Transkript
EDITORIAL
Wir sterben viele Tode
Es war heiss, dieses Jahr. Gut, nicht so heiss wie letztes Jahr, aber schon heiss. Es war die Rede von vielen Hitzetoten – der deutsche Gesundheitsminister entwarf gar einen Masterplan zum Schutz vor der tödlichen Wärme. Und jetzt regnet’s. Menschen sterben immer und überall, zu manchen Zeiten mehr, zu manchen weniger. Manchmal regnet’s draussen, wenn sie sterben, manchmal ist es Sommer und warm. Spätestens seit Corona kennen wir die Diskussion: Starben die Leute nun «an» oder «mit»? Damals ging’s um SARS-CoV-2. Auch wenn für die Mehrheit der Mediziner klar ist, dass das Virus ursächlich war für den Tod von Tausenden und weltweit Millionen von Menschen und so zu einer statistischen Übersterblichkeit führte – es gibt nicht wenige Leute, die davon überzeugt sind, dass die Patienten eh gestorben wären, allenfalls ein paar Wochen später, beziehungsweise dass sie vor allem den Folgen von Lockdown, Hysterie und Impfungen zum Opfer gefallen sind. Und zumindest eines muss man ja zugeben: Bei den Hitzetoten stellt sich statistisch ein ähnliches Problem. Denn offensichtlich stimmt’s: Wenn’s heiss ist, sterben mehr Leute. Wenigstens in den Altersheimen. Und wieder stellt sich die Frage: «An» oder «mit» (der Hitze)? Doch die Statistiker haben ein noch viel grundsätzlicheres Problem, beziehungsweise wir mit ihren Statistiken. Was ist eigentlich mit dem Patienten, der sein Leben lang geraucht und regelmässig vielleicht etwas zu viel Wein getrunken hat, der wegen rheumatischer Beschwerden und Übergewicht lange Zeit keinen Sport mehr getrie-
ben, sondern vor allem von Antirheumatika und Kaffee
gelebt hat, der wie die meisten vor 2 Jahren trotz
4-maliger Impfung an Corona erkrankte und sich davon
nur schlecht erholt hat? Und wie sieht das aus bei all
jenen Menschen, die wegen Stress oder psychischer
Überlastung depressiv werden und sich umbringen? Die
in Städten mit hohen Feinstaubwerten und erhöhtem
CO2 leben, jahrelang hohen Radonwerten in geschlosse-
nen Räumen ausgesetzt waren, vielfach geröntgt wur-
den, in Kliniken lagen, wo Behandlungsfehler passierten,
die vielfach geimpft wurden, an Allergien leiden und seit
Jahren «ungesund» essen (zu wenig Ballaststoffe, zu
viel Zucker, mehr Fleisch als Gemüse usw.)? Wenn die
jetzt an einer Grippe erkranken, nicht rechtzeitig zum
Arzt gehen, weil sie auf die Schnelle keinen neuen Haus-
arzt finden, am Ende aber doch noch behandelt werden,
man dabei bei ihnen eine mässige Niereninsuffizienz
feststellt und sie daraufhin sterben? Welchem Um-
stand lastet die Statistik ihren Tod nun an? Vor allem
wenn’s draussen auch noch ungewohnt heiss ist? Die
Leute sterben, statistisch gesehen, schliesslich an und
wegen fast allem, das Gesellschaft und Umwelt so zu
bieten haben.
Klar, für den Coronaskeptiker ist immer die Impfung
schuld, für den Pneumologen das Rauchen, für den
Gesundheitskritiker der Hausärztemangel, für den
Pharmakologen ein Behandlungsfehler, und für den
Klimaaktivisten geht der Tod eindeutig zu Lasten des
Klimawandels oder je nachdem des Feinstaubs, des CO2
oder der gleichzeitigen Hitze.
Fazit: Wir leben zwar nur 1 Leben, aber wir sterben – sta-
tistisch gesehen – viele Tode. Da wird der verstorbene
Opa im Altersheim eben dem Mangel an Pflegepersonal
zugeschlagen, gleichzeitig dem Rauchen (da er Raucher
war) und der Hitze (wenn’s grad heiss war) und als Dia-
betiker natürlich auch dem Zuckerüberkonsum und dem
Bewegungsmangel. Psychologen schlagen dieToten dem
Stress zu, Wohnmediziner dem Radon. Das Irritierende:
In den vielen Statistiken der vielen Fachleute tauchen im-
mer dieselbenToten auf, nur mit anderen Sterbeursachen,
sodass, statistisch gesehen, summa summarum – so
darf man vermuten – viel mehr Menschen gestorben sein
müssten, als je gestorben sind. Statistik eben. Und das
alte Lied: «To a man with a hammer, everything looks like
a nail.»
s
Richard Altorfer
ARS MEDICI 19 | 2023
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