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BERICHT
Hypertonie
6 Gründe, den Blutdruck im Griff zu behalten
Die Behandlung der Hypertonie ist eine undankbare Aufgabe. Die Patienten spüren nichts davon und sehen kurzfristig auch keinen Behandlungseffekt. Dennoch ist es wichtig, sie zu einer Therapie zu motivieren, denn die schweren Konsequenzen treten erst nach einer langfristig unkontrollierten Hypertonie auf. Dr. Felix Burkhalter, Leiter Nephrologie, Kantonsspital Baselland brachte am Forum für medizinische Fortbildung (FOMF) Allgemeine Innere Medizin in Basel 6 stringente Argumente für eine konsequente Langzeitsenkung eines erhöhten Blutdrucks.
Herr P. F., 60-jährig, kommt für einen Check-up in die Praxis. Ihm fehle zwar nichts, doch habe er mit dem Blutdruckmessgerät seiner Frau in letzter Zeit ein paar Mal Werte von 160/90 mmHg gemessen. Der Praxisblutdruck beträgt 170/92 mmHg. Sein Body-Mass-Index liegt bei 30,8 kg/m2, die klinische Untersuchung ist unauffällig. Der Patient ist aktiver Raucher. Die 24-Stunden-Blutdruckmessung ergibt einen mittleren Wert von 148/92 mmHg. Der Patient möchte aber keine Medikamente und erst einmal abwarten, das pressiere ja nicht. Wirklich nicht? Die Laborwerte (Kreatinin, eGFR, Albumin/KreatininQuotient, Blutzucker, HbA1c) mit Ausnahme eines erhöhten LDL-Cholesterin-Spiegels waren unauffällig, ebenso das EKG. Endorganschäden liegen somit nicht vor, wohl aber 3 kardiovaskuläre Risikofaktoren. Das Risiko, in den nächsten 10 Jahren ein kardiovaskuläres Ereignis zu erleiden, liegt damit gemäss SCORE-Tabelle (8) ≥ 10 Prozent. Wie weiter?
Hypertonie ist sehr häufig
Mit steigendem Alter nimmt auch der Anteil an Personen zu, die eine Hypertonie entwickeln (1). Das betrifft etwa die Hälfte der Männer im Alter von 55 Jahren, 10 Jahre später sind es etwa 80 Prozent. Bei den Frauen sind die Zahlen leicht tiefer. Ab einem Alter von 75 Jahren verharrt der Anteil bei den Männern auf einem stabilen Niveau von 81 Prozent, bei
KURZ & BÜNDIG
� Hypertonie ist häufig; ein regelmässiges ist Screening empfehlenswert.
� Kardiovaskuläre Risikofaktoren abklären und das 10-JahresRisiko für ein kardiovaskuläres Ereignis abschätzen.
� Endorganschäden suchen (Herz, Niere, Atherosklerose, evtl. Retinopathie).
� Sekundäre Hypertonie ausschliessen.
den Frauen steigt er noch leicht (von 82 auf ca. 90%) (1). Bei Patienten mit hochnormalem Blutdruck sollte der Wert deshalb jährlich gemessen werden, um keine Organschäden zu verpassen, so Burkhalter, bei Patienten mit normalem Blutdruck alle 2 Jahre.
Was passieren kann
Im Fall einer Hypertonie ist eine gute Blutdruckkontrolle wichtig, um das Risiko für Endorganschäden zu reduzieren. Die Patienten sollten darüber aufgeklärt werden, dass das Risiko für einen Hirnschlag bei Patienten mit einem hohen Blutdruck mehrfach erhöht ist, wie die internationale INTERSTROKE-Studie gezeigt hat. In dieser Studie hatten die Teilnehmer mit Werten von > 160/90 mmHg ein 4-fach erhöhtes Hirnschlagrisiko (2). Die Hirnschlagmortalität ist ebenfalls assoziiert mit der Höhe des Blutdrucks und des Alters. Eine weitere Folge einer unkontrollierten Hypertonie ist das erhöhte Risiko für eine koronare Herzkrankheit (KHK). Die grosse INTERHEART-Kohortenstudie errechnete dafür ein 2-faches Risiko (Odds-Ratio [OR]: 1,91) (3). Das Risiko, daran zu versterben, steige ebenfalls mit zunehmendem Blutdruck und Alter an, so Burkhalter. Eine arterielle Hypertonie ist zudem ein wichtiger Grund dafür, dass Patienten eine Herzinsuffizienz entwickeln. Während die kumulative Inzidenz einer Herzinsuffizienz bei einem systolischen Blutdruck < 120 mmHg nach 10 Jahren zirka 5 Prozent beträgt, steigt sie bei Werten von 120–139 mmHg nach dieser Zeit auf das Doppelte, bei 140–159 mmHg auf das 3-Fache und bei > 160 mmHg auf das 4-Fache (4). Eine weitere Kohortenstudie zeigte, dass 23 Prozent der Patienten mit Pulsdruck (pulse pressure) > 61 mmHg nach 20 Jahren ein Vorhofflimmern entwickelten, während ein Pulsdruck von < 40 mmHg nur bei 5,6 Prozent zu einem Vorhofflimmern führte (5). Der Pulsdruck ist die Differenz zwischen systolischem und diastolischem Blutdruck; ein Wert von < 55 mmHg gilt als normal.
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Kasten:
Eine unkontrollierte Hypertonie
▲ erhöht das Hirnschlagrisiko bis 4-fach. ▲ erhöht das Risiko für eine KHK um das 2-Fache. ▲ erhöht das Herzinsuffizienzrisiko um das 3- bis 4-Fache. ▲ erhöht das Risiko für Vorhofflimmern um das 4-Fache. ▲ erhöht das Risiko für CKD um das 2- bis 3-Fache. ▲ erhöht das Risiko für vaskuläre Demenz signifikant.
Ein hoher Blutdruck hat auch Auswirkungen auf die Nierenfunktion. Eine prospektive Kohortenstudie verfolgte 7343 Patienten mit Hypertonie, die keine antihypertensive Therapie wollten, über 10 Jahre. Als primärer Endpunkt war eine chronische Nierenerkrankung (CKD) mit einer geschätzten glomerulären Filtrationsrate (eGFR) < 60 ml/min/1,73 m2 definiert. Dabei zeigte sich für Teilnehmer mit einem systolischen Blutdruck von 130–139 mmHg eine Risikoerhöhung für eine progrediente CKD um das 1,4-Fache; bei Werten von 140–159 mmHg war das Risiko 1,8-fach und bei ≥ 160 mmHg 3,2-fach erhöht (6). Wer in einem Alter von 40 bis 60 Jahren eine unkontrollierte Hypertonie erleidet, läuft Gefahr, in späteren Jahren eine vaskuläre Demenz zu entwickeln. Das zeigte eine Metaanalyse über 11 Studien, die einen signifikanten Zusammenhang zwischen Hypertonie und einem erhöhten Risiko für vaskuläre Demenz nahelegte (7).
Erstdiagnose Hypertonie: Wie weiter?
Wird beim Patienten eine Hypertonie entdeckt, sollte sie mittels einer 24-Stunden-Blutdruckmessung bestätigt werden. Eine Bestätigung anhand von Heimblutdruckmessungen ist ebenso möglich. Zur Bestätigung und Objektivierung einer Hypertonie plädiert der Referent allerdings für die 24-Stunden-Messung, damit dem Patienten ein Tagesverlauf gezeigt werden könne, anhand dessen die Problematik besser erklärbar sei als mit Einzelmessungen. Für die Heimblutdruckmessung sollte der Patient gemäss den Guidelines der European Society of Hypertension von 2023 (8) unter anderem vor der Messung während 3 bis 5 Minuten bequem in einem ruhigen Raum sitzen, ohne zu sprechen. Zur Messung sollte der Unterarm auf dem Tisch liegen und die Oberarmmanschette auf Herzhöhe sein. Bei der Heimmessung gilt der Durchschnitt von 2 Messungen im Abstand von 1 Minute. Dagegen sollte bei einer Praxismessung 3-mal im Abstand von 1 Minute gemessen werden, wobei die erste Messung verworfen und der Mittelwert aus der zweiten und dritten Messung verwendet wird (8). In den Guidelines wird die Hypertonie anhand der Höhe des Blutdrucks klassifiziert (optimal: < 120 mmHg, normal: 120–129 mmHg, hochnormal: 130–139 mmHg; Hypertonie Grad 1: 140–159 mmHg, Grad 2: 160–179 mmHg, Grad 3: > 180 mmHg) (8).
Komorbiditäten und Endorganschäden suchen
Als weiterer Schritt muss das kardiovaskuläre Risiko abgeklärt werden: Bestehen bereits Komorbiditäten oder Endorganschäden? Zur Abklärung des kardiovaskulären Risikos
dienen die Anamnese und die klinische Untersuchung hinsichtlich des Vorliegens von peripherer arterieller Verschlusskrankheit (pAVK), Niereninsuffizienz, KHK sowie eventuell zusätzlich Diabetes mellitus, Dyslipidämie oder einem aktiven Raucherstatus. Zur Abklärung von Endorganschäden wie beispielsweise einer Nephropathie dient die Messung des Kreatinins und des Albumin/Kreatinin-Quotienten im Urin. Zum Nachweis einer relevanten hypertensiven Kardiopathie wie der linksventrikulären Hypertrophie, Arrhythmien oder eines abgelaufenen Myokardinfarkts empfehlen die Guidelines ein EKG (8). Zu den erweiterten Abklärungen gehören Echokardiografie, Duplexsonografie bei klinischem Verdacht auf eine pAVK, Nierensonografie bei Niereninsuffizienz sowie eine ophthalmologische Abklärung bei gleichzeitigem Vorliegen von Diabetes mellitus oder bei maligner Hypertonie (8). Neben der Klassifikation der Hypertonieschwere kann gemäss Guidelines mit der Einteilung in Stadien das Vorhandensein von relevanten Komorbiditäten und Endorganschäden charakterisiert werden. Stadium 1 beschreibt eine unkomplizierte Hypertonie (Grad 1–3) ohne hypertoniebedingte Organschäden (HMOD) wie Nephropathie, schwere Retinopathie, hypertensive Kardiopathie und ausgeprägte Arteriosklerose. Komorbiditäten wie Diabetes, kardiovaskuläre Erkrankungen und CKD (Stadium ≥ 3) fehlen ebenfalls. Im Stadium 2 liegen HMOD, Diabetes oder CKD (Stadium 3), im Stadium 3 eine kardiovaskuläre Erkrankung oder eine CKD (Stadium 4 oder 5) vor (8). Mit der Kombination von Schweregrad und Stadium kann das kardiovaskuläre 10-Jahres-Risiko ermittelt werden (8).
Sekundäre Hypertonie
Bei jeder Hypertonieabklärung sollten zudem sekundäre Ursachen ausgeschlossen werden. Verdachtsmomente für eine sekundäre Hypertonie sind ein Hypertoniegrad 2 oder 3 im Alter < 40 Jahren, plötzlicher Beginn, akute Verschlechterung einer bisher gut kontrollierten Hypertonie, Therapieresistenz nach Dreierkombination mit Diuretikum und zusätzlich Mineralokortikoidrezeptorantagonist, Verdacht auf eine endokrine Ursache oder Schlafapnoesyndrom. Als Folgen einer sekundären Hypertonie können renale und renovaskuläre Erkrankungen, fibromuskuläre Dysplasie, Cushing-Syndrom, Phäochromozytom sowie primärer Aldosteronismus auftreten.
Was eine Hypertonietherapie kann
Auch wenn keine Endorganschäden und Komorbiditäten vorliegen, lohnt es sich, eine Therapie zu beginnen. Liegen bereits Endorganschäden vor, lohnt sich das ebenso. Die Progression der Niereninsuffizienz kann mit einer Hypertonietherapie bei Patienten mit Proteinurie gebremst werden. Liegt als Komorbidität noch ein Diabetes mellitus vor, ist der Effekt der Hypertonietherapie auf die Progression der Niereninsuffizienz sogar sehr hoch (9). Mit einer Hypertonietherapie lässt sich ausserdem das Risiko für die Entwicklung einer Herzinsuffizienz wie auch für Hirnschlag um etwa 30 Prozent reduzieren (10), das Risiko für die Entwicklung einer KHK sinkt mit einer Hypertoniebehandlung um etwa 20 Prozent (10).
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Welche Antihypertensiva?
Die Wahl des Antihypertonikums ist abhängig vom Vorliegen
von kardiovaskulären Komorbiditäten (11):
s KHK: ACE-Hemmer (ACEi)/Angiotensin-2-Rezeptor-
Antagonisten (ARB) + Betablocker (BB)/Kalziumkanal-
blocker (CCB)
s chronische Herzinsuffizienz: ARNI/ACEi/ARB + BB +
Diuretikum + MRA + SGLT2-Hemmer (SGLT2i)
s Hirnschlagprävention: ACEi/ARB + CCB/Diuretikum
s Vorhofflimmern: ACEi/ARB + BB/Nicht-Dihydropyridin-
CCB oder ACEi/ARB + BB + CCB/Diuretikum
s chronische Niereninsuffizienz: ACEi/ARB + CCB/Diureti-
kum
s Typ-2-Diabetes: ACEi/ARB + CCB/Diuretikum + SGLT2i/
GLP-1-RA (11).
Dabei sind bei Patienten im Alter von 65 bis 79 Jahren gemäss
Guidelines Blutdruckzielwerte von 140/80 mmHg, idealer-
weise von 130/80 mmHg, anzustreben. Bei ≥ 80-jährigen Pa-
tienten ist eine Therapie bei Werten > 160 mmHg empfohlen,
dies mit dem Ziel, einen Wert von 140–150 mmHg, bei guter
Verträglichkeit von 130 bis 139 mmHg, zu erreichen (8).
Das Wichtigste sei es jedoch, den Patienten von einer lang-
fristigen Therapie zu überzeugen und sie über die Jahre hin-
sichtlich Endorganschäden und Komorbiditäten zu überwa-
chen, so Burkhalter abschliessend.
s
Valérie Herzog
Quelle: «Arterielle Hypertonie und deren Komorbiditäten», Forum für medizinische Fortbildung (FOMF) Allgemeine Innere Medizin, 1.2.24 in Basel.
Referenzen: 1. Lacruz ME et al.: Prevalence and Incidence of Hypertension in the General
Adult Population: Results of the CARLA-Cohort Study. Medicine (Baltimore). 2015;94(22):e952. doi:10.1097/MD.0000000000000952. 2. O̕Donnell MJ et al.: Risk factors for ischaemic and intracerebral haemorrhagic stroke in 22 countries (the INTERSTROKE study): a case-control study. Lancet. 2010;376(9735):112-123. doi:10.1016/S0140-6736(10)60834-3. 3. Yusuf S et al.: Effect of potentially modifiable risk factors associated with myocardial infarction in 52 countries (the INTERHEART study): case-control study. Lancet. 2004;364(9438):937-952. doi:10.1016/S01406736(04)17018-9 4. Bozkurt B et al.: Contributory risk and management of comorbidities of hypertension, obesity, diabetes mellitus, hyperlipidemia, and metabolic syndrome in chronic heart failure: a scientific statement from the american heart association. Circulation. 2016;134(23):e535-e578. doi:10.1161/ CIR.0000000000000450. 5. Mitchell GF et al.: Pulse pressure and risk of new-onset atrial fibrillation. JAMA. 2007;297(7):709-715. doi:10.1001/jama.297.7.709. 6. Lee H et al.: Association between blood pressure and the risk of chronic kidney disease in treatment-naïve hypertensive patients. Kidney Res Clin Pract. 2022;41(1):31-42. doi:10.23876/j.krcp.21.099. 7. Sharp SI et al.: Hypertension is a potential risk factor for vascular dementia: systematic review. Int J Geriatr Psychiatry. 2011;26(7):661-669. doi:10.1002/ gps.2572. 8. Mancia G et al.: 2023 ESH Guidelines for the management of arterial hypertension The Task Force for the management of arterial hypertension of the European Society of Hypertension: Endorsed by the International Society of Hypertension (ISH) and the European Renal Association (ERA). J Hypertens. 2023;41(12):1874-2071. doi:10.1097/HJH.0000000000003480. 9. Ku E et al.: Effect of blood pressure control on long-term risk of end-stage renal disease and death among subgroups of patients with chronic kidney disease. J Am Heart Assoc. 2019;8(16):e012749. 10. Ettehad D et al.: Blood pressure lowering for prevention of cardiovascular disease and death: a systematic review and meta-analysis. Lancet. 2016;387(10022):957-967. doi:10.1016/S0140-6736(15)01225-8. 11. Lauder L et al.: Hypertension management in patients with cardiovascular comorbidities. Eur Heart J. 2023;44(23):2066-2077. doi:10.1093/eurheartj/ ehac395.
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