Transkript
ARZT UND RECHT
Die juristische Perspektive
Was Eltern oder Ehegatten wann erfahren dürfen
Selbst wenn Sie auf das Berufsgeheimnis achten und die Auskunft in vielen Fällen verweigern, gibt es Situationen, in denen es nicht offensichtlich ist, dass überhaupt ein Arztgeheimnis vorliegt. Was darf zum Beispiel eine Mutter über ihre minderjährige Tochter wissen und was eine Frau über die Todesursache des überraschend verstorbenen Ehegatten?
Der 1. Fall: In der ersten Situation stelle man sich vor, dass eine Mutter bei gesundheitlichen Problemen ihre Tochter von der Hausärztin behandeln lässt. Als die Tochter noch klein war, war es für die Ärztin und die Mutter eine Selbstverständlichkeit, dass diese beiden Frauen alle relevanten Fragen untereinander besprachen. Das bedeutete, dass das Arztgeheimnis faktisch nicht bestand. Die Geheimnisse der Tochter waren ohne Weiteres auch die Geheimnisse der Mutter, die über alle wesentlichen Fragen informiert war. Die Tochter hatte keine eigene Meinung, wurde aber immerhin von der Ärztin und der Mutter jeweils altersgerecht über die wesentlichen Themen aufgeklärt. Eines Tages nach einer Konsultation bei der Hausärztin nahm die Tochter, die schon vor einiger Zeit in die Pubertät gekommen war, all ihren Mut zusammen und fragte die Ärztin, ob sie ihr noch eine Frage stellen dürfe, sie möchte aber nicht, dass die Mutter dabei sei, das wäre ihr unangenehm. Die Ärztin kannte solche Situationen, wusste auch sofort, wie diese zu bewältigen seien. Sie begleitete die Mutter ins Wartezimmer, bat sie, dort Platz zu nehmen und zu warten, und führte anschliessend in Abwesenheit der Mutter ein kurzes Gespräch mit der Tochter. Der Mutter beschied sie anschliessend, dass sie eine Besprechung mit der Tochter geführt hatte. Sie machte aber keinerlei Angaben zu deren Inhalt. Auch als die Mutter insistierte und darauf verwies, dass die Tochter schliesslich noch minderjährig sei und sie, die Mutter, als Sorgerechtsinhaberin somit auch ein Recht darauf habe, über Gesundheitsfragen der Tochter informiert zu werden, bis die Tochter volljährig sei. Ein Standpunkt, von dem man annehmen kann, dass ihn viele Eltern in einer vergleichbaren Situation vertreten würden, was ihn aber nicht richtiger macht.
Wenn es um Fragen der Gesundheit oder eben um das Arztgeheimnis geht, ist grundsätzlich die betroffene Person und nur sie durch das Arztgeheimnis geschützt. Dies völlig unabhängig von Alter, Grad der vorhandenen Urteils(un)fähigkeit und Bestehen eines Sorgerechts- oder Beistandsverhältnisses. Ein Kind, gleichgültig welchen Alters, hat genauso Anspruch auf Schutz seiner Privatsphäre wie eine erwachsene Person und kann sich grundsätzlich wie eine erwachsene Person auf diesen Schutz – oder eben auf das Arztgeheimnis – berufen. Dieser Schutz steht jedem Menschen aufgrund seines Menschseins und ohne weitere Voraussetzungen zu. Das Arztgeheimnis schützt jedes Kind, vom Säugling bis zum 18-jährigen Teenager, genauso wie jeden Erwachsenen. Man muss sich also als Arzt und auch als Elternteil bewusst sein, dass das Sorgerecht kein Freipass ist, um das Arztgeheimnis des Kindes zu missachten. Ist das Kind selber in der Lage, entsprechende Entscheide zu treffen und zu kommunizieren, kann grundsätzlich nur das Kind über sein Arztgeheimnis verfügen. Dies mit der Konsequenz, dass sich ein Arzt strafbar machen kann, wenn er den Eltern Informationen über den Gesundheitszustand des Kindes liefert.
Kind müsste aktiv werden
Diese Suppe wird aber in aller Regel nicht so heiss gegessen wie gekocht. Und dies aus zwei Gründen: Das Kind kann erstens den Arzt implizit oder explizit ermächtigen, seinen Eltern Informationen zu seinem Gesundheitszustand zu liefern. Eine Ermächtigung durch das Kind wird regelmässig anzunehmen sein, wenn es um Sachverhalte geht, die das Kind selber noch gar nicht versteht, es aber als wichtig erscheint, die Eltern zu informieren, damit sie ihrerseits erfor-
Die Serie «Die juristische Perspektive» wird von Dr. iur. Beat Schmidli, Advokat, langjähriger Partner in einem Advokaturbüro in Basel, seit 2014 Präsident Strafgericht, Jugendgericht und Zwangsmassnahmengericht Kanton Basel-Landschaft, verfasst. Die Serie beleuchtet verschiedene Situationen, in die ein Arzt im Rahmen seiner Tätigkeit geraten kann.
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derliche Entscheide fällen können. Mit der Ermächtigung durch das Kind fallen auch die Rechtswidrigkeit des Verhaltens dahin und die grundsätzliche Strafbarkeit. Zweitens ist der Straftatbestand «Verletzung des Berufsgeheimnisses» (Art. 321 StGB) ein Antragsdelikt, was bedeutet, dass das Kind bei den Strafverfolgungsbehörden einen Strafantrag stellen müsste, damit überhaupt ein Verfahren eingeleitet würde. Es gilt also zu beachten, dass Eltern nur unter der Voraussetzung Anspruch auf Informationen, die dem Arztgeheimnis unterliegen, haben, dass es dem Kind nicht möglich ist, sich selber auf das Arztgeheimnis zu berufen. Beim Kleinkind wird dies immer der Fall sein, mit zunehmendem Alter wird das Kind aber immer besser in der Lage sein, zu entscheiden, welche Tatsachen es unter dem Schirm des Arztgeheimnisses vor den Eltern oder Dritten verbergen möchte und welche Themen den Eltern preisgegeben werden dürfen. Sobald ein Kind selber in der Lage ist, derartige Entscheide zu fällen, haben die Eltern keinen Anspruch mehr auf Information über Inhalte, die dem Arztgeheimnis unterliegen. Es ist offensichtlich, dass dieser Übergang fliessend stattfindet und es nicht möglich ist, dafür einen klaren Zeitpunkt festzulegen. Man wird aber wohl sagen können: Je komplexer die sich im Einzelfall stellenden Fragen sind, desto eher werden die Eltern gegenüber dem Arzt einen eigenen Anspruch darauf haben, informiert zu werden. Je überschaubarer der jeweilige Sachverhalt ist, desto weniger wird ein eigenes Recht der Eltern auf den Erhalt von Informationen, die dem Arztgeheimnis unterliegen, anzunehmen sein. Man kann, um auf den Beispielfall zurückzukommen, nachvollziehen, dass eine Mutter, die sicher nur das Beste für ihre Tochter will, möglichst über alle wesentlichen gesundheitlichen Aspekte, die Tochter betreffend, informiert werden will, damit sie die besten Entscheide für die Tochter treffen kann. Die Annahme aber, man könne aus dem Umstand, dass die Mutter das Sorgerecht für die Tochter innehat, ein umfassendes Informationsrecht ableiten, trifft nicht zu. Und diesen Punkt gilt es für Ärzte in der Praxis unbedingt zu beachten: Das Arztgeheimnis soll das Kind und seine Privatsphäre schützen und nicht die Eltern oder eine Drittperson. Der Arzt wird diesen Grundsatz immer im Auge behalten, wenn jemand eine entsprechende Auskunft wünscht. Im Beispielfall ist es wohl ratsam, als Arzt das Gespräch mit allen Beteiligten, also Eltern und Kind, zu suchen und eine Einigung darüber zu erzielen, welche Tatsachen vom Arzt den Eltern mitgeteilt werden dürfen und über welche Tatsachen die Eltern nicht informiert werden dürfen.
Über den Tod hinaus
Fall 2: Eine Frau, deren Ehemann wegen eines an sich relativ harmlosen Leidens hospitalisiert war, wird eines Morgens von der Mitteilung des Spitals überrascht, ihr Ehemann sei in der vergangenen Nacht völlig unerwartet verstorben. Die Ehefrau, die sich nicht erklären kann, was die Ursache des unerwarteten Ablebens ist, wendet sich an den zuletzt behandelnden Arzt und bittet ihn, ihr die Krankengeschichte ihres Ehemannes auszuhändigen und ihr diese zu erläutern, damit sie nachvollziehen kann, was mit ihrem Ehemann geschehen ist. Zu ihrem Erstaunen gibt ihr der Arzt eine abschlägige Antwort und erklärt ihr, das Arztgeheimnis verbiete es ihm, ihr die gewünschten Auskünfte zu erteilen, so nachvollziehbar ihr Wunsch nach Einsichtnahme auch sei. Geheimnisherr sei ihr verstorbener Ehemann gewesen. Das Berufsgeheimnis gelte aber auch gegenüber den Familienangehörigen und über den Tod hinaus. Anders wäre die Situation nur dann zu beurteilen, wenn der Ehemann vor seinem Ableben sich damit einverstanden erklärt hätte, die Ehefrau zu informieren. Es ist, wenn man davon ausgeht, dass das Arztgeheimnis höchstpersönlichen Charakter hat – und davon ist wohl klarerweise auszugehen – so, dass nur der durch das Geheimnis geschützte Patient darauf verzichten kann. Sein Anspruch auf Schutz kann – und darin unterscheidet sich dieser Anspruch von vielen andern Rechtsansprüchen – nicht vererbt werden. Wenn der geschützte Patient stirbt, bleibt das Geheimnis ein Geheimnis. Der Arzt darf es, abgesehen von wenigen Ausnahmefällen, niemandem offenbaren, so verständlich es auch ist, wenn die Ehefrau informiert werden möchte.
Wir sehen also an diesen zwei Beispielen, dass es sich lohnt,
sich als Arzt Gedanken zur Frage zu machen, in welchen Si-
tuationen das Arztgeheimnis zwingend zu wahren ist, und
darüber, wer einen in welcher Situation vom Arztgeheimnis
befreien kann.
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Dr. iur. Beat Schmidli
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