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FORTBILDUNG
Osteoporose: Wann und wie daran denken?
Osteoporose ist kein seltenes Krankheitsbild und trifft besonders häufig ältere Personen und/oder solche mit bestimmten Risikofaktoren. Gemäss der S3-Leitlinie des Dachverbands Osteologie e. V. (DVO) ist eine Basisdiagnostik indiziert bei allen Frauen ab 70 und allen Männern ab 80 Jahren, bei Risikofaktoren wie zum Beispiel Glukokortikoidtherapie, Typ-1-Diabetes oder M. Cushing schon in einem jüngeren Alter. Oberstes Ziel ist es, osteoporotische Frakturen zu verhindern.
Jan-Dirk Seifert
Die Osteoporose ist eine multifaktorielle Knochenerkrankung, die die Rarefizierung der Spongiosa des Knochens und im weiteren zeitlichen Verlauf auch die Zunahme der kortikalen Porosität betrifft (Abbildung 1). Sie lässt sich grob in eine primäre (idiopathische, senile oder postmenopausale) und eine sekundäre Osteoporose unterteilen. Die Osteoporose ist weit verbreitet: Über 6 Millionen Menschen in Deutschland sind betroffen, davon rund 1 Million Männer; in der Schweiz sind es rund 400 000 Personen. Über 85 Prozent der Betroffenen erleiden osteoporosebedingte
trabekulärer Knochen
kortikaler Knochen
gesund
osteoporotisch
gesund
osteoporotisch
Abbildung 1: Osteoporotische Veränderungen der Knochenstruktur (adaptiert nach Praxisschulung Osteoporose, https://fachkreise.amgen.de)
MERKSÄTZE
� Osteoporose tritt häufiger auf als gedacht.
� Nicht nur Frakturen, sondern auch andere häufige Erkrankungen sind mit Osteoporose assoziiert.
� Mit einer leitliniengerechten Diagnose und Therapie der Osteoporose lassen sich mögliche Behinderungen und die Mortalität reduzieren.
� Eine abrufbare Liste von zertifizierten Osteologen und Schwerpunktzentren auf der Homepage des Dachverbands Osteologie e. V. (DVO) steht Ihnen bei der Diagnose und Therapie zur Seite.
Knochenbrüche. Diese osteoporotischen Frakturen gilt es durch rechtzeitige Diagnose und Therapie zu verhindern. Signalfrakturen, auch als MOF (major osteoporotic fractures) bezeichnet, wie an Wirbelkörper, Schenkelhals, Radius und Humeruskopf, sind Indikatoren für eine sehr wahrscheinliche Osteoporose. Spätestens dann sollten Patienten einer leitliniengerechten Diagnose und einer adäquaten Therapie zugeführt werden. Die S3-Leitlinie des DVO ermöglicht es, evidenzbasiert Patienten zu diagnostizieren und zu therapieren. In der Leitlinie nicht berücksichtigt werden Kinder, Jugendliche, prämenopausale Frauen und Männer vor dem 60. Lebensjahr sowie Patienten mit höhergradiger Niereninsuffizienz. Die sekundäre Osteoporose mit den ihr zugrunde liegenden Grund erkrankungen wird über die Leitlinien der jeweiligen Fachgesellschaften abgedeckt (https://dv-osteologie.org/ osteoporose-leitlinien). Die übersichtliche Beschreibung der Zielgruppe der Leitlinie wird nun im Weiteren ausgedehnt beziehungsweise verfeinert, zum Beispiel auf weitere Altersuntergruppen und relevante Risikofaktoren in Bezug auf die Osteoporose. Es gilt das oberste Ziel einer Frakturverhinderung. Massgeblich ist hier das 20-Prozent-Frakturrisiko über 10 Jahre (in Bezug auf Wirbelsäule und Hüfte), um eine Diagnostik einzuleiten. Diese weitreichenden allgemeinen Aussagen werden auf die relevanten Risikofaktoren Alter, Geschlecht, bereits erlittene Knochenbrüche aus geringfügigem Anlass und bekannte Osteoporosefälle in der Familie spezifiziert. Generell wird ab dem 70. Lebensjahr bei Frauen und ab dem 80. Lebensjahr bei Männern eine Basisdiagnostik empfohlen. Eine weitere Indikation zur Basisdiagnostik besteht bei aktuellem oder 1 bis 2 Jahre zurückliegendem Frakturrisiko und Konsequenzen für Diagnostik oder Therapie. Risikofaktoren müssen also auch rückwirkend bei Entscheidungen in der Diagnostik und Therapie berücksichtigt werden. Dies alles umzusetzen ist gefühlt zeitaufwändig und komplex. Wir brauchen also eine praktikable Einteilung der Risikopatienten und der Risikofaktoren laut Leitlinie in der Zeit-
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Originalauszug aus der Leitlinie
Risikokonstellationen bei Frauen nach der Menopause und bei Männern Basisdiagnostik empfohlen bei Frauen ab 50 Jahren, bei Männern ab 60 Jahren. Bei Kennzeichnung mit * bereits ab Postmenopause beziehungsweise bei Männern ab 50 Jahren (B/0)
Frakturen: ▲ niedrigtraumatische singuläre Wirbelkörperfraktur 2. Grades
oder multiple Wirbelkörperfrakturen 1. Grades, sofern andere Ursachen nicht wahrscheinlicher sind* ▲ klinisch manifeste niedrigtraumatische singuläre Wirbelkörperfraktur 1. Grades mit Deckplattenimpression, sofern andere Ursachen nicht wahrscheinlicher sind (ohne Klinik: Einzelfallentscheidung)* ▲ niedrigtraumatische, nicht vertebrale Frakturen (mit Ausnahme von Finger-, Zehen-, Schädel- und Knöchelfrakturen)* Endokrinologische Erkrankungen (Kapitel 5.2.1): ▲ Cushing-Syndrom und subklinischer Hyperkortisolismus (Kapitel 5.2.1.1)* ▲ primärer Hyperparathyreoidismus (Kapitel 5.2.1.2)* ▲ Wachstumshormonmangel bei Hypophyseninsuffizienz (Kapitel 5.2.1.3)* ▲ männlicher Hypogonadismus (Kapitel 5.2.1.4) ▲ subklinische und manifeste Hyperthyreose (Kapitel 5.2.1.5) ▲ Typ-1-Diabetes (Kapitel 5.2.1.6)* ▲ Typ-2-Diabetes (Kapitel 5.2.1.7) ▲ Hyperthyreosis factitia, sofern persistierend (siehe Kapitel 5.3.12) Rheumatologische Erkrankungen (Kapitel 5.2.2) ▲ rheumatoide Arthritis (Kapitel 5.2.2.1)* ▲ Spondylitis ankylosans (Kapitel 5.2.2.2)* ▲ systemischer Lupus erythematodes (Kapitel 5.2.2.3) Gastroenterologische Erkrankungen (Kapitel 5.2.3) ▲ Zöliakie (Kapitel 5.2.3.1) ▲ Billroth-II-Magenresektion oder Gastrektomie (Kapitel 5.2.3.2)* Neurologische/psychiatrische Erkrankungen (Kapitel 5.2.4): ▲ Epilepsie und Antiepileptika (Kapitel 5.2.4.1)* ▲ Schizophrenie (Kapitel 5.2.4.2) ▲ apoplektischer Insult (Kapitel 5.2.4.3)
▲ Alzheimer-Erkrankung (Kapitel 5.2.4.4) ▲ Morbus Parkinson (Kapitel 5.2.4.5) ▲ Depression (Kapitel 5.2.4.6) Andere Erkrankungen (Kapitel 5.2.5): ▲ Herzinsuffizienz (Kapitel 5.2.5.1) ▲ monoklonale Gammopathie unklarer Signifikanz (Kapitel
5.2.5.2)* ▲ Alkohol und alkoholische Lebererkrankung (Kapitel 5.2.5.3) ▲ Anorexia nervosa (Kapitel 5.1.10) ▲ Rauchen und chronisch obstruktive Atemwegserkrankung
(COPD) (Kapitel 5.1.10) Frakturrisiken durch eine medikamentöse Therapie (Kapitel 5.3): ▲ hormonablative Therapie, männlicher Hypogonadismus an-
derer Ursache (Kapitel 5.3.1)* ▲ Aromatasehemmer (Kapitel 5.3.2)* ▲ bestehende oder geplante Therapie mit Glukokortikoiden ≥
2,5 mg/Tag Prednisolonäquivalent über mehr als 3 Monate (Kapitel 5.3.3)* ▲ hochdosierte Glukokortikoide inhalativ (Kapitel 5.3.3) ▲ Therapie mit Thiazolidindionen (Glitazonen) (Kapitel 5.3.4) ▲ Medikamente, die Stürze begünstigen (Kapitel 5.3.5) ▲ Antidepressiva (Kapitel 5.3.6) ▲ Antiepileptika (Kapitel 5.2.4.1) ▲ Opioide (Kapitel 5.3.8) ▲ Protonenpumpenhemmer bei chronischer Einnahme (Kapitel 5.3.9) Allgemeine Risikofaktoren: ▲ proximale Femurfraktur bei Vater oder Mutter (Kapitel 5.1.5) ▲ multiple intrinsische Stürze oder hohes Sturzrisiko (Kapitel 5.1.6) ▲ Immobilität (Kapitel 5.1.7)
Indikationsschwelle für die Basisdiagnostik:
Klinische Befunde, die ein Frakturrisiko von mindestens 20% in den nächsten 10 Jahren erwarten lassen oder
Unmittelbare therapeutische oder diagnostische Konsequenzen der Basisdiagnostik bei aktuell bestehendem Risiko
Bei allen Fragilitätsfrakturen ab einem Alter von 50 Jahren und/ oder nach 3 Monaten Glukokortikoidtherapie ≥ 7,5 mg/Tag Prednisolonäquivalent
Basisdiagnostik
Postmenopause bzw. Männer ab 50 Jahren bei bestimmten Risikofaktoren*
Frauen ab 50 und Männer ab 60 Jahren mit Risikofaktoren gemäss DVO
Generell bei Frauen ab 70 und bei Männern ab 80 Jahren
* Cushing-Syndrom und subklinischer Hyperkortisolismus, primärer Hyperparathyreoidismus, Wachstumshormonmangel bei Hypophyseninsuffizienz, Typ-1-Diabetes, Spondylitis ankylosans, Billroth-II-Resektion, Epilepsie und Antiepileptika, monoklonale Gammopathie unklarer Signifikanz (MGUS), hormonablative Therapie, Aromatasehemmer, Kortison 2,5 mg über mehr als 3 Monate
Abbildung 2: Empfehlung für Basisdiagnostik (gemäss [2]).
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Algorithmus zur Abklärung der Osteoporose
Anamnese • Alter • Geschlecht • Risikokonstellation
durch Vorerkrankungen • Grösse • Gewicht • Medikamente
Geriatrisches Assessment
Entscheidung zur Basisdiagnostik
Bildgebung/Labor • Röntgen, ggf. Schnitt-
bildverfahren) • DXA-Messung
Diagnose
Abbildung 3: Algorithmus zur Abklärung einer Osteoporose (DXA: Dual-RöntgenAbsorptiometrie; © Seifert)
achse ab der Menopause beziehungsweise dem 50. Lebensjahr und vor dem 70. Lebensjahr bei Frauen und dem 80. Lebensjahr bei Männern. Ein Werkzeug zur Arbeitserleichterung kann ein standardisierter Fragebogen sein, der einerseits die Risikofaktoren abfragt und die erhobenen Risikofaktoren zusätzlich markiert, die relevant sind für eine Basisdiagnostik vor dem 70. und 80. Lebensjahr. Dieser Fragebogen kann selbstständig im Wartezimmer und/oder mit den Medizinischen Fachangestellten ausgefüllt werden und zum Arztkontakt vorliegen beziehungsweise im Praxisinformationssystem eingegeben sein. Die erhobenen Daten sind ja bei näherer Betrachtung keine unnötigen anamnestischen Zusatzinformationen, sondern auch für die allgemeinmedizinische Betrachtung oder Therapie beziehungsweise für die Begleitung von Patienten von Relevanz. Die Leitlinie (Abbildung 2) empfiehlt für Menschen ab 50 Jahren nur dann eine Basisdiagnostik, wenn bestimmte Risikofaktoren vorliegen. Zu diesen Risikofaktoren, die wir bei der Anamnese zur Bestimmung des Osteoporoserisikos erfragen, gehören die mit Sternchen markierten Risikofaktoren. Es lässt sich also nicht vermeiden, einen Auszug oder eine Tabelle am Arbeitsplatz zu hinterlegen. Die erwartete neue DVO-Leitlinie wird einen Risikorechner enthalten. Einen Algorithmus zur Abklärung einer Osteoporose zeigt Abbildung 2.
Kehren wir nun zum klinischen Alltag zurück.
Klinisches Fallbeispiel 1
Ihre postmenopausale Patientin kommt aus dem Krankenhaus mit einem Knochenbruch, der konservativ oder operativ versorgt wurde. Auch ohne explizite Empfehlung des Krankenhauses ist bis zum Beweis des Gegenteils an eine Osteoporose zu denken.
Klinisches Fallbeispiel 2
Ihre postmenopausale Patientin oder Ihr 60-jähriger Patient leidet unter vielen internistischen Begleiterkrankungen, wie zum Beispiel Herzinsuffizienz, Typ-1-Diabetes, Rheuma, COPD. Im Medikationsplan finden sich orales oder inhalatives Kortison, Antiepileptika zur Behandlung der Epilepsie oder im Rahmen einer Schmerztherapie sowie eine Dauer-
therapie mit Protonenpumpenhemmer. Auch hier sollten Sie sofort an eine mögliche Osteoporose denken.
Weitere Indikationen für eine Basisdiagnostik
Patienten mit Prostatakarzinom, behandelt mit begonnener
antiandrogener Therapie, können im Einzelfall, das heisst bei
weiteren Risikofaktoren, auch vor dem 70. Lebensjahr einer
Diagnostik zugeführt werden. Patientinnen unter Aroma
tasetherapie sollten einer Basisdiagnostik auch vor dem
60. Lebensjahr zugeführt werden.
Diagnosen mit erhöhtem Risiko für eine Fraktur (Sturzrisiko)
sind Depression, Epilepsie, Schlaganfall, Schizophrenie, Alz-
heimer-Demenz und M. Parkinson.
Nun können, den Empfehlungen der DVO folgend, eine os-
teoporoseadaptierte Anamnese, das geriatrische Assessment,
die Bildgebung (meistens Röntgenuntersuchungen), aktuali-
siert um Brust- und Lendenwirbelsäule, ein sogenanntes Os-
teolabor und die DXA-Messung (DXA: Dual-Röntgen-Ab-
sorptiometrie) selbst durchgeführt oder veranlasst werden.
Die gewonnenen Ergebnisse ermöglichen die leitlinienge-
rechte Entscheidung zu einer Basistherapie mit einer Kalzi-
um-Vitamin-D-Kombination und gegebenenfalls zu einer
zusätzlichen spezifischen Therapie.
s
Dr. med. Jan-Dirk Seifert Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, orthopädische Rheumatologie Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Alterstraumatologie Evangelisches Krankenhaus Kalk gGmbH D-51103 Köln
Interessenlage: Der Autor deklariert Beratertätigkeit für AMGEN, UCB, BMS.
Dieser Artikel erschien erstmals in «doctors today» 5/23. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
Literatur: 1. Prophylaxe, Diagnostik und Therapie der Osteoporose, Registernummer
183-001, https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/183-001. 2. Empfehlung gemäss Dachverband Osteologie e.V. [DVO]; 2017
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