Transkript
EDITORIAL
32 000 Fälle pro Jahr
Jeder, der Medikamente verschreibt oder einnimmt, weiss, dass deren Wirkung leider nicht immer nur die erwünschten Effekte hat. Es heisst nicht umsonst: Keine Wirkung ohne Nebenwirkung. Wie häufig diese Nebenwirkungen Beschwerden oder Erkrankungen mit sich bringen, die ihrerseits einen Spitalaufenthalt erforderlich machen oder gar zum Tode führen, war bis anhin in der Schweiz nicht systematisch erfasst. Obwohl das medizinische Personal eigentlich verpflichtet ist, solche Fälle bei Swissmedic zu melden. Kürzlich wurden nun die Resultate der ersten nationalen Erhebung zu dieser Fragestellung publiziert. Im Schnitt sind demnach pro Jahr rund 32 000 Spitaleinweisungen auf unerwünschte Arzneimittelwirkungen zurückzuführen (1). Insgesamt wurden in den Jahren zwischen 2012 und 2019 rund 11,2 Millionen Hospitalisierungen erfasst, von denen 256 550 (2,3%) auf Arzneimittelnebenwirkungen zurückgingen; das entspricht pro Jahr der eben genannten Zahl von rund 32 000 Fällen. Das sind etwas mehr als die Einwohner von Emmen im Jahr 2020, immerhin Platz 22 der Liste Schweizer Gemeinden mit mehr als 10 000 Einwohnern (2). Betroffen waren zu fast gleichen Teilen Frauen wie Männer, in knapp 47 Prozent älter als 65 Jahre. Aber in 6,5 Prozent der Fälle wurden auch Kinder und Jugendliche mit unerwünschten Nebenwirkungen eingewiesen. Am häufigsten führten Nebenwirkungen im Bereich des Verdauungs-
systems (z.B. eine nicht infektiöse Gastroenteritis oder
Kolitis), des Urogenitalsystems (z.B. akutes Nierenver-
sagen) oder die psychische Verfassung/Verhaltensstö-
rungen (z.B. bei Opiatabhängigkeit) zur Hospitalisie-
rung. 5669 der betroffenen Patienten (2,2%) verstarben
im Spital. Für den gleichen Zeitraum wurden im
Schweizer Spontanmeldesystem jedoch nur etwas
mehr als 14 000 Spitalaufenthalte und 700 stationäre
Todesfälle angegeben; das entspricht einer geschätz-
ten Meldequote von lediglich 5 beziehungsweise 12
Prozent.
Auch wenn diese Meldezahlen relativ niedrig schienen,
lägen sie doch im internationalen Vergleich im oberen
Bereich, wie Studienleiter Patrick Beeler, Forschungs-
leiter des Zentrums für Hausarztmedizin und Commu-
nity Care der Universität Luzern, in der begleitenden
Pressemitteilung darlegte (3). International gehe man
von einer Melderate zwischen 0,6 und 4,7 Prozent der
Spitaleinweisungen aus. Um diese Situation weiter zu
verbessern, müsse die Meldepflicht stärker themati-
siert werden, sowohl in der Ausbildung medizinischer
Fachpersonen als auch später im beruflichen Alltag.
Denn diese Meldungen trügen wesentlich zur Sicher-
heit der Medikamente bei, indem sie helfen würden,
bisher unbekannte oder ungenügend beschriebene
Nebenwirkungen zu entdecken, erinnerte Beeler. Von
besonderer Bedeutung seien dabei die Meldungen, die
Patienten beträfen, die in klinischen Studien weniger
berücksichtigt würden.
Auch wenn in der Schweiz noch nicht alle vorhandenen
Daten in gewünschtem Ausmass miteinander zu ver-
binden sind – jede Meldung kann potenziell Kollegen
und Patienten zugutekommen. Wenn Sie das nächste
Mal also eine Patientin oder einen Patienten aufgrund
von Nebenwirkungen stationär einweisen lassen, kön-
nen Sie so ganz einfach dazu beitragen, die Arzneimit-
telsicherheit zu verbessern.
s
Christine Mücke
1. Beeler PE et al.: Hospitalisations Related to Adverse Drug Reactions in Switzerland in 2012–2019: Characteristics, In Hospital Mortality, and Spontaneous Reporting Rate. Drug Saf. 2023;46:753–763.
2. https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_St%C3%A4dte_in_der_Schweiz 3. Pressemitteilung der Universität Luzern, 21.09.2023
ARS MEDICI 21 | 2023
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