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Depression im Alter – wie erkennen, wie behandeln?
BERICHT
Prof. Dr. med. Stefan Klöppel, Universitäre Psychiatrische Dienste Bern (UPD), gab am FOMF Update Refresher in Zürich einen Überblick über die klinische Manifestation und die Diagnostik von Depressionen bei Senioren und zeigte auf, welche Optionen für Behandlung und Vorbeugung zur Verfügung stehen.
Gleich zu Beginn widerlegte der Referent das gängige Vorurteil, dass die meisten älteren Menschen depressiv seien. Aus Befragungen in der Schweiz gehe vielmehr hervor, dass die Menschen über 65 Jahren im Durchschnitt sogar glücklicher seien als im mittleren Lebensalter von 30 bis 64, erläuterte er. Auch Einsamkeitsgefühle nehmen im Alter eher ab. Diese Beobachtungen gelten allerdings vor allem für die Gruppe der «jungen Alten» zwischen 65 und 80. Ab einem Alter von etwa 85 Jahren ist dann eine deutliche Zunahme schwerer Depressionen zu beobachten. Die Suizidrate nimmt in dieser Altersgruppe ebenfalls zu, vor allem bei alleinstehenden Männern (1).
Klinische Manifestationen und Diagnostik
Die Diagnose einer Depression kann anhand der ICD-11-Kriterien gestellt werden. Allerdings unterscheidet sich die Symptomatik bei Senioren häufig von der jüngerer Betroffener. Bei älteren Menschen können Symptome wie sozialer Rückzug, eine Antriebsminderung im Hinblick auf die Nahrungsaufnahme und die Körperpflege oder eine allgemeine Interessenlosigkeit auf eine Depression hinweisen. Häufig beobachtet man auch unspezifische körperliche Beschwerden wie Kopfdruck oder Schwindelgefühle sowie kognitive Defizite. Diese manifestieren sich beispielsweise als Denkschlaufen im Zusammenhang mit der Lebensbilanzierung, psychotische
KURZ & BÜNDIG
� Depressionen kommen ab etwa 80 Jahren sehr häufig vor.
� Bei älteren Menschen sind Depressionen oft mit unspezifischen körperlichen Beschwerden verbunden.
� Monoinhibitoren wie SSRI sind bei Senioren besser verträglich als duale Inhibitoren.
� Bei Nichtansprechen ist eine Augmentation oder Kombination besser als ein Wechsel des Antidepressivums.
� Zur Vorbeugung sind ein gesunder aktiver Lebensstil sowie ausreichend soziale Kontakte wirksam.
Inhalte oder als Angst, an einer Demenz zu erkranken. Bezüglich der Stimmung steht statt der gedrückten Lage oft Reizbarkeit im Vordergrund. Als klassisches Instrument zur Diagnose einer Depression bei Senioren steht die geriatrische Depressionsskala zur Verfügung. Mithilfe von 5 Fragen kann hier auch auf die Suizidalität geschlossen werden (2).
Depression und körperliche Erkrankungen
Depressionen treten bei älteren Menschen oft im Zusammenhang mit körperlichen Erkrankungen auf. Besonders häufig kommt es zur Komorbidität mit kardiometabolischen Erkrankungen. So verdoppeln schwere Depressionen beispielsweise die Mortalität bei koronaren Herzerkrankungen (KHK), und andersherum senkt eine erfolgreiche Depressionsbehandlung die Anzahl kardiovaskulärer Ereignisse. Diese Patienten könnten von einem aeroben Ausdauertraining profitieren, weil es sowohl die Depression als auch die Herzerkrankung günstig beeinflusst (3). Beide Erkrankungen sind mit Risikofaktoren für die jeweils andere verbunden. Eine Depression erhöht das KHK-Risiko, da sie mit chronischer Entzündung, Störungen des Kortisolhaushalts, Veränderungen des Endothels und T-Zell-Aggregation einhergeht. Auf der Verhaltensebene begünstigen Inaktivität, ungünstige Ernährung und Rauchen die Entwicklung oder Verschlimmerung von KHK. Andersherum kann eine chronische KHK aufgrund von körperlichen Einschränkungen und der emotionalen Belastung die Depression fördern. Auch depressive Symptome und Demenz liegen im Alter oft gemeinsam vor und begünstigen sich gegenseitig. Eine genaue Diagnose ist häufig schwierig, weil die Symptomatiken oft überlappen und viele Patienten nicht gut befragt werden können. Bei dieser Patientengruppe ist zu beachten, dass sich das Suizidrisiko nach der Diagnose einer milden kognitiven Beeinträchtigung (Hazard Ratio [HR]: 1,7) oder einer Demenz (HR: 1,4) erhöht (4). Neurodegenerative Erkrankungen wie Parkinson, Alzheimer, die frontotemporale Demenz und die Lewy-Körperchen-Demenz treten ebenfalls besonders häufig gemeinsam mit Depressionen auf. Bei Morbus Parkinson und Depressionen liegen vermutlich mechanistische Zusammenhänge vor,
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da bei beiden Erkrankungen das Dopaminsystem betroffen ist (5).
Behandlungsoptionen
Der Referent wies darauf hin, dass Depressionen im Alter generell schwieriger erfolgreich behandelbar seien als bei jüngeren Personen. In einer Metaanalyse zeigte sich allerdings kein Einfluss des Alters auf den Therapieerfolg – vorausgesetzt, der Patient erhält eine für ihn geeignete Therapie (6). Zur Behandlung von Depressionen bei älteren Menschen stehen nicht medikamentöse und pharmakologische Optionen zur Verfügung.
Psychotherapie
Freud beurteilte die Erfolgsaussichten einer Psychotherapie bei Senioren als ungünstig. Mittlerweile weiss man jedoch, dass die Wirksamkeit einer Psychotherapie nicht mit dem Alter in Zusammenhang steht (7). «Im Alter sind vor allem auch kurze Psychotherapien mit einer besonders guten Wirksamkeit verbunden, weil man oft auf bereits vorhandene Ressourcen aufbauen kann», erläuterte der Referent. So können Ältere beispielsweise von früheren, erfolgreichen Bewältigungsstrategien profitieren.
Auswahl geeigneter Antidepressiva
Klöppel wies darauf hin, dass es sich bei Personen ab etwa 80 Jahren um eine aus somatischer und psychiatrischer Sicht sehr heterogene Gruppe handele. Dies müsse auch im Hinblick auf die Arzneimittelverträglichkeit beachtet werden. Zunächst sei zu klären, ob überhaupt Medikamente erforderlich seien. Des Weiteren sollte geprüft werden, ob bei früheren Episoden gut wirksame Antidepressiva erneut angewendet werden könnten. Als Sonderfall betrachtet er hier den erneuten Einsatz von Lithium (Quilonorm®, Lithiofor®) aufgrund des Risikos für Nierenschädigungen. Es gäbe aber sehr viele Patienten, die sich mit der klassischen Bandbreite von Medikamenten nicht erfolgreich behandeln liessen, von Lithium aber profitierten, berichtete Klöppel. In diesen Fällen könne man das Medikament in Absprache mit dem Nephrologen unter Abwägung von Nutzen und Risiken einsetzen. Des Weiteren erfolgt die Auswahl unter Berücksichtigung der Komorbiditäten. Bei kardialen Begleiterkrankungen sollte Sertralin (Zoloft® und Generika) gegenüber Escitalopram (Cipralex® und Generika) oder Citalopram (Seropram® und Generika) bevorzugt werden. Nach einem Schlaganfall erhöht sich häufig das Suizidrisiko, sodass gegebenenfalls eine Prophylaxe diskutiert werden sollte. Zudem muss die antikoagulative Behandlung bei der Auswahl des Antidepressivums beachtet werden. In diesen Fällen erachtet Klöppel Mirtazapin (Remeron® und Generika) als geeignete Option. Für Patienten mit metabolischem Syndrom eignen sich selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) und eventuell auch Agomelatin (Valdoxan® und Generika). Bei Patienten mit Morbus Parkinson kann bereits eine Optimierung der Dopaminersatztherapie im Rahmen der Parkinsonbehandlung auch mit Verbesserungen der depressiven Symptomatik verbunden sein. Im Einzelfall können auch Trizyklika erwogen werden, weil sie die Parkinson-Symptomatik günstig beeinflussen.
Medikamentöse Standardtherapie
Üblicherweise begänne man mit einem Einzelmedikament wie einem SSRI oder Mirtazapin, so Klöppel. Danach sollte man bei älteren Menschen erst einmal länger abwarten als bei jüngeren, etwa 6 bis 10 Wochen. Bei Nichtansprechen sei ein Wechsel des Antidepressivums die ungünstigste Entscheidung, warnte er. Besser sei in diesen Fällen eine Kombination oder Augmentation. Hierzu sind MAO(Monoaminoxidase)-Hemmer, die Elektrokrampftherapie (EKT) oder Esketamin (Spravato®) geeignet. Bei schweren Depressionen, drängenden Suizidgedanken oder ausbleibender Reaktion nach 6 Monaten Behandlung mit einem Einzelmedikament kann auch die Zuweisung an einen Psychiater überlegt werden. Da duale Inhibitoren wie Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (SNRI; Bupropion [Wellbutrin®], Duloxetin [Cymbalta® und Generika]) im Alter mit mehr Nebenwirkungen verbunden sind, sollten Senioren vorzugsweise Monoinhibitoren erhalten.
Besondere Therapiesituationen
Die Feststellung einer Suizidalität müsse immer sofort zum Handeln, beispielsweise in Form einer ambulanten oder stationären Krisenintervention, führen, so Klöppel (8). In manchen Fällen könne erwogen werden, die Zeit bis zum Wirksamkeitseintritt von Antidepressiva mit Benzodiazepinen zu überbrücken. Falls ein Suizidversuch unternommen wurde, steht das Attempted Suicide Short Intervention Program (ASSIP) zur Verfügung. Als besonders schwierig gilt die Behandlung einer Depression bei gleichzeitiger Demenz. In einem Cochrane-Review konnte mit pharmakologischen Strategien bei dieser Patientengruppe kein Behandlungserfolg erzielt werden. SSRI waren hier noch am ehesten mit einer gewissen Wirksamkeit verbunden (9). Bei Depressionen in der Vorgeschichte kann in diesen Fällen eine erneute Applikation früher wirksamer Medikamente versucht werden. Bei demenzbedingter Agitiertheit haben SSRI einen besonderen Stellenwert.
Erhaltungstherapie
Grundsätzlich sollte bei älteren Menschen eine längere Erhaltungstherapie eingeplant werden als bei jüngeren. Des Weiteren ist zu beachten, dass mehr als die Hälfte der depressiven Episoden rezidivierend verläuft. Eine medikamentöse Prophylaxe kann das Rezidivrisiko halbieren. Dies gilt vor allem in den ersten 6 bis 12 Monaten. Nach einem Jahr anhaltender Remission kann bei einer ersten depressiven Episode ein langsames Absetzen der medikamentösen Behandlung erwogen werden. Bei einer zweiten Episode sollte die Behandlung trotz Remission noch 1 weiteres Jahr und bei einer dritten Episode noch 2 weitere Jahre lang und eventuell auch lebenslang fortgesetzt werden (10). Alternativ ist eine Psychotherapie zur Erhaltung mit ähnlich guter prophylaktischer Wirksamkeit verbunden.
Verträglichkeit von Antidepressiva bei Langzeiteinnahme
Werden Antidepressiva länger als 24 Monate eingenommen, erhöht sich das Risiko für die Entwicklung von Diabetes. Bei SSRI ist dieses Risiko etwas höher als unter Trizyklika (11).
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Eine Depression ist aufgrund des ungünstigen Verhaltens, biologischer Faktoren und der Einnahme von Antidepressiva mit einem erhöhten Risiko für Osteoporose verbunden. In einer Studie waren SSRI mit einem höheren Osteoporoserisiko als andere Antidepressiva assoziiert (12). Die Anwendung von Lithium zur Augmentation sollte, wie bereits erwähnt, in Absprache mit dem Nephrologen erfolgen. Aripiprazol (Abilify®, Abilify Maintena® und Generika) wird derzeit am häufigsten zur Augmentation angewendet und gilt als sehr gut verträglich bei älteren Personen.
Elektrokrampftherapie
«Die EKT ist im Alter besser wirksam als in allen anderen Altersgruppen und besonders gut in der Gruppe von 70 bis 79 Jahren», so der Referent (13). Auch bei kognitiven Defiziten könne man hier Erfolge erzielen. Im Anschluss an die EKT trete meist, wenn auch langsam, eine Erholung auf ein besseres Niveau als zuvor ein (14).
Vermeidung von Depressionen im Alter
Zum Abschluss seines Vortrags ging Klöppel auf die Mög-
lichkeiten zur Prävention von Depressionen bei älteren Men-
schen ein. Zu den wichtigsten Massnahmen gehören die Ver-
meidung von Übergewicht, Inaktivität, Alkohol und Rau-
chen. Des Weiteren sind Massnahmen zur Vermeidung der
sozialen Isolation, wie Besuchsdienste oder gesellige Wohn-
formen, von Bedeutung. Seh- und Hörstörungen sollten kor-
rigiert werden, weil sie die soziale Interaktion einschränken.
Bei manchen Senioren ist auch eine Fortführung der Medika-
tion mit Antidepressiva über 2 bis 3 Jahre von prophylakti-
schem Nutzen (15).
s
Referenzen: 1. Schweizerisches Gesundheitsobservatorium (Obsan); Schuler D et al.:
Psychische Gesundheit in der Schweiz; 15/2020. 2. Heisel MJ et al.: Does the geriatric depression scale (GDS) distinguish
between older adults with high versus low levels of suicidal ideation? Am J Geriatr Psychiatry. 2005;13(10):876-883. 3. Blumenthal JA et al.: Effects of exercise training on depressive symptoms in patients with chronic heart failure: the HF-ACTION randomized trial. JAMA. 2012;308(5):465-474. 4. Günak MM et al.: Risk of Suicide Attempt in Patients With Recent Diagnosis of Mild Cognitive Impairment or Dementia. JAMA Psychiatry. 2021;78(6):659-666. 5. Klöppel S, Jessen F (Hrsg.): Praxishandbuch Gerontopsychiatrie und -psychotherapie, 2. Auflage, 2020. Urban & Fischer. ISBN 978-3-437-24436-0. 6. Tunvirachaisakul C et al.: Predictors of treatment outcome in depression in later life: a systematic review and meta-analysis. J Affect Disord. 2018;227:164-182. 7. Cuijpers P et al.: Psychotherapy for Depression Across Different Age Groups: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA Psychiatry. 2020;77(7):694-702. 8. Hatzinger et al.: Empfehlungen für Diagnostik und Therapie der Depression im Alter. Praxis. 2018;107(3):127-144. 9. Dudas et al.: Antidepressants for treating depression in dementia. Cochrane Database Syst Rev. 2018;8(8):CD003944. 10. Kok RM, Reynolds CF: Management of Depression in Older Adults: A Review. JAMA. 2017;317(20):2114-2122. 11. Andersohn et al.: Long-term use of antidepressants for depressive disorders and the risk of diabetes mellitus. Am J Psychiatry. 2009;166(5):591598. 12. Haney E et al.: Association of low bone mineral density with selective serotonin reuptake inhibitor use by older men. Arch Intern Med. 2007;167(12):1246-1251. 13. Dols A et al.: Early- and Late-Onset Depression in Late Life: A Prospective Study on Clinical and Structural Brain Characteristics and Response to Electroconvulsive Therapy. Am J Geriatr Psychiatry. 2017;25(2):178-189. 14. van Schaik AM et al.: Efficacy and Safety of Continuation and Maintenance Electroconvulsive Therapy in Depressed Elderly Patients: A Systematic Review. Am J Geriatr Psychiatry. 2012;20(1):5-17. 15. Almaida OP: Prevention of depression in older age. Maturitas. 2014;79(2):136-141.
Petra Stölting
Quelle: Vortrag «Depression im Alter» von Prof. Dr. med Stefan Klöppel, FOMF Update Refresher Psychiatrie und Psychotherapie, Zürich, 5. Mai 2023.
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