Transkript
BERICHT
Überaktive Blase
Herausforderungen bei älteren Patienten
Dr. med. Mathias Schlögl, Chefarzt Geriatrie Barmelweid AG, betonte an einer Onlinefortbildung die wichtige Rolle der Arzt-Patienten-Kommunikation, damit wirksame Medikamente ihre Wirkung auch tatsächlich entfalten und die Lebensqualität von Patienten mit überaktiver Blase verbessern können.
Die Symptome einer überaktiven Blase (overactive bladder, OAB) sind vielfältig und betreffen bis zu 17 Prozent der Bevölkerung (1). Die Dunkelziffer dürfte allerdings deutlich höher sein, da nur wenige Patienten darüber sprechen würden, erläuterte Schlögl. Dies sei bedauerlich, denn die Symptome könnten die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen. So sind OAB-Beschwerden häufig mit sozialem Rückzug und Isolation verbunden und können auch den Schlaf, die Konzentrationsfähigkeit oder das Sexualleben negativ beeinflussen (1). Die mangelnde Bereitschaft, über OAB-Symptome zu sprechen, resultiert bei Senioren oft daraus, dass sie den langsamen, aber stetig voranschreitenden Funktionsverlust nicht wahrnehmen und ihre Beschwerden als normales Alterungszeichen ohne Krankheitswert interpretieren (2). «Ich bi doch scho rächt alt. Myni Nachbarin hät das au», zitierte Schlögl eine typische Aussage. Manche Patienten können ihre Symptome aber auch aufgrund kognitiver Defizite nicht einordnen. Zudem ist die OAB oft mit Scham verbunden. Vielen Patienten ist es peinlich, Inkontinenzprodukte zu beziehen, vor allem wenn diese nur in der örtlichen Apotheke erhältlich sind. Aber auch Asymmetrien im Arzt-Patienten-Verhältnis – Experte/Laie, jung/alt, gesund/krank – könnten Patienten daran
KURZ & BÜNDIG
� Ältere Patienten sprechen oft nicht über OAB-Symptome.
� Deshalb ist die Arzt-Patienten-Kommunikation hier von besonderer Bedeutung.
� Zum Aufbau einer vertrauensvollen Kommunikation stehen 5 leicht erlernbare Praktiken zur Verfügung.
� Zur Gestaltung der Gesprächsführung kann das SPIKESProtokoll angewendet werden.
� Für ältere OAB-Patienten mit hoher anticholinerger Belastung kann Mirabegron eine wirksame und sichere Alternative zu Antimuskarinika sein.
hindern, über ihre Beschwerden zu sprechen, so Schlögl. Beispielsweise würde sich eine 86-jährige Patientin einem jungen männlichem Chefarzt gegenüber im Gespräch nicht ohne Weiteres öffnen. Aufgrund dieser vielschichtigen Problematik kommt der Arzt-Patienten-Kommunikation im Umgang mit älteren OAB-Patienten eine besondere Bedeutung zu, um eine gezielte Diagnose und eine effektive Behandlung zu ermöglichen (2). «Wenn es uns nicht gelingt, zwischen uns und den Patienten eine Verbindung herzustellen, wird es schwierig mit der Therapie», betonte Schlögl.
5 Praktiken für eine effektive Kommunikation
In dem Youtube-Video «On Being a Doctor and Connecting with Patients» präsentierte Professor Abraham Verghese von der Stanford University (USA) im Rahmen von Schlögls Vortrag 5 Praktiken, mit denen eine vertrauensvolle Kommunikation zwischen Arzt und Patient gefördert werden kann (3). Gezielte Vorbereitung: Zunächst sollte sich der Arzt im Vorfeld mit den Patientenunterlagen vertraut machen. Ein Ritual wie das Händewaschen kann dann dabei helfen, sich kurz vor der Begegnung innerlich auf die jeweilige Person einzustellen. Aufmerksam und vollständig zuhören: Im Gespräch ist darauf zu achten, aufmerksam zuzuhören und den Patienten nicht zu unterbrechen, denn er ist die wichtigste Informationsquelle. Sich darauf einigen, was am wichtigsten ist: Im Verlauf der Unterhaltung wird ermittelt, welche Anliegen für den Patienten die grösste Bedeutung haben und welche Ziele er bezüglich seiner gesundheitlichen Verfassung anstrebt. Sich mit der Geschichte des Patienten verbinden: Des Weiteren sollten Lebensumstände erfasst werden, welche die Gesundheit des Patienten beeinflussen. Auf Emotionen eingehen: Empathisches Eingehen auf die emotionalen Reaktionen des Patienten schafft Vertrauen und kann die Diagnose, die Therapie und den Krankheitsverlauf verbessern (3). Im Zusammenhang mit diesen 5 Praktiken ging der Referent auf die Problematik der oft knappen Zeit ein. Schlögl verglich die Vorbereitung des Arztes auf das Patientengespräch
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mit einem Piloten, der sich mit verschiedenen Checks auf seinen Flug vorbereitet. Niemand wolle mit einem schlecht vorbereiteten Piloten in den Urlaub fliegen. Ebenso wichtig sei es, sich ausreichend Zeit für den Patienten zu nehmen: «Was die Piloten können, können wir auch», konstatierte er.
SPIKES-Protokoll – ein Akronym für gelingende Gespräche
Als Instrument zur Strukturierung des Gesprächs kann das SPIKES-Protokoll herangezogen werden, das ursprünglich zur Überbringung schlechter Nachrichten in der Onkologie entwickelt wurde. In diesem Modell wird der Gesprächsprozess entsprechend den Buchstaben des Akronyms in 6 Schritte gegliedert (4): s S (setting): Das Gespräch sollte in einer geschützten und
komfortablen Umgebung mit ausreichend Zeit und möglichst ohne Unterbrechungen geführt werden. s P (perception): Zu Beginn werden die Erwartungen und Vorstellungen des Patienten geklärt und sein Informationsstand ermittelt. Hierzu eignen sich Fragen wie «Was haben Ihnen die Kollegen über die aktuelle Situation bereits erzählt?» Diese Vorgehensweise ermöglicht eine Kommunikation auf Augenhöhe. s I (invitation): Anschliessend gilt es herauszufinden, in welchem Umfang der Patient über seinen Zustand aufgeklärt werden möchte. s K (knowledge): Entsprechend dem Gesprächsverlauf sollten die relevanten Informationen in verständlicher Form übermittelt werden. Zwischendurch ist sicherzustellen, dass der Patient alles verstanden hat. «Es ist nicht wichtig, was wir sagen; es ist wichtig, was die Patienten verstehen», kommentierte Schlögl. s E (emotion): Auch im SPIKES-Protokoll wird geraten, empathisch auf die emotionalen Reaktionen des Patienten einzugehen. Dazu kann man körperliche Veränderungen als Beobachtung spiegeln, ohne sie zu deuten, beispielsweise mit Aussagen wie «Oh, mir fällt auf, dass Sie sich auf einmal anders hingesetzt haben.» Oder man kann Emotionen als eigene Einschätzung benennen, etwa so: «Kann es sein, dass Sie gerade verärgert sind?» Diese Reaktionen zeigen dem Patienten, dass er als individuelle Person wahrgenommen wird, und bringen die Kommunikation voran. s S (summary): Zum Schluss sollte der Arzt das Gespräch noch einmal kurz zusammenfassen und letzte Unklarheiten beseitigen. Dazu eignen sich zum Beispiel Fragen wie «Welche Informationen darf ich Ihnen noch geben?» oder «Sagen Sie mir bitte, was war in diesem Gespräch für Sie das Wichtigste?»
Therapie: Antimuskarinika oder Mirabegron?
Zum Ende seines Vortrags präsentierte Schlögl noch 2 Studien zur Behandlung von OAB-Patienten mit Mirabegron (Betmiga®) oder Antimuskarinika. In einer Metaanalyse von 300 Studien aus dem Jahr 2020 wurde das Sicherheits- und Wirksamkeitsprofil von Mirabegron und Antimuskarinika bei älteren Menschen verglichen (5). Anticholinergika sind aufgrund von Nebenwirkungen wie Schwindel oder Delir allgemein nicht günstig für ältere
Menschen. Zudem liegt bei ihnen häufig bereits eine hohe
anticholinerge Belastung aufgrund von Polypharmazie/Poly-
morbidität vor.
In der Metaanalyse war Mirabegron nicht mit höheren Risi-
ken für anticholinerge Nebenwirkungen verbunden als Pla-
zebo, und die Anzahl der Behandlungsunterbrechungen auf-
grund von Nebenwirkungen war ebenfalls mit Plazebo ver-
gleichbar. Im Gegensatz dazu waren Antimuskarinika häufig
mit Nebenwirkungen wie einem trockenen Mund und Obs-
tipation assoziiert. Somit weist Mirabegron im Vergleich zu
Antimuskarinika ein günstiges Sicherheits- und Wirksam-
keitsprofil bei älteren Patienten auf und könnte eine effektive
Alternative für ältere Patienten mit hoher anticholinerger
Belastung sein (5).
Eine zweite prospektive, nicht interventionelle Studie be-
fasste sich mit der Lebensqualität, der Behandlungszufrie-
denheit und der Therapietreue bei OAB-Patienten, die im
Rahmen der Routinepraxis Mirabegron erhielten (6). Diese
Studie wurde mit 862 Patienten (73,7% weiblich) in einem
Durchschnittsalter von 61,2 Jahren aus 8 europäischen Län-
dern durchgeführt. 41,3 Prozent der Teilnehmer hatten von
anderen OAB-Behandlungen zu Mirabegron gewechselt,
42,2 Prozent waren behandlungsnaiv, 10,1 Prozent hatten
die Behandlung unterbrochen, und 6,4 Prozent erhielten Mi-
rabegron als Teil einer Kombinationstherapie. Der Beobach-
tungszeitraum erstreckte sich über 12 Monate. In diesem
Zusammenhang wies Schlögl darauf hin, dass die Patienten
auf den späten Wirkungseintritt hingewiesen werden sollten,
um vorzeitige Behandlungsabbrüche zu vermeiden.
In dieser Studie wurden innerhalb von 2 bis 4 Monaten und
von 10 bis 12 Monaten Verbesserungen der Symptombelas-
tung und der gesundheitsbezogenen Lebensqualität erzielt.
Die Trockenheitsrate erhöhte sich von durchschnittlich 34,9
auf 43,7 Prozent und die Patienten benötigten seltener Pads.
Des Weiteren wurde eine hohe Therapietreue beobachtet:
53,8 Prozent der Patienten erhielten 10 bis 12 Monate lang
Mirabegron. Insgesamt wurde mit Mirabegron eine bedeu-
tende Verbesserung der Lebensqualität und des Gesundheits-
status erzielt, wobei die Nebenwirkungen dem bekannten
Sicherheitsprofil entsprachen (6).
s
Petra Stölting
Quelle: Von Astellas Pharma (Hersteller von Mirabegron) gesponsorter Vortrag «Die Herausforderungen von OAB bei älteren Patient:innen» von Dr. med. Mathias Schlögl, MPH, EMBA HSG, Chefarzt Geriatrie Barmelweid AG, am WebUp Im Fokus des Forums für medizinische Fortbildung (FOMF), 23. Juni 2023.
Referenzen: 1. Tubaro A: Defining overactive bladder: epidemiology and burden of di-
sease. Urology. 2004;64(6 Suppl 1):2-6. 2. Schlögl M et al.: The Physical Examination of an ‹Uncooperative› Elderly
Patient. Praxis (Bern 1994). 2018;107(19):1021-1030. 3. Zulman DM et al.: Practices to Foster Physician Presence and Connection
with Patients in the Clinical Encounter. JAMA. 2020;323(1):70-81. 4. Blum D, Schlögl M: Praktische Hinweise für den Umgang mit terminalen
Patienten. Der informierte Arzt. 2020;4:28-31. 5. Lorzano-Ortega E et al.: Comparative Safety and Efficacy of Treatments
for Overactive Bladder Among Older Adults: A Network Meta-analysis. Drugs Aging. 2020;37(11):801-816. 6. Freeman R et al.: Mirabegron improves quality-of-life, treatment satisfaction, and persistence in patients with overactive bladder: a multi-center, non-interventional, real-world, 12-month study. Curr Med Res Opin. 2018;34(5):785-793.
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