Transkript
FORTBILDUNG
Patienten in Bewegung bringen!
Kardiovaskuläre Prävention
In der Coronapandemie haben Menschen auch ihre sportlichen Aktivitäten zurückgefahren. Besonders erschreckend sind die Auswirkungen auf das Körpergewicht und die Beweglichkeit der Kinder. Das Problem betrifft aber auch Erwachsene. Höchste Zeit also, auf den protektiven Nutzen regelmässiger körperlicher Bewegung aufmerksam zu machen und Tipps zu geben, wie man Patienten zum Sport motivieren kann.
Damian Franzen, Jens Hagemeister
Zahlreiche Studien belegen eine Gewichtszunahme von 10 bis 25 Prozent während der Pandemie (1, 2). Laut einer Untersuchung des Instituts für Ernährungsmedizin der Technischen Universität München sind hier besonders diejenigen betroffen, die bereits zuvor ein Gewichtsproblem hatten. Für die Betroffenen sind daher langfristige Folgen der Pandemie zu befürchten. Und das sollte Anlass für eine ärztliche Beratung sein.
Individuelles Risiko einschätzen
Über Jahre basierte das Konzept der kardiovaskulären Prävention auf den Begriffen der Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention, wobei sich Empfehlungen an vorausgegangenen kardiovaskulären Ereignissen orientierten. Demgegenüber formulierte Prof. H. Golke aus Bad Krozingen schon 2007 ein Konzept, dass Prävention primär auf dem Boden einer Risikostratifizierung beruhen sollte. Inzwischen liegen validierte Datenbanken vor, die eine Abschätzung des individuellen kardiovaskulären Risikos ermöglichen. Aus den Risikofaktoren Geschlecht, Alter, Raucherstatus, Blutdruck, HDL(high-density lipoprotein)- und LDL(low-density lipoprotein)-Cholesterin lässt sich eine Unterteilung in niedriges, moderates, hohes und sehr hohes kardiovaskuläres Risiko
MERKSÄTZE
� Kardiovaskuläre Morbidität wird wesentlich durch Risikofaktoren bestimmt.
� Körperliche Bewegung und Sport zeigen einen dosisabhängigen schützenden Effekt.
� Motivation zum Sport ist der wesentliche Faktor in der ärztlichen Praxis.
� Individuelle Beratung ist besonders bei speziellen Fragestellungen notwendig.
vornehmen (3). Leitliniengemäss soll das Präventionsprogramm primär dem entsprechenden Risiko angepasst werden. Laut amerikanischen Leitlinien soll ab dem 40. Lebensjahr eine gründliche Evaluation der Familienanamnese und der Risikokonstellation erfolgen, um daraus weiterführende Empfehlungen zu Ernährung, Sport und Körpergewicht treffen zu können.
Bewegung trägt zum Wohlbefinden bei
Solche Daten haben den Charme, einheitliche Konzepte zu formulieren, bergen aber das Problem, dass individuelle Konstellationen untergehen. So ist es beispielsweise schwierig, die Effekte von Übergewicht von denen durch Bewegungsmangel zu trennen. Zahllose Studien haben den protektiven Nutzen von regelmässiger körperlicher Bewegung und Sport auf die kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität hervorgehoben. Auch tragen indirekte Effekte wie beispielsweise die bessere Blutzuckerkontrolle durch körperliche Bewegung dazu bei. Sport hat sehr viele Facetten, die zum allgemeinen Wohlbefinden beitragen und deren präventiver Schutz vor kardiovaskulären Schäden gesichert ist. Es ist das Ziel und die Schwierigkeit, jeden Einzelnen zu körperlicher Bewegung zu motivieren. Die amerikanische Präventionsleitlinie (4) fasst den vielleicht wichtigsten Ansatz wie folgt zusammen: Aerober Sport ist grundsätzlich sehr sicher für jedermann Bei Menschen mit überwiegend sitzender Tätigkeit sollen sportliche Aktivitäten langsam und sukzessive gestartet werden; diese Menschen tragen das grösste kardiovaskuläre Risiko. Die jüngsten amerikanischen Leitlinien aus 2019 empfehlen 150 Minuten moderaten Ausdauersport oder 75 Minuten intensiven Sport pro Woche als Mindestleistung. Gleichzeitig gilt aber: Jede sportliche Leistung zählt! Es besteht eine enge umgekehrte Dosis-Wirkungs-Beziehung zwischen moderatem und intensivem Sport und der kardiovaskulären Morbidität (5). Es gibt kein unteres Limit, ab dem die Wirkung des Sports erst zutage tritt. Wie der Alltag der
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ärztlichen Praxis zeigt, ist der erste Schritt in den Sport der schwierigste und bedarf einer sehr individuellen Auslotung der Möglichkeiten und Präferenzen. Der Kauf einer 10erKarte im Sportstudio oder ähnliche Ansätze sind meist kontraproduktive Vorschläge; dagegen führt der langsame Start mit einer selbstgewählten Aktivität – vielleicht auch mit einem Partner – eher zum Ziel.
Moderat ist besser als intensiv
Der präventive Effekt von intensivem und besonders intensivem Sport auf die kardiovaskuläre Morbidität ist weitaus geringer als beim moderaten Ausdauersport. Zudem können neue Risiken wie Verletzungen und auch kardiovaskuläre Ereignisse beim Sport hinzutreten. Gerade bei älteren Menschen gilt es, das Trainingsausmass und auch die Obergrenzen individuell zu besprechen. Marathonlaufen oder sehr hohe Berge zu besteigen ist bei vielen Menschen in ihren Fünfzigern sehr populär. Diese Aktivitäten haben sicher keinen präventiven Charakter; sie dürften vielmehr als besonderes Risiko eingestuft werden. Wenn geeignete Voraussetzungen vorliegen und eine gründliche Vorbereitung unter medizinischer Betreuung gegeben ist, bestehen keine Einwände. Wie bei jedem Gelegenheitssportler gilt jedoch auch hier die Notwendigkeit, die individuellen Risiken und Grenzen zu besprechen.
Für Herzkranke gelten andere Regeln
Sport für herzkranke Menschen ist ebenfalls ein wesentlicher und wichtiger Therapieansatz. Herzsportgruppen in Deutschland sind weit verbreitet und oft ein guter Start nach der Verunsicherung durch eine Herzerkrankung. Sport sollte nur in stabilen Krankheitsphasen gestartet werden. Bei Herzkranken gelten andere Regeln und Grenzen im Sport, die nicht Thema dieser Abhandlung sind. Es sollte jedoch hervorgehoben werden, dass Menschen mit Synkopen und/oder ernsthaften Herzrhythmusstörungen keinen Intensivsport betreiben sollten.
Nicht übertreiben!
Hochleistungssport gehört nicht zur kardiovaskulären Prävention. Dessen Ausübung erfordert nicht nur einen versierten Trainer, sondern auch eine regelmässige medizinische Betreuung. Kliniken für Sportmedizin oder Ärzte mit der Zusatzqualifikation Sportkardiologie sind hier die Ansprechpartner. Hochleistungs- bzw. Intensivsportler sind speziellen kardiovaskulären Risiken ausgesetzt, die noch nicht hinreichend geklärt sind. Hierzu zählt insbesondere das gehäufte Auftreten von Vorhofflimmern überwiegend bei männlichen Ausdauersportlern mittleren Alters. Das in zahlreichen Stu-
Beispiele moderater Ausdauersport (nach [4])
▲ schnelles Gehen ▲ Radfahren ▲ Wasser-Aerobic ▲ Tennis-Doppel ▲ Tanzen ▲ Gartenarbeit
dien beschriebene Phänomen soll möglicherweise auch eine
genetische Disposition haben.
Doping gehörte vormals in den Leistungssport, hat aber seit
Jahren auch den «normalen» Sportler erreicht. Die Situation
mit den vielen unterschiedlichen Substanzen ist völlig unüber-
sichtlich. Anabole Substanzen beschleunigen die Atheroskle-
rose, andere Substanzen beeinflussen Ermüdungserscheinun-
gen.
Insgesamt bleibt zumindest festzuhalten, dass der reine Leis-
tungsgedanke beim Sport nicht primäres Ziel der kardiovas-
kulären Prävention ist.
s
Prof. Dr. med. Damian Franzen FA Innere Medizin/Kardiologie/Pneumologie
Dr. med. Jens Hagemeister FA Innere Medizin/Kardiologie/Sportmedizin D-50968 Köln
Interessenlage: Die Autoren haben keine Interessenkonflikte deklariert.
Dieser Artikel erschien erstmals in «doctors today» 10/22. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autoren.
Literatur: 1. Baysun S, Akar MN: Weight gain in children during the COVID-19 quaran-
tine period. J Paediatr Child Health. 2020;56(9):1487-1488. 2. Rundle AG et al.: COVID-19-related school closings and risk of weight
gain among children. Obesity. 2020;28(6):1008-1009. 3. SCORE2 Working Group and ESC Cardiovascular Risk Collaboration:
SCORE2 risk prediction algorithms: new models to estimate 10-year risk of cardiovascular disease in Europe. Eur Heart J. 2001;42(25):2439-2454. 4. Arnett DK et al.: 2019 ACC/AHA Guideline on the Primary Prevention of Cardiovascular Disease: A Report of the American College of Cardiology/ American Heart Association Task Force on Clinical Practice Guidelines. J Am Coll Cardiol. 2019;74(10):e177-e232. 5. Eijsvogels TMH et al.: Exercise at the extremes: the amount of exercise to reduce cardiovascular events. J Am Coll Cardiol. 2016;67(3):316-329.
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