Transkript
Medikamente gegen Adipositas
Leitlinienempfehlungen der AGA
FORTBILDUNG
Die American Gastroenterological Association (AGA) hat eine neue Guideline zur Anwendung von Medikamenten bei Adipositas formuliert. Zu den empfohlenen Substanzen gehören Semaglutid und Liraglutid sowie einige weitere Präparate, die nur in den USA auf dem Markt sind.
Gastroenterology
Die Prävalenz der Adipositas ist in den USA innerhalb der letzten Jahrzehnte dramatisch angestiegen. Infolgedessen haben auch adipositasbedingte Komplikationen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfall, Diabetes mellitus Typ 2, nicht alkoholische Steatohepatitis, obstruktive Schlafapnoe, Osteoarthritis und bestimmte Krebsarten beträchtlich zugenommen. Veränderungen des Lebensstils sind die Eckpfeiler im Management der Adipositas. Diese Massnahmen sind jedoch bei den meisten Betroffenen nur begrenzt und nicht dauerhaft wirksam. Deshalb wurden mittlerweile zahlreiche Medikamente mit hoher Effektivität bezüglich der Gewichtsabnahme entwickelt. In einer neuen Guideline haben Experten der AGA nun evidenzbasierte Empfehlungen für die Anwendung verschiedener Substanzen bei der Behandlung von Übergewicht und Adipositas bei Erwachsenen zusammengestellt. Grundsätzlich empfiehlt die AGA für übergewichtige oder adipöse Erwachsene mit gewichtsbedingten Komplikationen eine ergänzende pharmakologische Behandlung bei unzureichendem Ansprechen auf Lebensstilmassnahmen. Bei der Auswahl geeigneter Medikamente ist zu beachten, dass diese voraussichtlich dauerhaft appliziert werden müssen.
MERKSÄTZE
� Veränderungen des Lebensstils sind die wichtigsten Massnahmen zur Behandlung von Übergewicht und Adipositas.
� Bei unzureichendem Ansprechen auf Lebensstilveränderungen wird zusätzlich eine medikamentöse Behandlung empfohlen.
� Semaglutid gilt als Medikament der ersten Wahl zur dauerhaften Behandlung von Adipositas.
� Vom Lipasehemmer Orlistat wird abgeraten.
GLP-1-Rezeptor-Agonisten
Den GLP-1-Rezeptor-Agonisten (GLP: glucagon-like peptide; GLP-1-RA) Semaglutid (2,4 mg) empfehlen die AGA-Experten als Medikament der ersten Wahl zur Langzeitbehandlung von Adipositas. GLP-1 ist ein körpereigenes Inkretinhormon, das in der Darmschleimhaut als Reaktion auf die Nahrungsaufnahme gebildet wird. GLP-1-Rezeptoren befinden sich in der Bauchspeicheldrüse, im Magen-Darm-Trakt, im Herz, im Gehirn, in den Nieren, in der Lunge und in der Schilddrüse. Dieses ubiquitäre Vorkommen ist mit vielfältigen Vorteilen im Hinblick auf Typ-2-Diabetes, Gewichtsverlust und Kardioprotektion verbunden. Semaglutid weist glukoregulatorische Vorteile auf und ist auch zur Behandlung von Typ-2Diabetes zugelassen. Bezüglich der Gewichtsreduktion ist Semaglutid mit einer dosisabhängigen Wirksamkeit assoziiert. Mit diesem Medikament kann ein beträchtlicher Gewichtsverlust erzielt werden. Semaglutid verzögert die Magenentleerung, was mitunter zu Übelkeit und Erbrechen führt. Mit einer schrittweisen Dosistitration kann diese unerwünschte Wirkung vermieden werden. Alternativ empfiehlt die AGA den GLP-1-RA Liraglutid (3,0 mg), dessen Wirkungen und Nebenwirkungen mit denen von Semaglutid vergleichbar sind. Der erzielbare Gewichtsverlust ist allerdings geringer. Liraglutid und Semaglutid sollten nicht zusammen mit anderen GLP-1-RA oder DPP-4-Hemmern (DPP: Dipeptidylpeptidase) angewendet werden. Aufgrund der verzögerten Magenentleerung können GLP-1-RA die Absorption einiger oraler Arzneimittel beeinträchtigen. Bei der Anwendung von GLP-1-RA in Kombination mit Insulin oder Insulinsekretagoga (z. B. Sulfonylharnstoffen) ist Vorsicht geboten. Die Dosis sollte individuell angepasst und die Patienten sollten im Hinblick auf Hypoglykämien überwacht werden. Die GLP1-RA selbst stimulieren die Insulinsekretion in Abhängigkeit von Glukose und sind daher mit einem sehr geringen Hypoglykämierisiko verbunden.
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FORTBILDUNG
Steckbrief
Wer hat die Guideline erstellt? American Gastroenterological Association (AGA)
Wann wurde sie erstellt? 2023
Für welche Patienten? Erwachsene mit Übergewicht oder Adipositas
Was ist neu? ▲ Starke Empfehlung für eine medikamentöse Therapie bei Erwach-
senen mit einem BMI ≥ 30 kg/m2 oder ≥ 27 kg/m2 und ≥ 1 gewichtsbedingten Komplikationen, bei denen mit Lebensstilmassnahmen kein ausreichender Erfolg erzielt werden kann. ▲ Die AGA empfiehlt eine Behandlung mit Semagluitid (2,4 mg), Liraglutid (3,0 mg), Phentermin-Topiramat ER, Naltrexon-Bupropion ER (moderate Sicherheit der Evidenz) sowie mit Phentermin oder Diethylpropion (geringe Sicherheit der Evidenz). ▲ Von Orlistat rät die AGA ab. ▲ Für Gelesis 100 liegen keine ausreichenden Daten zur Beurteilung der Wirksamkeit und Sicherheit vor.
Phentermin-Topiramat ER
Im Jahr 2012 genehmigte die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) die Kombination aus Phentermin mit sofortiger Wirkung und Topiramat mit verlängerter Freisetzung (extended release [ER]; Qsymia®, in der Schweiz nicht im Handel) als Ergänzung zu einer kalorienreduzierten Diät und erhöhter körperlicher Aktivität zur langfristigen Gewichtskontrolle bei Erwachsenen mit einem Ausgangs-BodyMass-Index BMI) ≥ 30 oder ≥ 27 kg/m2 und mindestens 1 gewichtsbedingten Komplikation wie Bluthochdruck, Diabetes Typ 2 oder Dyslipidämie. Bei Phentermin handelt es sich um ein Sympathomimetikum, dessen Wirkmechanismus wahrscheinlich auf einer Konzentrationserhöhung von Noradrenalin im zentralen Nervensystem beruht. Topiramat ist seit vielen Jahren für die Behandlung von Epilepsie und Migränekopfschmerzen zugelassen. Die Kombination Phentermin-Topiramat ER eignet sich daher vor allem für Patienten mit komorbider Migräne. Bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen in der Vorgeschichte und unkontrolliertem Bluthochdruck sollte die Kombination nicht angewendet werden. Da Topiramat teratogen wirkt, sind Frauen im gebärfähigen Alter auf die Notwendigkeit einer konsequenten Verhütung hinzuweisen. Während der Einnahme phenterminhaltiger Medikamente ist eine regelmässige Kontrolle von Blutdruck und Herzfrequenz erforderlich. Die Grössenordnung der mit Phentermin-Topiramat ER erzielbaren Gewichtsabnahme wurde von den AGA-Experten als moderat bis hoch beurteilt.
Naltrexon-Bupropion ER
Die FDA hat die Kombination aus dem Opioidantagonisten Naltrexon und Bupropion, einem Antidepressivum aus der Klasse der Noradrenalin-Dopamin-Wiederaufnahme-Hemmer (NDRI; Contrave®, in der Schweiz nicht im Handel), als ergänzende Therapie zu Lebensstilmassnahmen für die dauer-
hafte Gewichtskontrolle bei Erwachsenen mit einem BMI ≥ 30 oder ≥ 27 kg/m2 und mindestens 1 gewichtsbezogenen Komplikation zugelassen. Diese Kombination eignet sich für adipöse Patienten, die versuchen, das Rauchen aufzugeben, oder für depressive Personen. Bei Patienten mit Anfallsleiden soll die Kombination gar nicht und bei Personen mit einem Anfallsrisiko nur mit Vorsicht angewendet werden. Des Weiteren sollte Naltrexon-Bupropion ER nicht gleichzeitig mit opioidhaltigen Medikamenten gegeben werden. Auch während der Anwendung von Naltrexon-Bupropion ER ist eine regelmässige Kontrolle von Blutdruck und Herzfrequenz erforderlich. Dies gilt vor allem in den ersten 12 Behandlungswochen. Den erzielbaren Gewichtsverlust beurteilen die AGA-Experten als moderat.
Orlistat
Von Orlistat (Xenical®) rät die AGA ab. Patienten, die das Medikament dennoch anwenden möchten, sollten zusätzlich täglich ein Multivitaminpräparat mit fettlöslichen Vitaminen (A, D, E, K) im Abstand von 2 Stunden zu Orlistat einnehmen. Dieser Wirkstoff hemmt gastrointestinale Lipasen im Lumen des Magens und des Dünndarms. Die inaktivierten Enzyme können etwa ein Drittel des mit der Nahrung aufgenommenen Fetts nicht mehr in resorbierbare freie Fettsäuren und Monoglyzeride hydrolysieren. Die unverdauten Triglyzeride werden wieder ausgeschieden, was zu einem Kaloriendefizit und zu anschliessendem Gewichtsverlust führt. Im evidenzbasierten Entscheidungsfindungsprozess der AGA wurde der mit Orlistat erreichbare Gewichtsverlust als gering, das Nebenwirkungspotenzial dagegen als mässig eingeschätzt.
Phenterminmonotherapie
Phentermin (in der Schweiz nicht mehr im Handel) ist als Monotherapie von der FDA für eine kurzfristige Anwendung von bis zu 12 Wochen zugelassen. Allerdings wird das Medikament häufig «off-label» länger angewandt, weil eine dauerhafte Behandlung des Übergewichts erforderlich ist. Für Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen in der Anamnese ist Phentermin nicht geeignet. Blutdruck und Herzfrequenz sollten während der Einnahme regelmässig überwacht werden. In den 1990er-Jahren wurde Phentermin in Verbindung mit Fenfluramin («Fenphen») Millionen von Patienten in den Vereinigten Staaten verschrieben. Im Jahr 1997 wurde dann der erste Bericht über Herzklappenerkrankungen und Lungenhochdruck im Zusammenhang mit diesem Kombinationspräparat veröffentlicht. Phentermin ist als Substanz nach Liste IV eingestuft, da es zu Missbrauch und Abhängigkeit kommen kann.
Diethylpropion
Auch Diethylpropion (Regenon®, in der Schweiz nicht registriert) ist von der FDA nur zur kurzfristigen Anwendung in Verbindung mit Kalorienrestriktion und erhöhter körperlicher Aktivität über 12 Wochen zugelassen, wird jedoch häufig «off-label» länger angewendet. Diethylpropion ist für Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen in der Vorgeschichte nicht geeignet. Blutdruck und Herzfrequenz sollten während der Einnahme regelmässig kontrolliert werden. Ähnlich wie andere sympathomimetische Amine kann Diethylpropion das Zentralnervensystem (ZNS) stimulieren. Die
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Substanz wurde jedoch chemisch modifiziert, um diese und andere adrenerge Wirkungen zu begrenzen. Da die Adipositas eine chronische Erkrankung ist, die eine langfristige Behandlung erfordert, und Studien sich nur über 3 bis 12 Monate erstreckten, wurde die Evidenz aufgrund fehlender Langzeitdaten als gering eingestuft. Den erzielbaren Gewichtsverlust beurteilen die AGA-Experten als mässig. Insgesamt sprechen sie nur eine bedingte Empfehlung für dieses Medikament aus.
Gelesis 100 Hydrogel
Die Anwendung von Gelesis 100 (in der Schweiz nicht zugelassen) empfiehlt die AGA nur im Rahmen klinischer Studien bei Erwachsenen mit einem BMI zwischen 25 und 40 kg/m2. Bei Gelesis 100 handelt es sich um eine Kapsel mit hyperabsorbierenden Hydrogelkugeln aus modifizierter Zellulose und Zitronensäure. Diese bilden nach der Einnahme eine vorübergehende, raumgreifende dreidimensionale Matrix aus Zellulose, Zitronensäure, Wasser und Nahrungsmitteln im Magen. Im Gegensatz zu den von der FDA zugelassenen Magenballons, die bis zur Entfernung im Magen bleiben, bewegt sich die dreidimensionale Matrix durch den Gastrointestinaltrakt bis zum Dickdarm und wird dort abgebaut.
Die Wasserkomponente der Matrix wird rückresorbiert, die
anderen Bestandteile werden mit dem Stuhl ausgeschieden.
Der Wirkmechanismus beruht auf einem verstärkten Sätti-
gungsgefühl und einer verringerten Kalorienaufnahme in-
folge des erhöhten Magenvolumens. Die empfohlene Dosie-
rung beträgt 3 Kapseln (2,25 g/Dosis) mit Wasser vor dem
Mittag- und Abendessen.
Das AGA-Gremium konnte für die Verwendung von Gelesis
100 keine Empfehlung aussprechen, da zu diesem Präparat
nur eine einzige randomisierte, kontrollierte Studie mit gerin-
ger Sicherheit der Evidenz vorlag. Hier erzielten die Proban-
den über einen Zeitraum von 24 Wochen eine geringe Ge-
wichtsabnahme.
s
Petra Stölting
Quelle: Grunvald E et al.: AGA Clinical Practice Guideline on Pharmacological Interventions for Adults With Obesity. Gastroenterology. 2022;163(5):1198-1225.
Interessenlage: Die Autoren der referierten Guideline erklären, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
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