Transkript
FORTBILDUNG
Kopfschmerzen: Warnzeichen früh erkennen
Kopfschmerzen sind ein häufiger Grund für das Aufsuchen ärztlicher Hilfe. In diesem Artikel soll eine praxisorientierte Übersicht über die Erkennung potenziell gefährlicher Kopfschmerzursachen, über häufige Kopfschmerzformen und über ihre Behandlung gegeben werden.
Christian Maihöfner, Wolf-Oliver Krohn
Am Beginn einer strukturierten Kopfschmerzdiagnose steht der rasche Ausschluss potenziell gefährlicher Kopfschmerzursachen. Hierzu haben sich verschiedene «red flags» bewährt (Kasten), die in den SNOOP-Kriterien (SNOOP: Akronym aus «systemische Symptome» [S], neurologische Symptome [N], akuter Beginn [onset; O], ältere Patienten [older age; O] und Änderung des Kopfschmerzmusters [pattern change; P]) zusammengefasst wurden (1). Die Evaluation dieser Symptomliste in einer Notaufnahme zeigte eine hohe Sensitivität und erleichtert somit die Erkennung potenziell gefährlicher Kopfschmerzursachen (2).
Häufige Kopfschmerzformen sicher erkennen
3 Kopfschmerzsyndrome sind in der hausärztlichen Praxis besonders relevant und machen einen Grossteil der gesehenen Kopfschmerzen aus. Diese sind: s Kopfschmerz vom Spannungstyp s Migräne (3) s Kopfschmerz durch Medikamentenübergebrauch. Die detaillierten diagnostischen Kriterien finden sich in der internationalen Kopfschmerzklassifikation (International Classification of Headache Disorders, 3rd edition [ICHD-3]) (4). Der Kopfschmerz vom Spannungstyp ist der häufigste primäre Kopfschmerz (3). Es handelt sich um einen beidseitigen,
MERKSÄTZE
� Die SNOOP-Kriterien definieren «red flags» für Kopfschmerzen.
� Bei Spannungskopfschmerzen oder Migräne ohne «red flags» ist keine Bildgebung indiziert.
� Zur Behandlung kommen Attackentherapie und Prophylaxe infrage.
leichten bis mittelstarken Kopfdruck, der nicht durch körperliche Aktivität zunimmt. Er wird nicht von Übelkeit oder Erbrechen, Phono- oder Photophobie begleitet. Die Kopfschmerzen können bis zu 1 Woche anhalten. Die Migräne als zweithäufigster Kopfschmerz (3) ist seitenbetonter und intensiver als der Spannungskopfschmerz. Der Schmerz wird typischerweise durch körperliche Aktivität verstärkt und ist oft von einer starken Überempfindlichkeit für äussere Reize (Phono-, Photo-, Osmophobie) begleitet, was zu einem ausgeprägten Rückzugsverhalten führt. Häufig ist Übelkeit vorhanden, manchmal Erbrechen. Die betroffene Seite kann zwischen den Episoden wechseln. Die Kopfschmerzen halten zwischen 4 Stunden und 3 Tagen an. Tipp: Eine praxisnahe Unterscheidung zwischen Spannungskopfschmerz und Migräne ist anhand des Verhaltens mit dem Kopfschmerz möglich. Betroffene mit Spannungskopfschmerz können den Arbeitstag beziehungsweise den Alltag meist trotz der Kopfschmerzen fortsetzen. Aufgrund des Migränekopfschmerzes werden dagegen Tätigkeit und Tagesablauf unterbrochen, und oft ist trotz hoher Willensanstrengung ein Weiterarbeiten nicht möglich. Nicht selten wird bei hoher Kopfschmerzfrequenz aus einem hochfrequenten Kopfschmerz ein Dauerkopfschmerz mit zunehmender Einnahme von Schmerzmedikamenten. An den Medikamentenübergebrauchskopfschmerz (MÜK) sollte daher bei jeder Zunahme der Kopfschmerzhäufigkeit gedacht werden.
Wann sollte eine Bildgebung erfolgen?
Bei Kopfschmerzen, die alle Kriterien für Spannungskopfschmerz oder Migräne erfüllen und bei denen keine «red flags» (Kasten) vorhanden sind, kann auf eine Bildgebung verzichtet werden (5). Auffällige Befunde sind hier nicht häufiger, als statistisch zufällig zu erwarten wäre. Oft sorgt das Auffinden unspezifischer «white matter lesions» (WML) im Zusammenhang mit einer MRT(Magnetresonanz-
200
ARS MEDICI 8 | 2024
FORTBILDUNG
Kasten:
«Red flags» für Kopfschmerzen (SNOOP-Kriterien) (mod. nach [1])
Liegt 1 dieser Kriterien vor, deutet dies auf eine ernste Ursache des Kopfschmerzes hin: S: systemische Symptome (z. B. Fieber, B-Symptome, Erbrechen) N: neurologische Symptome (z. B. Schwindel, Synkope, Vigilanzstö-
rung, Sprachstörung, fokale neurologische Defizite jedweder Art wie Ausfall von Hirnnerven, Paresen, Parästhesien) O: «onset» (Einsetzen: explosionsartiger Beginn mit Erreichen des Punctum maximum innerhalb von 1 min, Vernichtungs-/Donnerschlagkopfschmerz) O: «older age» (Alter über 50 Jahre bei Kopfschmerzbeginn: höheres Risiko für echte Hirnerkrankungen wie Schlaganfall) P: «pattern change» (Änderung des Kopfschmerzmusters: Abweichung vom typischen Kopfschmerzmuster)
tomografie)-Bildgebung, vor allem bei Migräne (6), für eine hohe subjektive Belastung der Patienten. Der Erkenntnisgewinn und der therapeutische Nutzen dieser Zufallsbefunde sind gering.
Allgemeine Behandlungsziele
Für Ärzte und Betroffene ist ein Überblick über die Kopfschmerzsituation wichtig. Das Führen eines Kopfschmerzkalenders oder die Nutzung einer entsprechenden Handy-App ist hier sehr hilfreich. Über die Anzahl der Kopfschmerztage hinaus lassen sich so regelmässige Muster über den Wochenverlauf und auch Auslösefaktoren identifizieren. Die Kenntnis und das Lernen der Beeinflussung von potenziellen Auslösefaktoren können Betroffenen einen Sinn für die Selbstwirksamkeit von Massnahmen zurückgeben. Auch die Wirksamkeit der Behandlung kann anhand der Erfassung gut nachvollzogen werden. Länger als einige Monate oder über die Dauer einer Therapieveränderung müssen die Kopfschmerzen nicht aufgezeichnet
werden. Die Aufzeichnung sollte vor allem keine zusätzliche Belastung auslösen, was manchmal durchaus vorkommt. Die Patienten sollten ermuntert werden, die Kopfschmerzen frühzeitig und in ausreichend hoher medikamentöser Dosis zu behandeln. Oft besteht der Wunsch nach Einnahme von möglichst wenig Tabletten, um den Körper weniger zu belasten. Dabei wird in der Regel die hohe Belastung durch den Kopfschmerz nicht ausreichend berücksichtigt. Eine frühzeitige adäquate Einnahme eines wirksamen Analgetikums verringert die Wahrscheinlichkeit eines lang dauernden Kopfschmerzes und damit auch notwendige Folgeeinnahmen von Analgetika. Ebenfalls sollte bei Unwirksamkeit eines Wirkstoffs frühzeitig auf einen anderen Wirkstoff gewechselt werden. Die hohe Unsicherheit, ob das Medikament wirkt, stellt eine weitere Belastung für die Betroffenen dar und kann in sich bereits wieder Kopfschmerzepisoden begünstigen. Tipp: Oft werden wegen des hohen Leidensdrucks bekanntermassen unwirksame Präparate eingenommen, «um etwas zu tun». Ein unzuverlässig wirksames Kopfschmerzmedikament sollte rasch gewechselt werden.
Behandlung des Spannungskopfschmerzes
Nach der sicheren Zuordnung zu einer Kopfschmerzart stellt sich die Frage nach einer effektiven Behandlung. Hierbei spielen die Kopfschmerzart und vor allem die Anzahl der Kopfschmerztage pro Monat eine wichtige Rolle. Bei episodischen Kopfschmerzen vom Spannungstyp oder episodischer Migräne steht die Attackentherapie zunächst im Vordergrund. Für den episodischen Spannungskopfschmerz sind die üblichen Schmerzmittel wie Acetylsalicylsäure (ASS), Ibuprofen, Metamizol und Kombinationspräparate mit guter Evidenz versehen (7). Pfefferminzöl auf Schläfen oder Nacken kann versucht werden (7). Beim chronischen Spannungskopfschmerz mit 15 oder mehr Kopfschmerztagen im Monat über mindestens 3 Monate ist Amitriptylin Mittel der Wahl mit der höchsten Evidenz. Alternativen sind Doxepin, Mirtazapin, Venlafaxin, Topiramat und Tizanidin.
Tabelle:
Vergleich von Spannungskopfschmerz und Migräne*
Spannungskopfschmerz
Verteilung
Bisherige Attacken
≥ 10
Dauer
30 min bis 7 Tage
Schmerzcharakter
▲ beidseitig
▲ drückend
▲ leicht bis mittelstark
▲ Aktivität wirkt nicht verstärkend
Begleitsymptome
Kein(e) Übelkeit/Erbrechen/Photo-
oder Phonophobie
Besonderheiten
w: weiblich, m: männlich, Lj.: Lebensjahr * mod. n. ICHD-3 (International Classification of Headache Disorders, 3rd edition) (4)
Migräne w > m = 3:1, Gipfel: 20. bis 30. Lj. ≥5 4 h bis 3 Tage ▲ einseitig ▲ pulsierend ▲ mittelstark bis stark ▲ Aktivität verstärkt Schmerz Übelkeit/Erbrechen/Photo- und Phonophobie
Oft Prodromalsymptome bereits am Vortag: Müdigkeit, Konzentrationsstörung, Heisshunger, Reizbakeit u. Ä.
ARS MEDICI 8 | 2024
201
FORTBILDUNG
Zur Prophylaxe, und hier besonders beim chronifizierten Spannungskopfschmerz, sind Entspannungsverfahren, Biofeedback, Stressbewältigungstraining, Akupunktur und Physiotherapie wirksam (7).
Behandlung der Migräneattacke
Der frühzeitigen wirksamen Behandlung einer Migräneattacke kommt eine wichtige Bedeutung für die Kontrolle der Kopfschmerzen zu. Viele Patienten empfinden eine hohe Belastung bei dem Gedanken an die nächste Kopfschmerzattacke, da sie nicht wissen, was sie dagegen machen können. Das Wissen um ein wirksames Attackenmedikament lindert diese Sorge. Als Attackenmedikamente kommen sowohl ASS, Paracetamol, Ibuprofen oder Kombinationspräparate mit Koffein als auch Triptane infrage (8). Tipp: Bei starker Übelkeit oder frühem Erbrechen in der Migräneattacke stehen einige Triptane auch als Nasenspray, Schmerztabletten oder Subkutanspritzen zur Selbstanwendung durch die Patienten zur Verfügung. Bei Vorhandensein einer Migräneaura (also neurologischen Ausfallsymptomen vor dem eigentlichen Kopfschmerz) ist der richtige Einnahmezeitpunkt der Attackenmedikation nach dem Abklingen der neurologischen Symptome. Einen hohen Stellenwert in der Reduktion der Migränefrequenz haben nicht medikamentöse Massnahmen, vor allem moderater Ausdauersport. In regelmässiger Anwendung kann die Migränefrequenz deutlich reduziert werden. Zu beachten ist, dass sich der Kopfschmerz während einer Episode durch Aktivität verschlechtert, daher sollen die Patienten sportliche Aktivitäten im Intervall ausführen. Tipp: Die frühzeitige Einnahme eines wirksamen Attackenmedikaments kann die empfundene Belastung durch Sorge vor der nächsten Attacke stark reduzieren und die Selbstwirksamkeit steigern. Eine medikamentöse Migräneprophylaxe kann insbesondere erwogen werden, wenn die Attackenfrequenz mehr als 4 Migräneattacken pro Monat beträgt, sehr lange Migräneattacken vorliegen, die Akuttherapie nur insuffizient wirkt und ein Risiko für die Entwicklung eines MÜK besteht. Wichtige Substanzen sind vor allem Betablocker, Amitriptylin, Flunarizin, Magnesium und Topiramat. Bei der chronischen Migräne ist auch Onabotulinumtoxin A zugelassen. Moderne Medikamente blockieren entweder das Neuropeptid CGRP (calcitonin gene-related peptide) oder seinen Rezeptor. Tipp: Wichtig sind auch nicht medikamentöse Verfahren wie Entspannungsverfahren und regelmässiger Ausdauersport.
Medikamentenübergebrauchskopfschmerz
Bei Erreichen oder Überschreiten der Kopfschmerzfrequenz von 10 Tagen im Monat oder bei starker Beeinträchtigung des Alltags durch die Kopfschmerzen sollte über eine Attackentherapie hinaus auch frühzeitig an eine Kopfschmerzprophylaxe gedacht werden. Diese reduziert nicht nur die Beeinträchtigung der Betroffenen, sondern schützt auch vor einem MÜK (9). Ein MÜK sollte immer vermutet werden, wenn bekannte Kopfschmerzen trotz ursprünglich wirksamer Medikation in der Häufigkeit zunehmen. Auch eine nachlassende Wirksamkeit sollte misstrauisch machen.
Wirksame Behandlungen sind eine Medikamentenpause so-
wie eine medikamentöse und nicht medikamentöse Kopf-
schmerzprophylaxe der zugrunde liegenden Kopfschmerz-
erkrankung. Kopfschmerzen oder Entzugssymptome im
Rahmen einer Medikamentenpause können mit trizyklischen
Antidepressiva, Steroiden oder Neuroleptika behandelt wer-
den, wobei es sich um eine Expertenempfehlung handelt (9).
Tipp: Die frühzeitige Prophylaxe bei hoher Kopfschmerz-
frequenz kann die Einnahme von Analgetika reduzieren und
vor einem MÜK schützen.
s
Prof. Dr. med. Christian Maihöfner, MHBA Klinik für Neurologie Klinikum Fürth D-90766 Fürth
Dr. med. Wolf-Oliver Krohn Facharzt für Neurologie Deutsche Hirnstiftung e.V. D-10117 Berlin
Interessenlage: Prof. Maihöfner: Vortragshonorare und Beratertätigkeiten für Novartis, Lilly, Lundbeck und TEVA. Dr. Krohn: keine Interessenkonflikte.
Dieser Artikel erschien erstmals in «doctors today» 7/23. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autoren.
Literatur: 1. Maihöfner C: Moderne Praxis der Migränetherapie – bewährte Strategien
und Innovationen, S. 77, Tab. 4.3., 1. Aufl. 2022, Bremen: UNI-MED, ISBN 978-3-8374-1644-2 2. García-Azorín D et al.: Sensitivity of the SNNOOP10 list in the high-risk secondary headache detection. Cephalalgia. 2022;42(14):1521-1531; doi: 10.1177/03331024221120249. 3. Straube A, Rusheweyh R: Epidemiologie von Kopfschmerzen über die Lebensspanne. Nervenheilkunde. 2019; 38(10):735-739; doi: 10.1055/a-0988-4322. 4. International Classification of Headache Disorders, 3rd edition (ICHD-3). Online: https://ichd-3.org/de/ (abgerufen am 22.03.2023). 5. Maihöfner C: Moderne Praxis der Migränetherapie – bewährte Strategien und Innovationen, S. 63, 1. Aufl. 2022, Bremen: UNI-MED, ISBN 978-38374-1644-2. 6. Zhang W et al.: Prevalence and clinical characteristics of white matter hyperintensities in migraine: a meta-analysis. Neuroimage Clin. 2023;37:103312; doi: 10.1016/j.nicl.2023.103312. 7. Straube A: S1-Leitlinie «Therapie des episodischen und chronischen Kopfschmerzes vom Spannungstyp und anderer chronischer täglicher Kopfschmerzen» (2015). In: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.) Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www. dgn.org/leitlinien (abgerufen am 27.03.2023), zurzeit in Überarbeitung. 8. Diener HC et al.: S1-Leitlinie «Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne» (2022) der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG). In: DGN (Hrsg.) Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 25.03.2023). 9. Diener HC et al.: S1-Leitlinie «Kopfschmerz bei Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln (Medication Overuse Headache = MOH)» (2022). In: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.) Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn. org/leitlinien (abgerufen am 20.03.2023).
202
ARS MEDICI 8 | 2024