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BERICHT
Weniger Antibiotika einsetzen
Was wir von der Komplementärmedizin lernen können
Um den Antibiotikaverbrauch wirksam zu reduzieren, muss in der Praxis angesetzt werden, wie Prof. Philip Tarr, Co-Chefarzt Universitäres Zentrum für Innere Medizin, Leiter Infektiologie und Spitalhygiene, Kantonsspital Baselland, Bruderholz, aufzeigte. Über 80 Prozent aller Antibiotika werden in der Praxis verschrieben – etwa die Hälfte davon ohne entsprechende Indikation, zu breit im Spektrum oder unnötig lange. Um der globalen Herausforderung zunehmender Antibiotikaresistenzen besser zu begegnen, skizzierte der Infektiologe im Rahmen der Jahrestagung der Schweizerischen Medizinischen Gesellschaft für Phytotherapie (SMGP), was die Komplementärmedizin dazu beitragen kann.
In den letzten Jahrzehnten hat sich das Bewusstsein für die Problematik der Antibiotikaresistenzen deutlich geschärft. Insbesondere im Bereich der ambulanten Medizin, in dem der grösste Anteil der Antibiotika verschrieben wird, ist ein Paradigmenwechsel notwendig. Für einen verantwortungsvollen Umgang mit Antibiotika gilt es, unnötige Medikalisierungen, insbesondere bei selbstlimitierenden Atemwegsinfektionen, zu reduzieren, und komplementärmedizinische Konzepte stärker zu berücksichtigen. Damit könnte zudem eine ungünstige Beeinflussung des Mikrobioms vermieden werden. Für den dafür notwendigen soziokulturellen Wandel müssen sowohl diejenigen, die verordnen, als auch diejenigen, die erkrankt sind, mit ins Boot geholt werden.
Nicht von der Angst leiten lassen
Viele alltägliche Infektionen, wie Atemwegs- und Blaseninfektionen, verlaufen überwiegend unkompliziert und erfordern nicht zwingend eine Antibiotikatherapie. Dennoch wird in der Praxis viel zu häufig ein Antibiotikum verschrieben. Oftmals spielt dabei die Angst eine Rolle. Ein nüchterner Blick auf die Zahlen kann das relativieren und helfen, von der «Angstmedizin» wegzukommen: s Nur 5 Prozent der Patienten mit akutem Husten in der
Hausarztpraxis haben eine Pneumonie (1). s Eine randomisierte Studie zeigt, dass 0 Prozent der Frauen,
deren Harnwegsinfekte ohne Antibiotika behandelt werden, eine Pyelonephritis entwickeln (2). s Bereits seit 2012 empfehlen die europäischen Guidelines für die Behandlung einer Streptokokkenangina, dass die Prävention von Abszessen und rheumatischem Fieber keine Indikation für den Einsatz von Antibiotika darstellt (3, 4).
Als Alternative zum übermässigen Einsatz von Antibiotika stehen für Tarr 2 Konzepte im Vordergrund: das Konzept der Immunstimulation sowie eine wirksame Symptomlinderung – und in diesem Kontext bieten sich wirksame pflanzliche
Arzneimittel als effektive Alternativen an. Diese Ansätze tragen zur Reduktion des Antibiotikaverbrauchs bei und werden auch von den Betroffenen geschätzt. Bei Umfragen gaben bis zu 50 Prozent der Befragten in der Schweiz an, sich komplementärmedizinisch behandeln zu lassen, berichtete der Experte. Und Komplementärmediziner behandeln Harnwegsinfekte und Streptokokkenangina seit Jahrzehnten schon ohne Antibiotika.
Wann kann bei Harnwegsinfektionen auf Antibiotika verzichtet werden?
Bei einer asymptomatischen Bakteriurie kann, ausser bei einer Schwangerschaft oder im Vorfeld invasiver urologischer Verfahren, grundsätzlich auf Antibiotika verzichtet werden (5). Auch für die Behandlung eines unkomplizierten Harnwegsinfekts bei ansonsten gesunden Frauen empfiehlt die Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (SGGG) seit einigen Jahren einen zurückhaltenden Einsatz von Antibiotika. In den Guidelines heisst es, dass eine unbehandelte Zystitis das Risiko einer Progression zur Pyelonephritis nicht signifikant erhöht (6). Das Antibiotikum kann auch zur späteren Verwendung verschrieben und die Patientin ermutigt werden, für 48 Stunden eine symptomatische Therapie zu versuchen, sprich vermehrtes Trinken sowie ein nicht steroidales Antiphlogistikum (NSAID), wie zum Beispiel Ibuprofen (Standby-Therapie). Alternativ werden zunächst nur NSAID für 48 Stunden verschrieben; halten die Beschwerden an, kommt die Patientin erneut in die Praxis (verspätete Verschreibung). Liege bereits eine Pyelonephritis vor, sei jedoch eine sofortige Antibiotikatherapie indiziert, so der Experte. Als Alarmzeichen dafür gelten – neben einer Pyelonephritis in der Anamnese – ein schlechter Allgemeinzustand, Erbrechen, Flankenschmerzen oder -klopfdolenz, Fieber, eine Leukozytose, ein erhöhtes CRP sowie eine angeborene Nierenanormalität. Ohne Alarmzeichen ist von einer Zystitis auszugehen, und die Patientin kann, sofern sie eine antibiotikafreie Therapie wünscht und dafür infrage kommt,
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zunächst ohne Antibiotika behandelt werden; sie sollte viel trinken, pflanzliche Produkte sowie Wärme und lokale Öle/ Fette verwenden, Paracetamol und NSAID. Auch wenn die Symptome mit Antibiotika etwas schneller nachlassen, sind gemäss Tarr heute auch die Patientinnen durchaus bereit, auf Antibiotika zu verzichten, weil diese nicht gut für das Mikrobiom sind.
Antibiotika bei Atemwegsinfektionen meist unnötig
Bei Atemwegsinfektionen werden am häufigsten unnötig Antibiotika verschrieben. Ob der Infekt als Erkältung, Schnupfen, Grippe, Bronchitis, Husten oder Sinusitis diagnostiziert wird, sei dabei unbedeutend, so der Experte. Denn in über 95 Prozent der Fälle sind Viren die Auslöser, bei denen Antibiotika nicht angezeigt sind. Bereits seit 2019 erlauben die Schweizer Richtlinien in diesen Fällen eine Behandlung ohne Antibiotika (7). Zudem kann gemäss eidgenössischer Schulvorschriften ein erkranktes Kind mit Streptokokkenangina seit Mai 2020 die Schule wieder besuchen, wenn es sich dazu imstande fühlt – auch ohne vorherige Antibiotikabehandlung (8). Statt Antibiotika aber zu verbieten, bedarf es der Aufklärung, auch bei Ärzten. Daneben sollte der Fokus viel stärker auf das Immunsystems gelegt werden, «denn damit können wir Infektionen verhindern beziehungsweise die Dauer der Beschwerden wirksam reduzieren», so der Infektiologe weiter. Sowohl therapeutisch als auch prophylaktisch haben hier natürliche und pflanzliche Arzneimittel ihren Platz, die die Infektabwehr durch eine Stimulation des Immunsystems verbessern. Dazu zählten zum Beispiel Echinacea purpurea, Vitamin D, N-Acetylcystein und Pelargonium sidoides, deren signifikante Wirksamkeit hinsichtlich Erkrankungshäufigkeit und Symptomdauer durch randomisierte Studien und Metaanalysen dokumentiert sei, so Tarr.
Besser auf die Linderung der Symptome achten
In der Komplementärmedizin wird das Augenmerk schon lange vermehrt auf die Stärkung des Immunsystems, auf Resilienz und auf die Salutogenese – im Gegensatz zur Pathogenese – gerichtet. Eine gesunde Normalflora (Mikrobiom) und eine gute Symptomlinderung stehen ebenfalls im komplementärmedizinischen Fokus. «Um unnötige Antibiotika zu reduzieren, müssen auch wir die Symptomlinderung stärker in den Mittelpunkt stellen, denn eine Infektion ist mehr als der Keim», wie Tarr erinnerte – und die Betroffenen begrüssen ein solches Vorgehen. Zusammen mit einer entsprechenden Kommunikation zu Wert und Wirksamkeit der Symptomlinderung anstelle von «die Infektion geht von allein weg», «es braucht keine Antibiotika, das ist eh viral» oder «das braucht halt etwas Geduld» lässt sich das Wohlbefinden so durchaus steigern. Gleichzeitig gibt es den Patienten das Gefühl, selbst zur Genesung beitragen zu können. Im Falle von Atemwegsinfektionen können altbekannte Massnahmen helfen, die Symptome zu lindern. Bei Fieber sollte der Patient im Bett oder zumindest zuhause bleiben; das Fie-
Erwartete Symptomdauer bei häufigen Infektionen:
▲ Blasenentzündung: bis zu 10 Tage ▲ Erkältung: bis zu 10 Tage ▲ akute Halsschmerzen: bis zu 7 Tage ▲ akute Mittelohrentzündung: 4 Tage ▲ akuter Husten («Bronchitis»): bis zu 3–4 Wochen
ber sollte jedoch nur bei Krankheitsgefühl (Schmerzen) gesenkt werden. Rachenwickel mit Zitrone oder Quark können ebenso lindern wie warme Getränke (z. B. Lindenblütenoder Salbeitee, in kleinen Schlucken trinken oder, wenn möglich, erst gurgeln und dann schlucken).
Gute Betreuung ist mehr als ein
Antibiotikarezept
Damit Patienten mit Harnwegs- oder Atemwegsinfekten sich
gut versorgt fühlen, bedarf es also nicht vorrangig eines Anti-
biotikarezepts. «Wichtiger ist, dass Sie sich Zeit nehmen, die
Erkrankung, die Zusammenhänge und die Behandlungsmög-
lichkeiten zu erklären, und die Symptome behandeln», so der
Experte. Es ist wichtig, die Patienten in die Entscheidungs-
findung einzubeziehen und realistische Erwartungen hin-
sichtlich der Erkrankungsdauer zu formulieren, denn die
Symptome können deutlich länger als erwartet anhalten
(siehe Kasten). Ausserdem braucht es eine gute Erreichbar-
keit, um (zumindest telefonisch) nachkontrollieren zu kön-
nen, ob gegebenenfalls verzögert doch noch Antibiotika zum
Einsatz kommen sollten.
s
Christine Mücke
Prof. Philip Tarr, Kantonsspital Baselland: Vortrag «Reduktion des Antibiotikaverbrauchs» im Rahmen der Jahrestagung der Schweizerischen Medizinischen Gesellschaft für Phytotherapie (SMGP), 16.11.2023 in Baden.
Referenzen: 1. van Vugt SF et al.: Use of serum C reactive protein and procalcitonin
concentrations in addition to symptoms and signs to predict pneumonia in patients presenting to primary care with acute cough: diagnostic study. BMJ. 2013;346:f2450. Published 2013 Apr 30. doi:10.1136/bmj.f2450 2. Moore M et al.: Uva-ursi extract and ibuprofen as alternative treatments for uncomplicated urinary tract infection in women (ATAFUTI): a factorial randomized trial. Clin Microbiol Infect. 2019;25(8):973-980. doi:10.1016/j.cmi.2019.01.011 3. ESCMID Sore Throat Guideline Group, Pelucchi C, Grigoryan L, et al. Guideline for the management of acute sore throat. Clin Microbiol Infect. 2012;18 Suppl 1:1-28. doi:10.1111/j.1469-0691.2012.03766.x 4. Berger H et al.: Update 2021 – Behandlung der Streptokokkenangina ohne Antibiotika. Primary and Hospital Care – Allgemeine Innere Medizin 2021;21(11):360–367. 5. Clinical Practice Guideline for the Management of Asymptomatic Bacteriuria: 2019 Update by IDSA Clinical Infectious Diseases. 2019; 68 (10):e83–e110. https://doi.org/10.1093/cid/ciy1121 6. https://ssi.guidelines.ch/guideline/2981 7. https://ssi.guidelines.ch/guideline/2408 8. https://www.vks-amcs.ch/fileadmin/docs/public/vks/Schulausschluss__ def_20200505_d.pdf
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