Transkript
BERICHT
Pneumokokken, Meningokokken, Rotavirus, HPV
Neue Schweizer Impfempfehlungen 2024
Seit Januar 2024 gelten neue Empfehlungen für eine Reihe von Impfungen. Dazu gehören die Impfungen gegen Pneumokokken und Meningokokken sowie gegen Rotaviren und humane Papillomviren (HPV). Prof. Christoph Berger, Zürich, informierte am Schweizer Impfkongress als Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (EKIF) über die Evidenz, welche den neuen Empfehlungen zugrunde liegt.
Für Kinder unter 5 Jahren und Risikogruppen jeden Alters wird die Impfung gegen Pneumokokken im Schweizerischen Impfplan seit Langem als Basis- beziehungsweise Risikoimpfung empfohlen. Weil das Alter ein unabhängiger Risikofaktor für pneumokokkenbedingte Erkrankungen ist, wird sie nun als ergänzende Impfung mit einem Konjugatimpfstoff generell für alle Personen ≥ 65 Jahre empfohlen (1): s 1 Dosis PCV13 (Prevenar®) oder PCV15 (Vaxneuvance®)
für alle ≥ 65-Jährigen, die nicht gegen Pneumokokken geimpft sind oder nur mit dem früher verwendeten PPV23Impfstoff (Pneumovax®) geimpft wurden. s Eine Auffrischimpfung mit einem Konjugatimpfstoff oder eine Nachholimpfung mit einem höher valenten Konjugatimpfstoff wird zurzeit weder für Risikopatienten noch für die ≥ 65-Jährigen empfohlen.
KURZ & BÜNDIG
� Alle ≥ 65-Jährigen, die nicht gegen Pneumokokken geimpft sind oder nur mit dem früher verwendeten PPV23-Impfstoff geimpft wurden, sollen eine ergänzende Impfung mit einer Dosis des Konjugatimpfstoffs (PCV13 oder PCV15) erhalten.
� Die Meningokokkenimpfung mit dem Konjugatimpfstoff MCV-ACWY soll früher, bereits im 12. und 18. Lebensmonat, erfolgen.
� Die Impfung gegen Meningokokken der Gruppe B mit 4CMenB wird nicht mehr nur für Risikogruppen, sondern für alle Säuglinge und Jugendlichen empfohlen.
� Die Schluckimpfung gegen Rotaviren wird für alle Säuglinge empfohlen.
� Die HPV-Impfung für Jungen wird zur Basisimpfung hochgestuft.
� Alle Impfungen gemäss den neuen Empfehlungen werden von der obligatorischen Krankenversicherung beziehungsweise im Fall der HPV-Impfung im Rahmen kantonaler Impfprogramme bezahlt.
s Die Empfehlungen für Kinder (2 Monate bis 5 Jahre) und Risikogruppen < 65 Jahre gelten weiterhin. s Von der obligatorischen Krankenversicherung bezahlt werden nur die Impfungen bei Kindern (2 Monate bis 5 Jahre) und bei Personen ≥ 65 Jahre* (2, 3). Ältere gegen Pneumokokken impfen Die «burden of disease» sei insbesondere bei älteren Personen massiv, sagte Prof. Christoph Berger. Deshalb könne gerade diese Altersgruppe von einer Impfung profitieren. Es geht dabei zum einen, wie bei den Kindern, um den Schutz vor invasiven Pneumokokkenerkrankungen (IPE) und zum anderen um die Verhinderung von pneumokokkenbedingten Pneumonien, deren Inzidenz bei Personen ≥ 65 Jahre deutlich höher ist als bei den Jüngeren. Im obligatorischen Meldesystem des BAG von 2017 bis 2019 zählte man in der Schweiz im Mittel pro Jahr 547 IPE-Patienten ≥ 65 Jahre mit 68 dadurch bedingten Todesfällen (12%). Das entspricht einer IPE-Inzidenz von 36 Fällen auf 100 000 Personen ≥ 65 Jahre beziehungsweise einer IPE-bedingten Mortalität von 4,3 auf 100 000 Personen ≥ 65 Jahre. Man nimmt an, dass zirka 20 Prozent aller ambulant erworbenen Pneumonien auf Pneumokokken zurückzuführen sind. Für die Schweizer Spitäler schätzt man, dass im oben genannten Zeitraum im Mittel pro Jahr rund 7900 Fälle bei den ≥ 65-Jährigen auftraten, was einer Inzidenz von 498 auf 100 000 Personen ≥ 65 Jahre entspricht. Bezieht man in die Schätzung auch die nicht hospitalisierten Patienten ein, ergibt sich eine Inzidenz von 848 Fällen auf 100 000 Personen ≥ 65 Jahre (1). Das Risiko, an einer Pneumokokkenpneumonie zu sterben, ist mit 2,4 Prozent geringer als bei IPE. Weil die Pneumokokkenpneumonie jedoch wesentlich häufiger ist, liegt die Mortalitätsinzidenz in einer ähnlichen Grössenordnung wie bei der IPE. Sie betrug bei hospitalisierten Patienten mit mikrobiologisch nachgewiesener Pneumokokkenpneumonie 3,3 Todesfälle auf 100 000 Personen ≥ 65 Jahre (1). * Für Risikopatienten < 65 Jahre wurde mittlerweile die Kostenübernahme für Vaxneuvance® zugesagt (Stand: 22.1.2024). 108 ARS MEDICI 5+6 | 2024 BERICHT Tabelle: Aktuelle Empfehlungen zur ergänzenden Impfung gegen Meningokokken MCV-ACWY Impfalter 12–18 Monate 11–15 Jahre Impfdosen 1 Dosis (MenQuadfi®) 1 Dosis oder 2 Dosen (Menveo®; Minimalintervall 2 Monate) Nachholimpfung bis zum bis zum 5. Geburtstag 20. Geburtstag 4CMenB Monate 3, 5, 12–18 3 Dosen (2 Dosen im 1. Lebensjahr, Minimalintervall 2 Monate; 3. Dosis im 2. Lebensjahr, mindestens 6 Monate nach der 2. Dosis) bis zum 5. Geburtstag 11–15 Jahre 2 Dosen (Minimalintervall 1 Monat) bis zum 20. Geburtstag Quelle: BAG/EKIF: Ergänzende Impfempfehlungen zum Schutz vor invasiven Meningokokken-Erkrankungen. www.bag.admin, 6.11.2023. Meningokokken: Ausweitung der Impfungen Man kennt bis heute 12 Meningkokokken-Serogruppen, 6 von ihnen können schwere invasive Infektionen verursachen (IME: invasive Meningokokkenerkrankung). Gegen 5 dieser Serogruppen (A, B, C, W, Y) sind seit der Jahrtausendwende Impfstoffe verfügbar. Das spiegelt sich in der Entwicklung der IME-Inzidenz in der Schweiz wider: Sie sank von jährlich 1 bis 2 Fällen auf 100 000 Einwohner im Zeitraum von 2001 bis 2010 auf derzeit 0,6 auf 100 000 Einwohner (4). Die Bedeutung der jeweiligen Serogruppe als Verursacher einer IME ist unterschiedlich. Von 2011 bis 2020 gingen rund 40 Prozent der IME-Fälle in der Schweiz auf das Konto von Meningokokken der Gruppe B. Zweithäufigste Erreger waren Meningokokken der Gruppe W (23%), gefolgt von Meningokokken der Serogruppen C (18% mit abnehmender Tendenz) und Y (mit steigender Tendenz). Epidemiologisch spielen die Serogruppen A und X hierzulande zurzeit keine Rolle (4). Das Alter spielt ebenfalls eine Rolle für die IME-Inzidenz. Sie ist bei Säuglingen und Kleinkindern sowie bei Jugendlichen zwischen 15 und 19 Jahren deutlich höher als in anderen Altersgruppen. Deshalb wurde die Impfung mit einem quadrivalenten Konjugatimpfstoff (MCV-ACWY: Menveo®, MenQuadfi®) bereits seit einiger Zeit generell für 2-Jährige sowie für Jugendliche im Alter von 11 bis 15 Jahren als ergänzende Impfung empfohlen und von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung bezahlt. Seit Januar 2024 gilt die Impfempfehlung mit MCV-ACWY für ein früheres Kindesalter, nämlich bereits zwischen 12 und 18 Monaten (5). Ebenfalls neu hinzugekommen ist eine Ausweitung der Empfehlung und der Kostenübernahme für die Impfung mit dem Multikomponentenimpfstoff 4CMenB (Bexsero®) gegen Meningokokken der Gruppe B. Dieser Impfstoff bietet einen hohen individuellen Schutz vor einer Infektion mit Meningokokken der Gruppe B. Studien belegten eine Schutzwirkung von 71 bis 100 Prozent, sagte Berger. Die Impfung mit 4CMenB hat jedoch keinen Einfluss auf die Kolonisation mit dem Erreger (15% der Bevölkerung können asymptomatische Träger des Bakteriums sein), sodass diese Impfung keinen Herdenschutz vermitteln kann. Die Impfung mit 4CMenB wird nun für alle Personen im Alter von 2 Monaten bis 24 Jahren von der obligatorischen Krankenversicherung bezahlt (4). Das Impfschema für die Meningokokkenimpfung ist in der Tabelle zusammengefasst. Auf die Frage, warum man bei der Empfehlung für die 4CMenB-Impfung im Säuglingsalter vom 2-4-Impfschema abgewichen sei, sagte Berger, dass bei Säuglingen üblicherweise 2 Impfungen auf einmal als genug empfunden würden. Man wolle mit der Abweichung vom 2-4-Schema in den Empfehlungen vermeiden, dass eventuell die PCV-Impfung in den Monaten 2 und 4 zugunsten der Meningokokkenimpfung weggelassen würde, denn Erkrankungen durch Pneumokokken seien viel häufiger als meningokokkenbedingte. Auch die Pädiater würden gemäss einer Umfrage das 3-5-Schema für die 4CMenB-Impfung bevorzugen, ergänzte EKIF-Mitglied Dr. med. Anita Niederer-Loher. In der Praxis müsse man sich bei der 4CMenB-Impfung zwar nicht unbedingt streng an das 3-5-Schema halten, auch das Schema 2 und 4 Monate sei möglich, aber «die Abstände müssen stimmen», betonte Berger. Rotavirus: ergänzende Impfung für Säuglinge Infektionen mit dem Rotavirus sind bei Kindern bis 5 Jahre weltweit der häufigste Grund für Dehydratation infolge Diarrhö. In der Schweiz führe das kaum zu Todesfällen, aber die Morbidität und die direkten und indirekten Effekte dieser Infektion seien erheblich, sagte Berger. Gut ein Drittel aller Spitaleinweisungen wegen Gastroenteritis im Kindesalter gingen auf das Konto dieses Virus: «Die Eltern und auch die Pädiater unter uns, besonders diejenigen, die im Spital arbeiten, sind froh, wenn weniger Kinder deswegen hospitalisiert werden müssen.» Eine Schluckimpfung mit einem attenuierten Lebendimpfstoff ist seit Langem in der Schweiz zugelassen (Rotarix®). Die EKIF habe an der Empfehlung für diese Impfung schon vor 10 Jahren gearbeitet, sagte Berger. Man habe die Empfehlung aber zurückgestellt, bis die Kostenübernahme für alle Kinder gesichert werden konnte. Das ist nun der Fall. Darüber hinaus konnten mittlerweile Sicherheitsbedenken bezüglich eines erhöhten Invaginationsrisikos mit einem früheren Rotavirusimpfstoff ausgeräumt werden. Ein 2021 publizierter Cochrane-Review (6) dokumentiere, dass dieses Risiko heutzutage weder in den entwickelten noch in den weniger entwickelten Ländern relevant sei, sagte Berger. 110 ARS MEDICI 5+6 | 2024 BERICHT Das Impfschema sieht wie folgt aus (7, 8): s Es werden 2 Dosen Rotarix® gegeben. s Die beiden Dosen können zusammen mit den Basisimp- fungen im Alter von 2 und 4 Monaten gegeben werden. s Der Minimalabstand zwischen den beiden Dosen ist wichtig und muss mindestens 4 Wochen betragen. s Der frühestmögliche Zeitpunkt für die 1. Dosis ist die Woche 6. s Keine Gabe des Impfstoffs im Alter über 24 Wochen! Übrigens ist der im Ausland eingesetzte Rotavirusimpfstoff RotaTeq® dem in der Schweiz zugelassenen Impfstoff Rotarix® äquivalent. Bei Kindern, die im Ausland bereits teilweise mit RotaTeq® geimpft wurden, kann die Impfung in der Schweiz mit Rotarix® abgeschlossen werden (9). HPV-Impfung als Basisimpfung für Jungen Frauen sind generell häufiger von HPV-assoziierten Tumoren betroffen als Männer, aber mindestens ein Drittel der HPVassoziierten Tumoren betrifft Männer. Es gebe hier eine absolut nicht infrage zu stellende, relevante «burden of disease» für die Männer, und das sei der Hauptgrund für den geschlechtsneutralen Einsatz der HPV-Impfung, sagte Berger. Hinzu komme, dass es, anders als bei den Frauen, keine HPV-relevanten Vorsorgeprogramme für Männer gebe und nicht zuletzt eine HPV-Impfung der Jungen auch einen Schutz für die Mädchen bedeute. Aus diesem Grund wurde die bis anhin als ergänzende Imp- fung klassifizierte HPV-Impfung für Jungen ebenfalls zu einer Basisimpfung hochgestuft (10). Für Jungen gilt dasselbe 2- beziehungsweise 3-Dosen-Schema mit dem nonavalenten Impfstoff (Gardasil®) wie für die Mädchen und Frauen. Be- zahlt wird die HPV-Impfung im Rahmen kantonaler Impf- programme. s Renate Bonifer Prof. Christoph Berger, Zürich: Vortrag «Update EKIF-recommendations 2023 and outlook for 2024», XII. Schweizer Impfkongress in Basel, 9. November 2023. Literatur: 1. BAG/EKIF: Pneumokokkenimpfung neu für alle Personen ab dem Alter von 65 Jahren als ergänzende Impfung empfohlen. www.bag.admin, 30.10.2023. 2. SL-Publikationen zu Prevenar 13® und Vaxneuvance® am 1.1.2024. 3. InfoVac: Pneumokokken. www.infovac.ch, 3.1.2024. 4. BAG/EKIF: Ergänzende Impfempfehlungen zum Schutz vor invasiven Meningokokken-Erkrankungen. www.bag.admin, 6.11.2023. 5. InfoVac: Meningokokken. www.infovac.ch, 3.1.2024. 6. Bergman H et al.: Vaccines for preventing rotavirus diarrhoea: vaccines in use. Cochrane Database Syst Rev. 2021;11(11):CD008521. 7. BAG/EKIF: Rotavirus: Ergänzende Empfehlung für Säuglinge. www.bag. admin, 6.11.2023. 8. InfoVac: Rotavirus. www.infovac.ch, 3.1.2024. 9. Session «INFOVAC Fellows: Spannende Fälle». XII. Schweizer Impfkongress in Basel, 10. November 2013. 10. BAG/EKIF: Die HPV-Impfung als Basisimpfung für Jungen. www.bag. admin, 6.11.2023. Senkt COVID-19-Impfung das Diabetesrisiko? Diabetes gilt als Risikofaktor für einen schweren COVID-19-Verlauf, und eine Infektion mit dem Coronavirus wiederum erhöht die Wahrscheinlichkeit, an Typ-2-Diabetes zu erkranken. Ein Forschungsteam des Deutschen Diabetes-Zentrums, der Universität Duisburg-Essen und der Firma IQVIA hat versucht, genauer herauszufinden, inwieweit eine COVID-19Impfung das Risiko für Typ-2-Diabetes beeinflusst. Um sich der Frage systematisch zu nähern, werteten Prof. Bernd Kowall, Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie des Universitätsklinikums Essen und der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen, Prof. Karel Kostev, IQVIA in Frankfurt, und Studienleiter Prof. Wolfgang Rathmann, Institut für Biometrie und Epidemiologie am Deut- schen Diabetes-Zentrum in Düsseldorf, Daten der Disease-Analyzer-Datenbank aus, die anonymisiert Informationen zu Krank- heitsbildern und Therapie speichert. Dabei werden in einer repräsentativen Auswahl insgesamt 970 Arztpraxen aus ganz Deutschland berücksichtigt. Das Team analysierte die Daten von 6198 Patienten (durchschnittliches Alter: 64,3 Jahre), die zwischen dem 1. April 2021 und dem 31. März 2022 erstmals gegen COVID-19 geimpft wurden und bei denen innerhalb eines halben Jahrs davor oder danach die Erstdiagnose eines Typ-2-Diabetes gestellt wurde. Die Inzidenzraten von Diabetes nach der Impfung wurden mit den Inzidenzen vor der Impfung verglichen – und fielen zur Überraschung der Forscher nach der Impfung niedriger aus als davor. Nach der Impfung wurden 2619 Diabetesdiagnosen gestellt – im gleich langen Zeitraum waren es zuvor 3333 Erstdiagnosen. Am Tag der Impfung wurde 246-mal ein Diabetes mellitus Typ 2 diagnostiziert. Das entspricht einer Sen- kung des Diabetesrisikos um relativ etwa ein Fünftel (21%). Immerhin erhöhe sich das Risiko nach einer Impfung nicht, so die anfängliche, vorsichtige Interpretation der Forscher. Zwischenzeitlich liegen jedoch aus den USA und aus Hongkong Studien mit ähnlichen Resultaten vor. Und in einer weiteren Untersuchung fiel die Senkung des Diabetesrisikos mit einer höheren Zahl an Impfdosen sogar umso deutlicher aus. Der zugrunde liegende Mechanismus sei jedoch noch unklar, so der Studienleiter, da bedürfe es noch experimenteller Grundlagenstudien. Mü Quellen: Pressemitteilung des Deutschen Diabetes-Zentrum (DDZ) vom 25.01.2024 sowie Kowall B et al.: Diabetes incidence before and after COVID19 vaccination – results from the German Disease Analyzer database. Vaccine X. 2023;14:100336. 112 ARS MEDICI 5+6 | 2024