Transkript
BERICHT
Adipositastherapie
Starkes Übergewicht als chronische Erkrankung behandeln
Adipositas ist für Patienten wie auch für Behandler ein schwieriges Problem. Denn sie ist eine chronische Erkrankung des Gehirns, bei der alle Diäten früher oder später versagen. In naher Zukunft könnte sich dies mit den Neuentwicklungen entscheidend verändern. Wie mit einer multimodalen Therapie, aber anderen Mitteln das Gewicht und die adipositasbedingten Erkrankungen erfolgreich therapiert werden können, erklärte Prof. Katharina Timper, Leiterin Adipositas-Sprechstunde, Forschungsgruppenleiterin «Obesity Research», Universitätsspital Basel, am Swiss Prevention Summit in Bern.
Übergewicht und Adipositas sind eine globale Epidemie. Gemäss dem WHO European Obesity Report 2022 sind bereits 60 Prozent der Erwachsenen und ein Drittel der Kinder in Europa davon betroffen. Das Hauptproblem dabei bestehe gar nicht im Gewicht, so Timper, sondern in den damit assoziierten multiplen Folgeerkrankungen (Kasten), wie beispielsweise Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebserkrankungen. Bei letzteren geht man davon aus, dass 40 Prozent der Fälle adipositasbedingt sind. Das führt zu einer Reduktion der Lebenserwartung wie auch der Lebensqualität in allen Dimensionen, seien diese physischer, sozialer oder auch psychischer Art. Deswegen sei es wichtig, Adipositas effizient behandeln zu können, so Timper. Die Erfassung der Adipositas sollte nicht nur über den Body-Mass-Index erfolgen, sondern zusätzlich anhand des Edmonton Obesity Staging System (1), mit dem sowohl das Vorhandensein adipositasbedingter Folgeerkrankungen wie auch die Beeinträchtigung der Lebensqualität (Stadien 0–4) erfasst werden. Auf diese Weise könne eine genauere Klassifikation der Adipositas erreicht werden, so Timper.
Stigmatisierung ist gefährlich
Bei der Entstehung der Adipositas, dieser sehr komplexen, multifaktoriellen, chronischen Erkrankung, spielen gemäss
KURZ & BÜNDIG
� Entstigmatisierung ist entscheidend.
� Psychische Komorbiditäten und somatische Folgeerkrankungen erfassen und behandeln.
� Grundpfeiler der Adipositastherapie sind eine ausgewogene Ernährung und körperliche Aktivität plus eine GLP-1-RAbasierte Medikation oder bariatrische Operation.
� Die korrekte Aufklärung über die Therapiemöglichkeiten ist wichtig.
Timper genetische, epigenetische, psychosozoiale und neurobioloische Faktoren eine Rolle. Adipositas sei eine Erkrankung des Gehirns, bei der die zentrale Schaltstelle für die Regulation des Zucker- und Energiestoffwechsels gestört sei, wie die Expertin aus Forschungsergebnissen berichtet. Daher sei Adipositas nicht die Folge von zu viel essen, sondern zu viel essen sei die Folge von Adipositas. Diese Patienten gälten zu Unrecht als faul und ungebildet, als Menschen, denen der Wille und die Selbstdisziplin fehlten, und die einfach ohne Verstand in sich «hineinschaufelten», so Timper. Diese Menschen seien einer systematischen Abwertung und Stigmatisierung ausgesetzt, und zwar nicht nur gesamtgesellschaftlich, sondern auch im Gesundheitssystem, was ganz gefährlich sei. Denn Stigmatisierung sei sowohl Folge als auch Ursache der Adipositas. Durch die Adipositas kommt es zu einer externen Stigmatisierung auf allen Ebenen des Alltags und des gesellschaftlichen Lebens, was einen massiven psychischen Stress auslöst und emotionales Essverhalten als Copingstrategie fördert. Diese Patienten vermeiden es in der Folge immer mehr, sich öffentlich zu exponieren, wie beispielsweise in einem Fitnessstudio, was wiederum die Adipositas fördert. Mit der Zeit kommt es dazu, dass diese externe Stigmatisierung internalisiert wird und sich durch Selbstzuschreibung oder Selbstabwertung eine schwere Depression oder suizidale Gedanken entwickeln können. Eine multinationale Untersuchung, in der fast 14 000 adipöse Patienten aller Altersklassen gefragt wurden, ob sie 1-mal oder mehrfach im Leben eine gewichtsbezogene Abwertung oder Stigmatisierung durch Ärzte erfahren hätten, haben über alle Kontinente hinweg fast 67 Prozent der Befragten mit «Ja» geantwortet (2). Ein solcher Vertrauensbruch führt nicht nur zur Steigerung der Gewichtszunahme aufgrund von negativen physiologischen und psychologischen Reaktionen, sondern vor allem dazu, dass die Betroffenen beim Arzt in Zukunft keine gewichtsbezogene Problematik mehr vorbringen oder das Gesundheitssystem vollständig meiden. Dies hat direkte negative Auswirkungen auf die Gesamtgesundheit der Betroffenen.
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ARS MEDICI 9+10 | 2024
BERICHT
Adipositasbedingte Folgeerkrankungen
▲ Herz-Kreislauf-Erkrankungen ▲ Typ-2-Diabetes ▲ nichtalkoholische Steatohepatitis (NASH) ▲ Infertilität ▲ Schwangerschaftskomplikationen ▲ obstruktive Schlafapnoe ▲ Krebserkrankungen ▲ Niereninsuffizienz ▲ Depression ▲ Angststörungen ▲ neurodegenerative Erkrankungen
Quelle: K. Timper, Prevention Summit 2023
Therapieziele definieren
Der erste Schritt einer erfolgreichen Therapie sei es daher, den Patienten zu erklären, dass Adipositas eine Erkrankung sei und dass sie daran keine Schuld trügen, so Timper. Weiter sei eine empathische, wertschätzende und positive Einstellung gegenüber dem Patienten die essenzielle Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Adipositastherapie. Ziel einer Therapie ist einerseits der Gewichtsverlust, vor allem aber das Erreichen von damit einhergehenden Gesundheitsverbesserungen. Bei einem Gewichtsverlust von bis zu 5 Prozent verbessern sich Hypertonie und Hyperglykämie (3), bei 10 bis 15 Prozent kommt es zu Verbesserungen von obstruktiver Schlafapnoe (3), und bei einer Reduktion von ≥ 15 Prozent sinkt die kardiovaskuläre Mortalität, remittiert der Typ-2-Diabetes und verbessert sich die Herzinsuffizienz (3). Der Weg dahin führt über einen multimodalen Ansatz, dessen Grundpfeiler zum einen eine ausgewogene Ernährung ist, die Freude und Genuss vermittelt. Diese soll mit einer professionellen Ernährungsberatung vermittelt werden und individuell auf die Bedürfnisse des Patienten zugeschnitten sein. Zum anderen ist der Ausbau der körperlichen Aktivität essenziell, auch mittels Instruktion durch einen Sporttherapeuten oder Sportmediziner und angepasst an die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Patienten. Weiter bedarf es einer psychosomatischen oder psychiatrischen Begleitung bei emotionalem Essen, Essstörungen oder psychischen Begleiterkrankungen. Für die Umsetzbarkeit der multimodalen Lebensstiländerungen bedarf es in den allermeisten Fällen einer spezifischen Adipositastherapie mit neuen Adipositasmedikamenten oder einem bariatrischen Eingriff. Diäten werden nicht empfohlen, da durch sie zwar eine Gewichtsreduktion erreicht werden kann, sie aber in den allermeisten Fällen nicht nachhaltig sind und es nach Diätende zu einer überschiessenden Gewichtszunahme kommt. Der Grund hierfür liegt in metabolischen Veränderungen wie der Heraufregulation des Hungerhormons und der Herabregulation von Sättigungshormonen wie auch in einer oft deutlichen und häufig persistierenden Verringerung des Energiegrundumsatzes (4, 5).
Substanzieller Gewichtsverlust heute möglich
Mit den aktuell verfügbaren GLP-1-Rezeptor-Agonisten (GLP-1-RA) kann das Hungergefühl auf der Ebene des Ge-
hirns reduziert und das Sättigungsgefühl verstärkt und ver-
längert werden. Mit täglichen Liraglutidinjektionen lasse
sich eine Gewichtsreduktion von zirka 10 Prozent erreichen
(6), allerdings sprächen etwa 20 Prozent der Patienten nicht
darauf an (6), so Timper. Unter einer Therapie mit Liraglutid
sinkt das Risiko für Hirnschlag und Herzinfarkt deutlich (7).
Mit Semaglutid in der Dosierung für Adipositas von 2,4 mg
1-mal wöchentlich sinkt das Gewicht im Mittel um 15 Pro-
zent (8). Allerdings ist das Ansprechen bei allen Adipositas-
medikamenten sehr individuell. Nachteil dieser Medika-
mente sei, dass bei Absetzen der Therapie das Gewicht wie-
der steige, analog zu anderen chronischen Erkrankungen wie
beispielsweise Hypertonie, die sich nach einem Therapie-
stopp wieder verschlechterten, so Timper.
Die dualen und 3-fachen Hormonrezeptoragonisten verhin-
derten dagegen das diätbedingte Absinken des Energiegrund-
umsatzes, erklärte die Expertin. Der duale GIP-/GLP-1-RA
Tirzepatid führt zu einer Gewichtsabnahme von 20 Prozent
und mehr (9). In Entwicklung befindet sich ein 3-facher Glu-
kagon-/GIP-/GLP-1-RA, der den Ergebnissen aus der Pha-
se-II-Studie zufolge einen noch grösseren Gewichtsverlust
nach 48 Wochen (24%) ermöglicht (10).
Wenn die medikamentöse Gewichtsabnahme nicht möglich
ist, kann mit der bariatrischen Chirurgie mit Schlauchmagen
und Magenbypass eine Gewichtsabnahme zwischen 20 und
30 Prozent erreicht werden. Gemäss einer Metaanalyse
(n = 174 772) verringert eine bariatrische Operation die
Mortalität um 49 Prozent und verlängert das Leben um 9,3
Jahre bei Patienten mit Typ-2-Diabetes und um 5, 1 Jahre
ohne Typ-2-Diabetes (11).
s
Valérie Herzog
Quelle: «Adipositas: Neue Therapeutika für ein schwieriges Problem», Prevention Summit, 9.11.2023 in Bern.
Referenzen: 1. Padwal RS et al.: Using the Edmonton obesity staging system to predict
mortality in a population-representative cohort of people with overweight and obesity. CMAJ. 2011;183(14):E1059-E1066. 2. Puhl RM et al.: The roles of experienced and internalized weight stigma in healthcare experiences: Perspectives of adults engaged in weight management across six countries. PLoS One. 2021;16(6):e0251566. 3. Garvey WT et al.: American association of clinical endocrinologists and american college of endocrinology comprehensive clinical practice guidelines for medical care of patients with obesity. Endocr Pract. 2016;22 Suppl 3:1-203. 4. Fothergill E et al.: Persistent metabolic adaptation 6 years after «The Biggest Loser» competition. Obesity (Silver Spring). 2016;24(8):1612-1619. 5. Sumithran P et al.: Long-term persistence of hormonal adaptations to weight loss. N Engl J Med. 2011;365(17):1597-1604. 6. Fujioka K et al.: Early weight loss with liraglutide 3.0 mg predicts 1-year weight loss and is associated with improvements in clinical markers. Obesity (Silver Spring). 2016;24(11):2278-2288. 7. Davies MJ et al.: Liraglutide and cardiovascular outcomes in adults with overweight or obesity: A post hoc analysis from SCALE randomized controlled trials. Diabetes Obes Metab. 2018;20(3):734-739. 8. Wilding JPH et al.: Once-weekly semaglutide in adults with overweight or obesity. N Engl J Med. 2021;384(11):989-1002. 9. Jastreboff AM et al.: Tirzepatide once weekly for the treatment of obesity. N Engl J Med. 2022;387(3):205-216. 10. Jastreboff AM et al.: Triple-hormone-receptor agonist retatrutide for obesity – a phase 2 trial. N Engl J Med. 2023;389(6):514-526. 11. Syn NL et al.: Association of metabolic-bariatric surgery with long-term survival in adults with and without diabetes: a one-stage meta-analysis of matched cohort and prospective controlled studies with 174 772 participants. Lancet. 2021;397(10287):1830-1841.
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