtes CRP, Pyelonephritis in der Anamnese, angeborene
Tabelle:
Kürzere Dauer der Antibiotikatherapie
Indikation
Dauer (Tage)
Pneumonie 3–5
Pyelonephritis 5
gramnegative Bakteriämie
7
Perioperative Prophylaxe
0–1 (statt 1–5)
Quelle: P. Tarr, FOMF Allgemeine Innere Medizin 2024, Basel und (3)
Nierenanomalie. Ohne Antibiotika halten die Symptome zwar etwas länger an, dafür werden das Mikrobiom geschont und keine Rezidive gefördert. Aus einer Zystitis wird sehr selten sekundär eine aufsteigende Pyelonephritis. Braucht es dennoch eine Antibiotikatherapie, kommen Nitrofurantoin oder Cotrimoxazol während 5 Tagen oder eine Einzeldosis Fosfomycin zum Einsatz. Dies bei gesunden, prämenopausalen, nicht schwangeren Frauen mit normaler urogenitaler Anatomie. Diese Behandlungsdauer sollte auch bei Personen mit mittelschwerer bis schwerer Zystitis ausreichen sowie bei postmenopausalen und geriatrischen Frauen, Männern, bei durch Dauerkatheter bedingtem Infekt, bei Schwangeren und bei gut kontrolliertem Diabetes. Bei rezidivierenden Harnwegsinfekten mit Dysurie und Pollakisurie kann bei fehlenden Alarmzeichen und vorliegendem Einverständnis der Patientin ebenfalls antibiotikafrei behandelt werden. Die Behandlungsoptionen dabei sind: s mehr trinken s optimale vaginale Lubrikation beim Sex s schonende Intimhygiene s vaginale fettende Gele, Öle, Crèmen, allenfalls topisches
Östrogen s Entspannung, Meditation, Stressreduktion, Akupunktur,
phytotherapeutische und komplementärmedizinische Produkte s vaginale/orale Probiotika, D-Mannose, Methenamin Leidet der männliche Patient unter einer akuten Prostatitis, äussert sich dies mit Fieber, akutem Krankheitsgefühl, starken Schmerzen im Bereich von Rektum und Perineum und einer druckdolenten Prostata. Eine PSA-Messung wird nicht empfohlen, weil die Veränderung der Werte bei dieser Problematik unzuverlässig ist. Als Therapie sind 1 bis 2 Wochen Antibiotika, meist ein Quinolon indiziert.
Pyelonephritis: Erreger bestimmen
Bei einer Pyelonephritis sollte aufgrund der Resistenzen erst eine Urinkultur gemacht werden. Die Therapie erfolgt mit Ciprofloxacin 2 × 500 mg p. o. während 7 Tagen oder mit Cotrimoxazol (forte) 2 × 7 Tage. Alternativ dazu kann initial Ceftriaxon 2 g i. v. verabreicht werden, gefolgt von Ciprofloxacin p. o. am nächsten Tag. Ein gutes Zeichen für ein Therapieanschlagen ist das Verschwinden der Nausea.
Pneumonie: Blind therapieren
Bei ambulanten Patienten mit Pneumonie werden keine mikrobiologischen Untersuchungen empfohlen, denn auch bei stationären Patienten gelingt eine mikrobiologische Diagnose bei weniger als 30 bis 50 Prozent.
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9 orale und 2 i. v. Antibiotika reichen für die Praxis
oral: ▲ Amoxicillin, Co-Amoxicillin bei Weichteilinfekten, Pneumonie,
(evtl.) Tonsillitis ▲ Nitrofurantoin, Fosfomycin bei Blasenentzündungen (evtl.) ▲ Cotrimoxazol, Ciprofloxacin bei Urosepsis, Pyelonephritis ▲ Clarithromycin bei atypischer Pneumonie ▲ Doxycyclin bei Borrelien, Chlamydien ▲ Bei Penicillinallergie: Clarithromycin bei Pneumonie, Clindamycin +
Ciprofloxacin bei Aspirationspneumonie, Abszess, Katzenbiss etc.
i.v.: ▲ Ceftriaxon bei Pyelonephritis, Urosepsis, Brechreiz ▲ Invanz/Ertapenem bei ESBL-Pyelonephritis/Urosepsis
Quelle: P. Tarr, FOMF Allgemeine Innere Medizin 2024, Basel
Bei Divertikulitis Perforation oder Abszess suchen
Ob eine Divertikulitis mit Antibiotika behandelt werden soll,
ist unklar, denn auch die Ursache beziehungsweise, ob Bakte-
rien dabei eine Rolle spielen, ist heute im Gegensatz zu früher
unklar. Die Klinik korreliert schlecht mit dem Schweregrad.
Eine unkomplizierte Divertikulitis zeigt in der Computertomo-
grafie im Gegensatz zur komplizierten Divertikulitis keine Per-
foration und kein Abszess. Die Behandlung sieht bei unkompli-
zierter Divertikulitis ausser bei Immunschwäche, Sepsis oder
Frailty routinemässig keine Antibiotika vor. Bei komplizierter
Divertikulitis werden Antibiotika eingesetzt, Amoxicillin/Cla-
vulansäure 1 g während 7 bis 10 Tagen oder Ciprofloxacin 2 ×
500 mg/Tag plus Metronidazol 3 × 500 mg/Tag.
s
Valérie Herzog
Quelle: «Obstruktive Lungenerkrankungen», Forum Medizin Fortbildung (FOMF) Allgemeine Innere Medizin, 2.2.24 in Basel
Ambulant wird die Pneumonie mit Amoxicillin/Clavulansäure behandelt, bei wenig komorbiden Patienten neu auch mit Amoxicillin allein. Beide Therapien decken keine atypischen Keime ab. Bei Unverträglichkeit können Doxycyclin, Makrolide oder Quinolone verabreicht werden oder bei Befall mit atypischen Keimen (z. B. Legionellen). Atypische Infekte mit Chlamydien und Mykoplasmen sind meist selbstlimitierend.
Referenzen: 1. Gruchalla RS et al.: Clinical practice. Antibiotic allergy. N Engl J Med.
2006;354(6):601-609. doi:10.1056/NEJMcp043986. 2. Llewelyn MJ et al.: The antibiotic course has had its day. BMJ.
2017;358:j3418. Published 2017 Jul 26. doi:10.1136/bmj.j3418. 3. Davar K et al.: Can the future of ID escape the inertial dogma of its past?
The exemplars of shorter is better and oral Is the new IV. Open Forum Infect Dis. 2022;10(1):ofac706. Published 2022 Dec 29. doi:10.1093/ofid/ ofac706. 4. Therapieguidelines der Schweizerischen Gesellschaft für Infektiologie. https://ssi.guidelines.ch/. Letzter Abruf: 30.4.24.
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