Transkript
EDITORIAL
Das Salz aus der Suppe
Kürzlich war ich mit einem Bekannten zum Restau‑ rantbesuch verabredet, der sein Essen seit jeher frei‑ gebig nachsalzt. Das sei bei Rauchern so, man habe halt weniger Geschmack. Die offensichtlich notwen‑ dige zusätzliche Salzmenge erinnerte mich an die (früher häufiger zur Anwendung kommende) Haltbar‑ machung von Lebensmitten durch Pökeln. Das derart Nachgewürzte mit Genuss zu essen, erscheint eher abwegig.
Muss ich mich um diesen Freund sorgen, nachdem eine kürzlich publizierte Studie das mit dem Nachsal‑ zen einhergehende Risiko zur Entwicklung eines Ma‑ genkarzinoms beziffert hat (1, 2)? Darin hiess es näm‑ lich, das diesbezügliche Risiko derer, die viel Salz essen, steige um 41 Prozent. Aber was genau bedeu‑ tet das? Entwickeln unter 100 Menschen, die gern nachsalzen, 41 ein Magenkarzinom? Mitnichten, wie in der «Unstatistik des Monats» nachzulesen ist (3). Regelmässig hinterfragen in dieser lesenswerten Ru‑ brik des RWI – Leipzig Institut für Gesundheitsfor‑ schung der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer, die STAT-UPGründerin Katharina Schüller und RWI-Vizepräsident
Thomas K. Bauer jüngst publizierte Zahlen sowie de‑
ren Interpretationen, um – unter anderem den Ärz‑
ten – den Unterschied zwischen absolutem und re‑
lativem Risiko in Erinnerung zu rufen. Ein Beispiel
dafür war eine Studie zum Wurstverzehr, in der sich
das Darmkrebsrisiko mit einem täglichen Konsum
von 50 g verarbeitetem Fleisch absolut von 5 auf 5,9
Prozent erhöhte, relativ hingegen um 18 Prozent (4).
Für die aktuelle Unstatistik nahmen sie nun die Studie
zum Nachsalzen genauer unter die Lupe, in der das
Salzverhalten von mehr als 470 000 Erwachsenen aus
Grossbritannien evaluiert wurde. Nach elf Jahren hat‑
ten unter denen, die nie oder selten nachsalzten, 0,123
Prozent ein Magenkarzinom entwickelt im Vergleich
zu 0,231 Prozent unter denen, die immer nachsalzten.
Dieser geringe absolute Unterschied entspricht relativ
betrachtet 88 Prozent mehr an Magenkrebs Erkrank‑
ten unter den Salzliebhabern. Nach Bereinigung im
Hinblick auf Unterschiede beispielsweise bei Ernäh‑
rung, Rauchverhalten und Alkoholkonsum, reduzierte
sich der relative Unterschied auf die bereits genannten
41 Prozent. Für eine realistische Einschätzung der po‑
tenziellen Gefahr aber sollte das absolute Risiko hin‑
zugezogen werden. Dessen Anstieg lag bereinigt bei
0,05 Prozent – eine geringe Erhöhung einer ohnehin
niedrigen Zahl. Was das Magenkarzinom angeht,
haben andere Risikofaktoren wohl nach wie vor ein
stärkeres Gewicht.
s
Ihre
Christine Mücke
Quellen: 1. «Häufiges Nachsalzen beim Essen erhöht Risiko für Magenkrebs», Pres‑
semitteilung der Medizinischen Universität Wien (MedUni Wien) vom 08.05.2024 2. Zur Originalpublikation: Kronsteiner‑Gicevic S et al.: Adding salt to food at table as an indicator of gastric cancer risk among adults: a prospective study. Gastric Cancer. 2024. https://doi.org/10.1007/s10120-024-015029 3. «Mehr Magenkrebs durch mehr Salz in der Suppe», Pressemitteilung zur Unstatisitik des Monats Mai 2024, www.unstatistik.de 4. https://www.rwi-essen.de/presse/wissenschaftskommunikation/un‑ statistik/archiv/2015/detail/wursthysterie
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