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Titel
Neurologie – Intellektuelle ärztliche Leistung im Vergleich zu Rechtsanwälten unterbezahlt
Untertitel
Dr. med. Thomas Dorn Chefarzt Zurzach Care Rehaklinik Sonnmatt Luzern
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Rückblick 2023 / Ausblick 2024
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77104
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RÜCKBLICK 2023 / AUSBLICK 2024

Neurologie
Dr. med. Thomas Dorn Chefarzt Zurzach Care Rehaklinik Sonnmatt Luzern
Intellektuelle ärztliche Leistung im Vergleich zu Rechtsanwälten unterbezahlt
Welche neuen Erkenntnisse des abgelaufenen Jahres in Ihrem Fachgebiet fanden Sie besonders spannend?
Wenn Patienten in der Neurorehabilitation mit dem Schicksal einer chronischen, fortschreitenden Erkrankung hadern und sich fragen, warum gerade sie von dieser Krankheit betroffen sind, raten wir Ärzte ihnen üblicherweise, nach vorne zu schauen und sich nicht mit derartigen Fragen zu beschäftigen. Für den wissenschaftlichen Fortschritt allerdings müssen solche Fragen gestellt werden. Denn die Antworten darauf können von grosser Bedeutung sein, um Krankheiten wirksamer zu behandeln oder ihnen gar vorbeugen zu können. Beispiel hierfür könnten neueste Erkenntnisse in der Erforschung der Pathogenese der Multiplen Sklerose (MS) sein. (Virus-)Infektionen werden seit Jahrzehnten und immer wieder als Auslöser von Autoimmunerkrankungen und damit auch der MS diskutiert. Bereits 1962 berichteten Adams und Imagawa (1) über höhere Masernantikörpertiter bei MSPatienten als bei «gematchten» Kontrollen ohne MS. Bis anhin konnte dafür aber kein sicherer Beweis erbracht beziehungsweise keine pathogenetische Kaskade identifiziert werden. Anders scheint dies beim Epstein-Barr-Virus (EBV) zu sein, das 1981 erstmals mit MS in Verbindung gebracht wurde. In den letzten Jahren wurden sorgfältig durchgeführte epidemiologische Studien publiziert und auch im Labor Hypothesen zur Pathogenese generiert, die dem EBV eine entscheidende Bedeutung bei der Entstehung einer MS zuweisen und erklären, warum B-Lymphozyten-depletierende Therapien bei der vor allem durch zytotoxische CD8-T-Lympozyten vermittelten destruierenden Entzündung im ZNS wirksam sind. Das EBV scheint bei entsprechend (genetisch) disponierten Patienten in der Lage zu sein, ins ZNS eindringende B-Lymphozyten dauerhaft zu infizieren, die dann dort eine dysregulierte T-Zell-Antwort provozieren, die das Hirngewebe angreift. So kommt die Hoffnung auf, dass eine Impfung gegen EBV einer MS vorbeugen kann, sofern die Impfung nicht selbst über eine Mimikry zur Aktivierung der aggressiven CD8-Zellen führt. Diese Erkenntnisse und Ausblicke wurden kürzlich publiziert (2). Die Entwicklung eines Impfstoffs gegen EBV, das ja auch epitheliale und lymphoide Malignome verursachen kann, gestaltet sich allerdings noch schwierig (3).

Wurden 2023 in Ihrem Fachbereich Medikamente zugelassen, die die Therapie erheblich verbessern?
Leider kann ich für 2023 keine neu zugelassenen Pharmaka erkennen, die die Progression von Parkinson-Syndromen stoppen oder die Prognose von hirneigenen Tumoren, insbesondere von Glioblastomen, signifikant verbessern können. Auch bei anderen neurologischen Erkrankungen sehe ich keine neu zugelassenen Medikamente, die deren Verlauf deutlich besser abmildern können als die bisher zur Verfügung stehenden Optionen. Im Bereich der symptomatischen Therapie von Epilepsien wurde als anfallsupprimierendes Medikament (ASM) 2023 neu Cenobamat (Ontozry®) zugelassen, das einen neuartigen, sogenannten dualen Wirkmechanismus hat: Einerseits wirkt es agonistisch am GABAA-Rezeptor-Chloridkanal-Komplex und verstärkt so die neuronale Erregung hemmenden Chloridströme – und dies nicht über die Benzodiazepinbindungsstelle. Andererseits verstärkt es die Inaktivierung des Natriumkanals und hemmt die persistente Komponente des Natriumstroms, was ebenfalls die neuronale Aktivität hemmt (4). Auch wenn die Kombination dieser beiden Mechanismen neuartig ist, sind natürlich Chlorid- und Natriumkanäle die Wirkorte vieler anderer und zum Teil auch schon sehr alter ASM. Allerdings können wir von dem Medikament vielleicht doch eine gute Wirksamkeit beziehungsweise vereinzelt Anfallfreiheit bei Patienten erwarten, die gegenüber mehreren anderen ASM resistent sind (5). Allerdings ist zu beachten, dass Cenobamat CYP3A4 und CYP2B6 induziert sowie CYP2C19 und den Anionentransporter OAT3 hemmt, sodass pharmakokinetische Wechselwirkungen mit vielen anderen ganz unterschiedlichen Medikamenten, darunter auch andere ASM, zu erwarten sind, die zu Anpassungen von deren Dosierungen zwingen können. Ein entsprechendes therapeutisches Drug Monitoring sollte – dort, wo technisch möglich – erfolgen, um das interindividuell sehr unterschiedliche Ausmass der Interaktionen als Grundlage für Dosisanpassungen der Begleitmedikamente abschätzen zu können.
Was hat Sie am meisten gefreut?
In der Neurehabilitation begegnet man glücklicherweise sehr oft Patienten, deren Störungsbild sich unter den verschiedenen Therapien erheblich verbessert. Und bei manchen kann man ganz erstaunliche und erfreuliche Entwicklungen beobachten – so wie bei einer 81-jährigen Patientin, die durch kardial-embolische (im Sinne eines Vorhofflimmerns) bedingte Infarkte im Versorgungsgebiet der Arteria cerebri media links sowie beider Arteriae cerebri anteriores aus einem noch sehr aktiven Leben gerissen wurde. Leider war aufgrund der Wake-up-Konstellation und eines grossen Infarktkerns sowie einer sichtbaren Infarktdemarkation keine systemische Thrombolyse oder Thrombektomie möglich. Bei Eintritt in die Rehabilitation waren bei allen Transfers 1 bis 2 Hilfspersonen erforderlich; die Patientin benötigte ausserhalb des Bettes einen Pflegerollstuhl, eine sprachliche Verständigung war nicht möglich, und die Ernährung und die Applikation der Medikation erfolgten ausschliesslich über eine PEG-

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Sonde. Bei Austritt nach mehrmonatigem Aufenthalt konnten alle Transfers unter Supervision selbstständig durchgeführt werden, die Patientin konnte in Begleitung einer Hilfsperson Arm in Arm bis zu 250 m gehen und mit leichter Hilfe und am Geländer eine Stockwerktreppe hoch und runter bewältigen. Zudem konnten im situativen Kontext sprachliche Äusserungen und häufig verwendete Wörter beim Lesen verstanden werden, die Patientin konnte pürierte und weiche Speisen sowie eingedickte Flüssigkeiten und die Medikation gemörsert unter Supervision, unter anderem durch den sehr engagierten Ehemann, wieder oral zu sich nehmen. Die PEG war jedoch nach wie vor zur Sicherstellung einer ausreichenden Nahrungszufuhr erforderlich. Von einem wirklichen Verständnis der hinter einer solchen Erholung stehenden neurobiologischen Prozesse, die oft mit dem Begriff «neuronale Plastizität» umschrieben werden, sind wir jedoch weit entfernt. So gibt es bis anhin auch keine pharmakotherapeutischen Optionen, um die Erholung zusätzlich zu den klassischen Therapien mit repetitivem intensiven Üben zu beschleunigen. Diverse elektrische oder magnetische Stimulationsverfahren werden indessen schon seit vielen Jahren untersucht, ohne allerdings zum fixen Bestandteil der Neurorehabilitation geworden zu sein. Als Beispiel sei eine Studie aus der Schweiz erwähnt, in der der Einfluss der sogenannten Theta-Burst-Stimulation auf eine Apraxie untersucht wurde (6). Wahrscheinlich waren bei der vorgestellten Patientin aber auch ihre grosse Motivation beziehungsweise ihre Persönlichkeit sowie das liebevolle und konstruktive Engagement ihres Ehemannes, das auch bei meinem Team und mir zur Freude beitrug, neurobiologisch positiv wirksam. Als Vorstandsmitglied der Swiss Society for Health in Intellectual Disability (SSHID) habe ich mich zudem darüber gefreut, dass unsere Gesellschaft nun Partner von SwissITHACA – network for «Rare malformation syndromes, intellectual and other neurodevelopmental disorders» wird. Dies ist ein von der Schweizerischen Gesellschaft für Medizinische Genetik initiiertes Netzwerk, das sich an entsprechende europäische Referenznetzwerke (ERN) anlehnt und sich für die weitere Erforschung seltener, genetisch bedingter Erkrankungen einsetzt, die mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung einhergehen. Bei einem beträchtlichen Teil der von einer intellektuellen Behinderung Betroffenen dürften nämlich seltene pathogene Genvarianten in ganz unterschiedlichen Genen vorliegen – ein Aspekt, der bis anhin von den Akteuren im Bereich seltener Erkrankungen eher ausgeblendet wurde. Das ändert sich nun hoffentlich, was auch zur Verbesserung der medizinischen Versorgung der betroffenen Patienten beitragen sollte. Diese ist in der Schweiz nämlich längst nicht den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechend flächendeckend gesichert.
Und was hat Sie am meisten geärgert?
Da gibt es eine klare Antwort: Es sind dies die Entwicklungen in der Tariflandschaft, in der meines Erachtens apparativtechnische ärztliche Leistungen im Vergleich zu den klassi-

schen ärztlichen Aufgaben, das heisst der sorgfältigen Erhebung von Anamnese und Befund, der Erfassung einer langen komplexen Krankengeschichte und der Kommunikation der daraus zu ziehenden Konsequenzen in puncto weiterer Diagnostik und Therapie, deutlich überbewertet sind – mit entsprechenden Fehlanreizen für die Weiterentwicklung der medizinischen Versorgungsstrukturen. Wir Ärzte werden im Gegensatz zu einem Rechtsanwalt für unsere intellektuelle Arbeit, die ebenfalls auf einem langen Studium, einer Weiterbildung und einer kontinuierlichen Fortbildung aufbaut und auch künftig aufbauen muss, keineswegs adäquat entlohnt. Diese Leistungen werden lediglich durch Erträge im apparativ-technischen Bereich oder den Verkauf von Medikamenten «querfinanziert».

Was ist Ihre wichtigste «Message» für die Kolle-

ginnen und Kollegen in der Hausarztpraxis?
Da möchte ich am gerade Gesagten anknüpfen. Die auch von

der Politik zumindest wahrgenommene Krise in der Hausarzt-

medizin gründet meines Erachtens teilweise auf den fehlent-

wickelten Tarifsystemen. So sollten künftig vielleicht die Haus-

ärztinnen und Hausärzte nach Synergien mit denjenigen

Kolleginnen und Kollegen anderer Disziplinen suchen, die

ebenfalls mehr mit ihren Sinnen, ihrem Kopf und der Sprache

als mit Maschinen und in Operationssälen arbeiten und die

vor allem mit der Betreuung von chronisch kranken und poly-

morbiden Patienten befasst sind – so wie ein grosser Teil von

uns Neurologinnen und Neurologen. Die Trennung in Haus-

ärzte beziehungsweise Grundversorger auf der einen und Spe-

zialisten auf der anderen Seite ist für die Bewältigung der ak-

tuellen Herausforderungen nicht mehr zielführend. Aber – um

nicht missverstanden zu werden – als naturwissenschaftlich

fundiert arbeitender Neurologe schätze ich nach wie vor die

Arbeit der Kollegen sehr, die die segensreichen technisch-ap-

parativen Prozeduren in Diagnostik und Therapie beherrschen

und zum Wohle unserer Patienten einsetzen. Es braucht beides,

um den medizinischen Fortschritt weiter an jedes Patientenbett

zu bringen.

s

Literatur: 1. Adams JM, Imagawa DT: Measles antibodies in multiple sclerosis. Proc
Soc Exp Biol Med. 1962; 111:562-566. doi:10.3181/00379727-111-27855. 2. Aloisi F et al.: Epstein-Barr virus as a cause of multiple sclerosis: oppor-
tunities for prevention and therapy. Lancet Neurol. 2023;22(4):338-349. doi: 10.1016/S1474-4422(22)00471-9. 3. Sun C et al.: A gB nanoparticle vaccine elicits a protective neutralizing antibody response against EBV. Cell Host Microbe. 2023;31(11):1882-1897. e10. doi:10.1016/j.chom.2023.09.011. 4. Fachinformation Ontozry®, www.compendium.ch; letzter Zugriff 18.12.2023. 5. Lattanzi S et al.: Third-Generation Antiseizure Medications for Adjunctive Treatment of Focal-Onset Seizures in Adults: A Systematic Review and Network Meta-analysis. Drugs. 2022;82(2):199-218. doi:10.1007/ s40265-021-01661-4. 6. Pastore-Wapp M et al.: Improved gesturing in left-hemispheric stroke by right inferior parietal theta burst stimulation. Front Neurosci. 2022;16:998729. doi: 10.3389/fnins.2022.998729.

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