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BERICHT
Ernährung, Bewegung und Impfungen
Säulen der supportiven Therapie
Bei steigender Krebsinzidenz und gleichzeitig sinkender Krebsmortalität befinden sich heute immer mehr Patienten in Behandlung und Nachsorge, erinnerte Dr. Raphaël Delaloye, Leitender Arzt am Zentrum für Onkologie/Hämatologie des Kantonsspitals Baden. Mit den richtigen supportiven Massnahmen können sowohl die Lebensqualität als auch die Prognose Krebserkrankter verbessert werden.
Für die Entwicklung einer Krebserkrankung kommen verschiedene Faktoren zusammen. Neben den intrinsischen Faktoren, zu denen zum Beispiel Genetik, Epigenetik, das Mikrobiom – für das sich die Wissenschaft immer stärker interessiert – sowie Geschlecht und Alter zählen, spielen Umgebungsfaktoren (z. B. Viren, UV-Strahlung) sowie Ernährungs- und Lebensstilfaktoren eine Rolle in der Krebsentstehung. Letztere seien beeinflussbar, so der Onkologe: Wie wir uns ernähren und bewegen, spielt eine grosse Rolle in der Krebsentstehung. Dabei ist der häufigste vermeidbare Risikofaktor Übergewicht, neben Nikotinabusus und Alkoholüberkonsum (1). Eine Gewichtsabnahme hingegen kann ein erstes Symptom einer Krebserkrankung sein; von einem relevanten ungewollten Gewichtsverlust spricht man bei einer Abnahme von mehr als 10 Prozent des Körpergewichts innerhalb von 6 Monaten. Dem kann Appetitlosigkeit, eine Fleischaversion oder ein erhöhter Metabolismus aufgrund des katabolen Zustands, des Energieverbrauchs durch die Tumorproliferation und der Entzündungsreaktion zugrunde liegen. In der Konsequenz kommt es zur Mangelernährung, die ihrerseits als negativer prognostischer Faktor gilt. Um die Patienten zu unterstützten, damit sie möglichst wenig an Gewicht verlieren, gilt es die Ursache zu bekämpfen. Neben der onkologischen Therapie kann zum Beispiel auch ein Stent oder eine Operation dazu beitragen, bei gastrointestinalen Tumoren die Passage wieder zu ermöglichen. Auch ein Ernährungsplan mit häufigen kleinen Mahlzeiten und gegebenenfalls eine Ergänzungsnahrung können helfen, den Kalorienbedarf zu decken und das Körpergewicht der Tumorpatienten zu erhalten. Auch nach der Therapie sollte auf ein stabiles Gewicht geachtet werden, ergänzte der Onkologe; eine deutliche Gewichtszunahme erhöht bei Patientinnen mit einem Mammakarzinom das Risiko eines Rezidivs.
Appetitsteigerung unterstützen
Es gibt kein Wundermittel, mit dem sich der Appetit steigern liesse, aber im Einzelfall kann in palliativen Situationen (Lebenserwartung Wochen) Kortison (Dexamethason 4 mg) das Wohlbefinden vorübergehend steigern. Aber wenn der Patient nach 5 bis 7 Tagen keine positive Wirkung verspürt, sollte man es auch in dieser Situation wieder absetzen. Bei Tumor-
kachexie kann gegebenenfalls Medroxyprogesteron (Farlutal® 1000 mg) eine Option darstellen; bis zum Einsetzen der Wirksamkeit brauche es jedoch 1 bis 2 Wochen, so der Experte. Zu beachten sind in der prothrombogenen Situation der Tumorpatentienten ausserdem Thromboembolien sowie potenzielle Interaktionen. Auch Dronabinol (Cannabis) kann gegebenenfalls zur Appetitsteigerung und Schmerzlinderung beitragen; es bedarf dafür allerdings einer Ausnahmebewilligung.
Mit Bewegung gegen Fatigue
Das häufigste Symptom bei Tumorpatienten ist die Fatigue. Mehr als 40 Prozent leiden bereits bei Diagnosestellung darunter und mehr als 80 Prozent während der Therapie – und oft auch darüber hinaus. Die Pathogenese ist unklar; möglicherweise steckt eine inflammatorische Reaktion dahinter. Anzeichen sind ein Leistungsknick oder vermehrter Schlafbedarf – differenzialdiagnostisch sollten eine Depression und somatische Störungen wie zum Beispiel eine Anämie, eine Herzinsuffizienz oder eine COPD ausgeschlossen werden. Nach dem Ausschluss weiterer Ursachen (Kontrolle der Schilddrüsenfunktion, NNR-Insuffizienz, kardiale oder psychische Ursachen usw.) sollte der Tagesablauf organisiert werden; ein regelmässiger Schlafrhythmus und Zwischenpausen, allenfalls ein früher Mittagsschlaf, können hilfreich sein. Proteinreiche, häufige, kleine Mahlzeiten und die Abdeckung des Kalorienbedarfs können sich günstig auswirken. Mind-Body-Interventionen (z. B. Meditation, Yoga usw.) sowie Bewegung sind weitere Ansätze, etwas gegen Fatigue zu unternehmen. Bewegung ist zu jedem Zeitpunkt prognostisch günstig und auch vorbeugend zu empfehlen. Dabei reicht es, täglich mit gutem Schritt zu gehen (ca. 150 Minuten/Woche gemäss WHO). Belegt ist der Nutzen zum Beispiel für Patienten mit einem Prostata-, Mamma- oder Kolonkarzinom (2, 3). Bei Ersterem konnte mit zügiger Bewegung während mehr als 7 Stunden pro Woche eine Senkung der Mortalität erzielt werden. Um die Patienten zu motivieren, sollten sie über die positiven Auswirkungen auf ihre Prognose orientiert sein. Oft hilft dabei auch die Tatsache, selbst etwas machen und beisteuern zu können. Den Einstieg in vermehrte Aktivität könne eine medizinische Trainingstherapie erleichtern und weiter unterstützen, und die Definition
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Tabelle:
Empfohlene Impfungen bei Diagnose einer malignen Erkrankung
Impfung
Anzahl Dosen
(Altersrestriktion)
PCV
1
(≥ 5 Jahre)
Off-label ≥ 5 Jahre
Inaktivierte quadrivalente 1
Influenzaimpfung
(≥ 6 Monate)
RZV (Shingrix®)
2
(≥ 18 Jahre)
MCV-ACWY
4
– (2–6 Monate)
2
– (≥ 7 Monate)
4CMenB (Bexero®)
– (2–11 Monate)
3
– (12–23 Monate)
3
– (≥ 24 Monate)
2
Off-label ausserhalb
von Alter 11–24 Jahre
Zeitpunkt der Impfung
Bei Diagnose und vor Therapiebeginn (idealerweise > 2 Wochen) oder spätestens unter Erhaltungstherapie Jährlich vor oder während Influenzasaison
Bei Diagnose und vor Therapiebeginn (idealerweise > 2 Wochen) oder spätestens unter Erhaltungstherapie Bei Diagnose und vor Therapiebeginn (idealerweise > 2 Wochen) oder spätestens unter Erhaltungstherapie
PCV: konjugierter Pneumokokkenimpfstoff, RZV: rekombinanter Zosterimpfstoff, MCV-ACWY: konjugierter Meningokokkenimpfstoff, 4CMenB: rekombinanter Impfstoff gegenüber Meningokokken der Gruppe B Orange hinterlegte Impfungen sind nur für Personen mit absehbarer therapiebedingter anatomischer oder funktioneller Asplenie indiziert. Quelle: adaptiert nach (4)
machbarer Ziele unter Einbezug der Angehörigen tue ein Übriges, so Delaloye.
Krebs und Therapie dämpfen das Immunsystem
Aber auch das Immunsystem gilt es im Auge zu behalten, denn die onkologische Therapie erhöht das Risiko für Infektionen beziehungsweise für die Komplikationen derselben, insbesondere durch eine Neutropenie oder eine Lymphozytopenie. Auch die Reaktivierung von chronischen Infektionen wie beispielsweise mit Varicella-zoster-, Hepatitis-B- oder Zytomegalievirus kommt häufiger vor. Zudem kann die Immunantwort auf vorherige Impfungen nichtig geworden sein, insbesondere im Rahmen einer Hochdosischemotherapie. Während einer Therapie kann das Ansprechen auf eine Impfung ausbleiben. Daher ist es umso wichtiger, vor Therapiebeginn allfällige Impflücken zu schliessen.
Impfempfehlung vor Beginn der Therapie
Dafür bedarf es einer Anamnese hinsichtlich chronischer/ wiederkehrender Infektionen (z. B. mit Herpes-simplex- oder Varicella-zoster-Virus, Hepatitiden usw.) im Zweifel kann eine Serologie bei der Einschätzung der Immunsituation weiterhelfen (HBV/HCV/HIV). Der Impfstatus sollte überprüft werden, und allfällig fehlende Impfungen sollten nachgeholt werden (siehe auch Tabelle). Haben die Patienten weniger als 2 dokumentierte Dosen einer Impfung gegen Masern oder Varizellen erhalten, sollte auch hier eine Serologie gemacht werden, wie der Onkologe anmerkte. Saisonale Impfungen (Influenza, SARS-CoV-2) sollten bedacht werden, und auch die Angehörigen sollten beraten und gegebenenfalls geimpft werden. Eine klare Empfehlung gibt es für Impfungen gegen Pneumokokken, Influenza und das Varizella-zoster-Virus. Mit Shingrix® zum Beispiel kann man Patienten mit maligner
Erkrankung, die vor allem bei ausgeprägt zytotoxischer Therapie Lymphozyten verlieren und häufig einen Zoster entwickeln, eine medikamentöse Prophylaxe mit Valaciclovir ersparen. Während einer Therapie sind Lebendimpfstoffe kontraindiziert; ansonsten gelten die gleichen Impfempfehlungen wie vor Therapiebeginn, falls es vorher nicht mehr gereicht hat. Idealerweise erfolgt eine Impfung kurz vor dem nächsten Therapiezyklus und bei Lymphozyten > 1000 G/l. Zudem sind inaktivierte Impfstoffe, wie zum Beispiel die erwähnte Impfung gegen Herpes zoster, möglich (ggf. mit Kontrolle des Titers nach 4 Wochen oder einem Booster nach Abschluss der Therapie). Die Verabreichung von inaktivierten Impfstoffen ist jedoch frühestens 3 Monate nach Beendigung der konventionellen, zytotoxischen Chemotherapie/Radiotherapie angeraten. Eine Impfung mit attenuierten Lebendimpfstoffen sollte frühestens ein halbes Jahr nach Abschluss der Therapie erfolgen.
Auch an die Angehörigen denken
Zu den Impfempfehlungen für die Angehörigen zählen die
Impfungen gegen Influenza/SARS-CoV-2 sowie gegen Ma-
sern (MMR), sofern eine solche bislang nicht erfolgt ist. Bei
einer negativen Anamnese für Windpocken sollte eine Imp-
fung gegen Varizellen empfohlen werden.
s
Christine Mücke
Quelle: Vortrag «Supportive Therapie in der Onkologie, Fokus auf Impfungen, Ernährung und Bewegung» von Dr. med. Raphaël Delaloye, Kantonsspital Baden, am FOMF-Update-Refresher Allgemeine Innere Medizin am 26.01.2023 in Basel
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Referenzen: 1. American Institute for Cancer Research 2018 2. Kenfield SA et al.: Physical activity and survival after prostate cancer dia-
gnosis in the health professionals follow-up study. J Clin Oncol. 2011;29(6):726-732. 3. Schmid D, Leitzmann MF: Association between physical activity and mortality among breast cancer and colorectal cancer survivors: a systematic review and meta-analysis. Ann Oncol. 2014;25(7):1293-1311. 4. Empfehlung zur Impfung von Personen mit malignen Erkrankungen und deren Haushaltskontakte, BAG-Bulletin 20, 2022
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