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FORTBILDUNG
Bei niedriger alkalischer Phosphatase an Hypophosphatasie denken!
Eine erhöhte alkalische Phosphatase findet als Hinweis auf Leber- und Gallenwegserkrankungen, Vitamin-D-Mangel oder Knochentumoren regelmässig Beachtung. Einer erniedrigten AP wird oft keine besondere Bedeutung zugemessen – zu Unrecht! Eine Erniedrigung der AP findet sich bei Hypothyreose, Anämie, chronisch myeloischer Leukämie, Zinkmangel, hormonellen Verhütungsmitteln, aber auch bei einigen seltenen Erkrankungen wie der Hypophosphatasie.
Christina Lampe
Kasuistik: Gelenkschmerzen und Schwäche
Eine 45-jährige Frau stellt sich mit generalisierten Muskelund Gelenkschmerzen sowie einer zunehmenden Abgeschlagenheit vor. Sie sei sehr sportlich und würde gewöhnlich mit ihrer Familie an den Wochenenden zum Wandern oder Mountainbiking gehen und Aktivurlaube machen. Dies sei mittlerweile jedoch nicht mehr möglich. Sie gibt an, schon verschiedene Fachärzte aufgesucht zu haben, allerdings seien die rheumatologische, orthopädische, endokrinologische und gastroenterologische Diagnostik (HLA [humanes leukozytenantigen] positiv) unauffällig gewesen. An Diagnosen gibt sie einen M. Bechterew, eine Sakroiliitis und eine Spondylarthritis an. Die weitere Anamnese ergibt, dass sie seit ihrem 4. Lebensjahr an Gelenkschmerzen leidet, weswegen die Diagnose M. Bechterew gestellt wurde. Sie habe zudem oft an Bauchschmerzen gelitten und mehrere Kuraufenthalte wegen einer Gedeihstörung gehabt. Darüber hinaus habe sie sich in der Kindheit mehrfach Frakturen ohne adäquates Trauma zugezogen, beispielsweise beidseitige Mittelhandfrakturen beim Herausstemmen aus dem Schwimmbecken mit 12 Jahren, eine Tibiafraktur mit 13 Jahren und eine Radiusfraktur mit 15 Jahren. Die Patientin befindet sich in regelmässiger rheumatologischer Kontrolle; die Vorstellung im Zentrum für seltene Erkrankungen erfolgte aufgrund einer erniedrigten alkalischen Phosphatase (AP).
MERKSÄTZE
� Eine erniedrigte alkalische Phosphatase kann mit einer verminderten Knochenmineralisierung einhergehen.
� Bei Erwachsenen mit Hypophosphatasie (HPP) wird die Diagnose im Schnitt nach ca. 10 Jahren gestellt.
� Die Vererbung einer HPP kann autosomal rezessiv und dominant erfolgen.
� Symptome einer HPP sind v. a. Muskel-/Gelenkschmerzen und Frakturen ohne adäquates Trauma.
� Bei Erkrankungsbeginn vor dem 18. Lebensjahr steht eine Enzymersatztherapie (Asfotase alfa) zur Verfügung.
Ätiologie
Die AP ist das katalysierende Enzym bei der Knochenmineralisierung: Sie dephosphoryliert anorganisches Pyrophosphat (PPi) zu anorganischem Phosphat (Pi). Dieses bildet dann zusammen mit Kalzium Hydroxylapatitkristalle, die die Bausteine von Knochen und Zähnen darstellen. Eine geringe AP-Aktivität führt demnach zu einer verminderten Knochenmineralisierung. Zudem akkumuliert PPi, welches ein starker Inhibitor der Knochenmineralisierung ist (2, 3). Im Nervengewebe dephosphoryliert die AP das phosphorylierte Vitamin B6 (Pyridoxalphosphat) zu Vitamin B6, sodass es die Blut-Hirn-Schranke überwinden kann. Somit sind bei erniedrigter AP Vitamin-B6-abhängige Krampfanfälle möglich, und es kann zu einer Störung der Hirnreifung kommen (1). Wichtig: Die AP ist alters- und geschlechtsabhängig. Normwerte sind im Kindes- und Jugendalter deutlich höher als im Erwachsenenalter. Die meisten Labore geben nur die Normwerte für Erwachsene an – diese müssen alterskorrigiert werden. Die Hypophosphatasie (HPP) ist eine seltene, erblich bedingte Mineralisierungsstörung des Knochens. Es werden unterschiedliche Schweregrade beschrieben, deren Übergänge jedoch fliessend sind (Tabelle 1). Bei der infantilen Form der HPP sind die betroffenen Säuglinge schwer krank. Die Kinder zeigen Skelettdeformitäten, eine Lungenhypoplasie, Ateminsuffizienzen sowie eine Gedeihstörung im Alter von weniger als 6 Monaten. Hauptsymptome der juvenilen und adulten Form der HPP sind Zahnverlust, Skelettdeformitäten, Frakturen ohne adäquates Trauma, verzögerte Frakturheilung sowie Muskel- und Gelenkschmerzen. Bei Erwachsenen mit einer juvenilen oder adulten Form wird die Diagnose mit einer durchschnittlichen Verzögerung von etwa 10 Jahren nach Auftreten erster Symptome gestellt (6) (Symptome siehe Tabelle 2).
Vererbung und Prävalenz
Aufgrund eines Gendefekts auf dem ALPL-Gen wird unzureichend AP gebildet. Es sind etwa 400 Mutationen bislang beschrieben. Die Vererbung kann autosomal rezessiv oder dominant erfolgen, die Prävalenz liegt bei 1:100 000 bis 1:300 000 (5).
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FORTBILDUNG
Tabelle 1:
Klinische Formen der Hypophosphatasie (HPP; mod. nach [7])
Klinische Form Perinatale Form der HPP Infantile Form der HPP Junvenile Form der HPP Adulte Form der HPP Sonderform: Odontohypophosphatasie Sonderform: perinatal gutartige HPP
Alter bei Auftreten erster Zeichen/Symptome In utero und bei der Geburt < 6 Monate ≥ 6 Monate bis 18 Jahre ≥ 18 Jahre Jedes Alter Einzig Erkrankung der Zähne In utero Postnataler Verlauf alle Formen möglich Prognose intrauterin/perinatal infaust Prognose infaust oft im 1. Lebensjahr 50 % der Kinder versterben (häufigste Todesursache: respiratorisches Versagen) Manchmal spontan deutliche Besserung (besonders bei Überleben des Säuglingsalters) Verbesserung bei Schluss der Wachstumsfugen möglich Skelettale Beschwerden können im Erwachsenenalter wieder auftreten Wiederkehrende und anhaltende orthopädische Beschwerden Oft progressiv und beeinträchtigend Uneingeschränkt Langzeitverlauf/Prognose unklar Tabelle 2: Weitere Symptome und Organbeteiligung der Hypophosphatasie (HPP; adaptiert nach [4]) Knochen Pseudo- oder Insuffizienzfrakturen Verzögerte Frakturheilung Osteomalazie Knochenmarködeme Gelenke Chondrokalzinose Tendinosis calcarea Pseudogicht Arthritis Muskulatur Muskelschmerzen und Schwäche Schnelle Ermüdbarkeit Myogelosen Zähne Vorzeitiger Milchzahnverlust (mit Wurzel) Karies/Parodontose Niere Nephrokalzinose Nierensteine Nierenfunktionsstörungen Atemwege Respiratorische Insuffizienz Lungenhypoplasie (infantile Form) Verdauungssystem Stuhlunregelmässigkeiten Meteorismus Unverträglichkeiten Zentralnervensystem Zephalgie/Migräne Ängstlichkeit/Nervosität/Depression Vitamin-B6-abhängige Krampfanfälle Kraniosynostose Diagnostik Der erste Hinweis auf das Vorliegen einer HPP ist – neben den klinischen Symptomen – die erniedrigte alterskorrigierte AP, welche im Routinelabor bestimmt werden kann. Hinzu kommen ein erhöhtes aktiviertes Vitamin B6 (Pyridoxalphosphat) und eine erhöhte Ausscheidung des Metaboliten Phosphoethanolamin im Urin; entsprechende Untersuchungen werden meist nur in Speziallaboren angeboten. Die Diagnose wird dann genetisch bestätigt (4). Therapie Da es sich bei der HPP um eine Multisystemerkrankung handelt, sind verschiedene Fachdisziplinen notwendig. Optimal ist eine Betreuung durch ein Spezialzentrum. Es sind regelmässige Verlaufskontrollen sowie symptomatische Therapien notwendig. Hierzu gehören Physiotherapie, Sport, Orthetik, Analgetika, gegebenenfalls chirurgische Korrekturen/Endoprothetik, regelmässige zahnmedizinische Kontrollen und Massnahmen sowie osteologische Medikation (mit Ausnahme von Bisphosphonaten). Bei der infantilen und juvenilen Form der HPP ist eine Enzymersatztherapie mit Asfotase alfa subkutan mit 6 mg/kg Körpergewicht/Woche in Einzeldosen zur Behandlung der Knochenbeteiligung erhältlich (4). Zurück zum Fallbeispiel Die Patientin zeigte ein erhöhtes Pyridoxalphosphat im Blut sowie eine erhöhte Ausscheidung von Phosphoethanolamin im Urin. Die genetische Untersuchung zeigte eine heterozygote Mutation des ALPL-Gens. Bei der Stammbaumanalyse ergibt sich, dass ihre 67-jährige Mutter an einer schweren therapierefraktären Osteoporose mit massiven Schmerzen, mehreren Wirbelkörperdeckplatteneinbrüchen und einer schlecht heilenden Rippenfraktur (durch Hinüberlehnen über die Mittelkonsole ihres Fahrzeugs) leidet. Sie hat ebenfalls eine Handgelenkfraktur ohne adäquates Trauma erlitten. Auch bei ihr wurden laborchemisch eine erniedrigte AP sowie die Erhöhung des Pyridoxalphosphats und der Phosphoethanolaminausscheidung im Urin gefunden. Die genetische Untersuchung zeigte die gleiche Genveränderung wie bei ihrer Tochter. ARS MEDICI 4 | 2024 89 FORTBILDUNG Auch bei dem 12-jährigen Sohn konnte die Diagnose genetisch gesichert werden. Der Bruder der Patientin war nicht betroffen. Wichtig: Die HPP kann autosomal dominant vererbt werden, sodass eine Stammbaumanalyse unerlässlich ist. Bei allen 3 betroffenen Familienmitgliedern wurde mit Asfotase alfa begonnen. Bei allen zeigten sich deutliche Verbesserungen der Symptomatik mit Abnahme der Schmerzmedikation, eine gesteigerte Ausdauer und eine deutliche Zunahme der Lebensqualität. Die Patienten werden regelmässig alle 6 Monate in einem Spezialzentrum vorstellig, um die Organmanifestationen zu kontrollieren. Fazit s Die HPP ist eine seltene, angeborene und genetisch be- dingte Knochenmineralisierungsstörung, die aber auch andere Organsysteme involviert. s Typische Symptome sind Muskel- und Gelenkschmerzen, Frakturen ohne adäquates Trauma oder schlecht heilende Frakturen. s Die diagnostischen Hinweise sind vor allem eine ernied- rigte AP im Blut, die alterskorrigiert werden muss. Die Bestätigung der Diagnose erfolgt über eine Genanalyse des ALPL-Gens. s Neben der symptomatischen Therapie steht für Patienten mit der infantilen und juvenilen Form (Erkrankungsbe- ginn vor dem 18. Lebensjahr) eine Enzymersatztherapie mit Asfotase alfa zur Verfügung, um die Knochenbeteili- gung zu behandeln. s Dr. med. Christina Lampe Fachärztin für Chirurgie Universitätsklinikum Giessen Zentrum für seltene Erkrankungen Klinik für Kinderneurologie, Epileptologie und Sozialpädiatrie D-35392 Giessen Interessenlage: Die Autorin hat keine Interessenkonflikte deklariert. Dieser Artikel erschien erstmals in «doctors today» 3/23. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autorin. Literatur: 1. Jandl NM et al.: Hypophosphatasie – eine klinisch und genetisch variable Erkrankung. medgen. 2019;31:364-371. 2. Millán JL, Plotkin H: Hypophosphatasia – pathophysiology and treat- ment. Actual osteol. 2012;8(3):164-182. 3. Rockman-Greenberg C: Hypophosphatasia. Pediatr Endocrinol Rev. 2013;10 Suppl 2:380-388. 4. Seefried L et al.: Therapie der Hypophosphatasie. Osteologie. 2020;29:275-282. 5. Mornet E: Hypophosphatasia. Metabolism. 2018;82:142-155. 6. Högler W et al.: Diagnostic delay is common among patients with hypo- phosphatasia: initial findings from a longitudinal, prospective, global registry. BMC Musculoskelet Disord. 2019;20(1):80. 7. Beck C et al.: Hypophosphatasie. Klin Padiatr. 2009;221(4):219-226.