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Interdisziplinäre suchtmedizinische Versorgung
Neues Angebot für Menschen mit problematischem Anabolikakonsum
In der Schweiz konsumieren geschätzt über 200 000 Menschen Anabolika. Die körperlichen und psychischen Folgen sind vielfältig und können fatal sein. Eine Abhängigkeitsentwicklung ist häufig; ein Drittel der Konsumenten verfällt in einen chronischen Konsum beziehungsweise wird abhängig. Aufhören ist schwierig, und den Betroffenen sollte eine integrative suchtmedizinische Versorgung zugänglich gemacht werden.
Raphael Magnolini1,2, Philip Bruggmann1,2
Die von den modernen Medien propagierten Körperbilder mit schlanken und muskulösen Körpern kommen in der Natur selten vor. Solche Körpermasse sind mit Ernährung und Bewegung, welche gemäss aktuellen medizinischen Empfehlungen als «gesunder Lebensstil» gelten, kaum zu erreichen. In der heutigen Lebensweise, in der immer weniger Zeit für sportliche Betätigung bleibt, setzen sich Anabolika als bequeme und schnell verfügbare Möglichkeit durch, um persönlichen Schönheitsidealen oder Leistungserwartungen nachzueifern. Psychische Komorbiditäten, wie Muskeldysmorphie oder ADHS, können den Konsum von Anabolika begünstigen und aufrechterhalten (1).
Oft nicht zugelassene Substanzen oder Off-label-Verwendung
Anabolika gehören zu den form- und leistungsfördernden Substanzen (image and performance enhancing drugs, kurz IPED). IPED sind eine breite Gruppe von über 100 verschiedenen Substanzen aus verschiedenen Substanzgruppen, die von den Konsumenten in nicht evidenzbasierten Anwendungsschemata kombiniert werden (1, 2). Diese Substanzen umfassen sowohl zugelassene (oder ehemalig zugelassene) pharmazeutische Arzneimittel, die für die Anwendung am Menschen entwickelt wurden oder sich noch in der klinischen Testphase befinden, als auch Produkte aus der Veterinärmedizin sowie synthetische Designersubstanzen, welche bisher nicht getestet wurden. Zugelassene Medikamente werden weiter oft im Off-label-Bereich angewendet. Bei der Vielfalt von nicht zugelassenen Substanzen und «off-label» verwendeten Präparaten ist es nicht verwunderlich, dass Ärzte ohne spezifische Kenntnisse über diese Konsumarten bei der Betreuung der Betroffenen im Gesundheitswesen oft überfragt sind. Die Beschaffung der Substanzen erfolgt meist über den Schwarzmarkt, mit entsprechenden Risiken bezüglich In-
1 Arud Zentrum für Suchtmedizin, Zürich 2 Institut für Hausarztmedizin, Universität und Universitätsspital
Zürich
haltsstoffen und Qualität sowie unerwarteten negativen Gesundheitsrisiken für die Betroffenen (3). Form- und leistungssteigernde Substanzen werden üblicherweise mit verschiedenen Zielsetzungen eingenommen, zum Beispiel um die Muskelmasse zu erhöhen, den Appetit zu unterdrücken oder das Gewicht zu reduzieren, das Aussehen von Haar oder Haut zu verändern, das sexuelle Verlangen und die sexuelle Leistungsfähigkeit zu steigern, die kognitive Funktion zu steigern und die Stimmung oder soziale Interaktion zu verbessern (4, 5). Im Leistungssport wird der Einsatz von leistungsfördernden Substanzen (PED) Doping genannt (6). Zu den Anabolika gehören anabole androgene Steroide (die am häufigsten angewendeten Substanzen), das menschliche Wachstumshormon (human growth hormone, hGH), der insulinähnliche Wachstumsfaktor-1 (insulin-like growth factor 1, IGF-1) und ähnliche Peptide, das Insulin sowie sogenannte selektive Androgenrezeptormodulatoren (SARM). Die Applikation erfolgt meist als intramuskuläre Injektion oder oral (1, 2, 5).
Anabolikakonsum hat zugenommen
Die grosse Mehrheit der Konsumenten betreibt keinen Wettkampfsport und ist in regulären Fitnessstudios anzutreffen (5). Der durchschnittliche Konsument ist männlich und zwischen 20 und 40 Jahre alt. Der Anteil der Jugendlichen scheint in den letzten Jahren angestiegen zu sein, mit möglicherweise nachhaltigen Folgen für die körperliche und psychische Gesundheit der jungen Konsumierenden (5). Auch insgesamt haben die Popularität und der Konsum von Anabolika und IPED in den letzten Jahren zugenommen (1). Der Einsatz von Anabolika und weiteren IPED im Krafttraining ist mit verschiedenen, teils schwerwiegenden Nebenwirkungen verbunden, die viele Organsysteme und Organfunktionen betreffen können. Zu den häufigen und unter den Konsumenten bekannten Nebenwirkungen gehören Akne, Hodenatrophie, Infertilität, Alopezie, Spritzenabszesse und Gynäkomastie (2). Zu den weniger bekannten, initial häufig
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symptomlosen, aber im Langzeitverlauf gravierenden Nebenwirkungen zählen arterielle Hypertonie, Linksherzhypertrophie, (Tachy-)Arrhythmien, Polyglobulie, Thromboembolien, Leber- und Nierenschäden (2, 7, 8). Sowohl Myokardinfarkte, zerebrovaskuläre Insulte als auch gewisse Krebserkrankungen können Langzeitfolgen sein. Es kann eine beträchtliche Dunkelziffer bei anabolikabedingten Todesfällen erwartet werden – oftmals wird der Konsum dieser Substanzen aufgrund zahlreicher Stigmatisierungen im regulären Gesundheitswesen nicht deklariert (9). Risikoreiches Sexualverhalten aufgrund des gesteigerten Sexualtriebs und möglicherweise unsicheres Injektionsverhalten führen darüber hinaus zu einem erhöhten Risiko für übertragbare Erkrankungen; insbesondere sind hier HIV- sowie Hepatitis-B- und -C-Infektionen zu nennen (1, 10). Beim Absetzen von Androgenen nach längerer Anwendung kommt es häufig zu einem Entzugssyndrom, bei dem unter anderem ein Hypogonadismus mit entsprechenden körperlichen, psychischen wie auch sexuellen Folgen im Vordergrund steht (11, 12).
Ungefähr ein Drittel entwickelt Abhängigkeit
Unter den Personen, die mit dem Konsum von Anabolika beginnen, entwickelt sich bei ungefähr einem Drittel ein chronischer Konsum beziehungsweise eine Abhängigkeit inklusive Toleranzentwicklung, Entzugssymptomen, Craving, Dosissteigerungen, die bewusste Inkaufnahme von Gesundheitsrisiken durch den fortgesetzten Konsum, erfolglose Absetzversuche und die Vernachlässigung anderer Pflichten zugunsten des Konsums dieser Substanzen (13, 14). Etliche Anabolikakonsumierende suchen trotz manifester Nebenwirkungen keine ärztliche Hilfe auf, etwa aufgrund von Stigmatisierung und Ablehnung im Gesundheitswesen sowie Scham. Die gesundheitliche Beratung erfolgt häufig durch Peers, Untergrundhandbücher oder online in Blogs und
Interdisziplinäre Sprechstunde
Die Arud, Zentrum für Suchtmedizin, betreibt an ihrem Standort an der Schützengasse 31 in Zürich, 1 Gehminute vom Hauptbahnhof, seit Sommer 2023 ein spezialisiertes und multiprofessionelles Versorgungsangebot für Personen mit problematischem Anabolikakonsum. Ein Team aus Ärztinnen und Ärzten der Inneren Medizin, Suchtmedizin und Psychiatrie bietet fachkundige Unterstützung beim Absetzen der Substanzen sowie systematische Abklärungen und Behandlungen von Nebenwirkungen und zugrunde liegenden psychischen Erkrankungen.
Schriftliche Zuweisungen werden unter arud@arud.ch entgegengenommen.
Weitere Informationen finden Sie online unter www.rosenfluh.ch/qr/arud_anabolika oder direkt über den QR-Code:
Chats – ohne spezifisches medizinisches Know-how und mit ungenügender Abklärung (5). Entsprechend besteht eine erhebliche Unterversorgung dieser Population. Es gibt kaum spezialisierte medizinische Zentren oder Praxen. Auch in der Suchtmedizin besteht noch wenig Erfahrung im Umgang mit problematischem Konsum und Anabolikaabhängigkeit (15).
Neue spezialisierte Sprechstunde hilft
Betroffenen
Seit dem Sommer 2023 gibt es in Zürich eine spezialisierte,
interdisziplinäre Sprechstunde (siehe Kasten). Betroffene er-
halten Beratung und umfassende interdisziplinäre medizini-
sche Unterstützung, insbesondere beim Bestreben, den Kon-
sum einzustellen. In Zusammenarbeit mit externen
Spezialistinnen und Spezialisten werden die möglichen Folgen
des Konsums abgeklärt und entsprechend behandelt. Ergänzt
wird das neue Angebot durch ein Drug-Checking des Drogen-
informationszentrums DIZ der Stadt Zürich.
s
Dr. med. Raphael Magnolini Arud Zentrum für Suchtmedizin Schützengasse 31, 8001 Zürich Tel. +41 58 360 50 32 E-Mail: r.magnolini@arud.ch
Referenzen: 1. Mullen C et al.: Anabolic androgenic steroid abuse in the United King-
dom: An update. Br J Pharmacol. Br J Pharmacol. 2020;177(10):2180-2198. 2. Bonnecaze AK et al.: Harm Reduction in Male Patients Actively Using
Anabolic Androgenic Steroids (AAS) and Performance-Enhancing Drugs (PEDs): A Review. J Gen Intern Med. 2021;36(7):2055-2064. 3. Magnolini R et al.: Fake anabolic androgenic steroids on the black market - a systematic review and meta-analysis on qualitative and quantitative analytical results found within the literature. BMC Public Health. 2022;22(1):1371. 4. Bates G et al.: Treatments for people who use anabolic androgenic steroids: a scoping review. Harm Reduct J. 2019;16(1):75. 5. Bonnecaze AK et al.: Characteristics and Attitudes of Men Using Anabolic Androgenic Steroids (AAS): A Survey of 2385 Men. Am J Mens Health. 2020;14(6):1557988320966536. 6. Kruijver M et al.: Evidence of use and users of image- and performance-enhancing drugs in sports in Switzerland: a scoping literature review and implications for Swiss drug policy. Swiss Med Wkly. 2023;153:40080. 7. Fadah K et al.: Anabolic androgenic steroids and cardiomyopathy: an update. Front Cardiovasc Med. 2023;10:1214374. 8. Nieschlag E et al.: Doping with anabolic androgenic steroids (AAS): adverse effects on non-reproductive organs and functions. Rev Endocr Metab Disord. 2015;16(3):199-211. 9. Amaral JMX et al.: Prevalence of anabolic steroid users seeking support from physicians: a systematic review and meta-analysis. BMJ Open. 2022;12(7):e056445. 10. Rowe R et al.: Risk and blood-borne virus testing among men who inject image and performance enhancing drugs, Sydney, Australia. Drug Alcohol Rev. 2017;36(5):658-666. 11. Rahnema CD et al.: Anabolic steroid-induced hypogonadism: diagnosis and treatment. Fertil Steril. 2014;101(5):1271-1279. 12. Christou MA et al.: Effects of Anabolic Androgenic Steroids on the Reproductive System of Athletes and Recreational Users: A Systematic Review and Meta-Analysis. Sports Med. 2017;47(9):1869-1883. 13. Iff S et al.: IPED in Recreational Sports. Praxis (Bern 1994). 2022; 111(6):e345-e349. 14. Skauen JE et al.: Prevalence and correlates of androgen dependence: a meta-analysis, meta-regression analysis and qualitative synthesis. Curr Opin Endocrinol Diabetes Obes. 2023;30(6):309-323. 15. Smit DL et al.: Outpatient clinic for users of anabolic androgenic steroids: an overview. Neth J Med. 2018;76(4):167.
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