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FORTBILDUNG
Leitsymptom Schwindel: Diagnose leicht gemacht
Mindestens jeder Dritte leidet in seinem Leben mindestens 1-mal unter Schwindel. Was steckt dahinter? Je nach Art und Dauer des Schwindels, den Auslösern und möglichen Begleitsymptomen lassen sich die verschiedenen Schwindelsyndrome gut unterscheiden und nach korrekter Diagnosestellung heutzutage auch wirksam behandeln.
Michael Strupp
Die Diagnose der verschiedenen peripheren, zentralen und sogenannten funktionellen Schwindelsyndrome beruht auf der Kombination einer systematischen Anamnese mit einer klinischen Untersuchung der vestibulären, okulomotorischen und zerebellären Systeme sowie des Hörvermögens. Die Diagnosestellung ist durch die neuen, sehr klinisch orientierten Diagnosekriterien der Bárány Society weiter vereinfacht worden, die Sie auf der Webseite http://www.jvr-web.org/ICVD. html herunterladen können. Im Folgenden werden die diagnostischen Kriterien und die Therapie der häufigsten peripheren, zentralen und funktionellen Schwindelsyndrome beschrieben (vgl. auch Kasten 1).
Periphere vestibuläre Syndrome
Bilaterale Vestibulopathie Leitsymptome der bilateralen Vestibulopathie (BVP) sind bewegungsabhängiger Schwankschwindel mit Gang- und Standunsicherheit, verstärkt in Dunkelheit und auf unebenem Grund, sowie bei etwa der Hälfte der Patienten Oszillopsien beim Gehen und bei Kopfbewegungen. Typischerweise sind die Patienten im Sitzen und Liegen beschwerdefrei. Die Ätiologie ist in mehr als 50 Prozent der Fälle neurodegenerativ. Therapie der Wahl ist tägliches aktives Gleichgewichtstraining.
Akute unilaterale Vestibulopathie Die akute unilaterale Vestibulopathie (AUVP, Neuritis vestibularis) ist gekennzeichnet durch akut einsetzenden, ohne
MERKSÄTZE
� Bei Schwindel gilt es, Art, Dauer, Auslöser und Begleitsymptome (z. B. Hörstörung, Kopfschmerz) zu erfragen.
� Bei jedem Patienten mit Schwindel sollte ein diagnostisches Lagerungsmanöver durchgeführt werden.
� Bei V.a. akutes zentrales vestibuläres Syndrom sollte eine Einweisung in eine neurologische Klinik erfolgen.
Therapie für > 24 h anhaltenden Drehschwindel mit Oszillopsien, Fallneigung, Übelkeit, horizontal torsionellem Nystagmus (zur nicht betroffenen Seite, durch Fixation supprimierbar; Abbildung 1) sowie durch eine einseitige, peripher vestibuläre Funktionsstörung des vestibulookulären Reflexes (VOR; Abbildung 2). Ursache ist meist die Reaktivierung einer latenten HSV-1-Infektion (HSV: Herpes-simplex-Virus). Die Therapie basiert auf 3 Prinzipien: s vorübergehend Kortison zur Reduktion der Nerven-
schwellung s Betahistin (> 3-mal 96 mg/Tag) zur Verbesserung der Sym-
ptome und der zentralen Kompensation s tägliches Gleichgewichtstraining während 4 Wochen.
Benigner peripherer paroxysmaler Lageschwindel Das Leitsymptom des benignen peripheren paroxysmalen Lageschwindels (BPPV) sind rezidivierende, durch Lageänderungen des Kopfes relativ zur Schwerkraft ausgelöste, Sekunden anhaltende Drehschwindelattacken. Ursache sind frei bewegliche Otokonien im meist posterioren Bogengang. Bei korrekter Durchführung lassen sich alle Patienten mittels Befreiungsmanövern erfolgreich behandeln (Abbildung 3).
Morbus Menière Die aktuellen diagnostischen Kriterien beim Morbus Menière (MM) sind: s ≥ 2 Schwindelepisoden von 20 min bis 12 h Dauer s nachgewiesene Hörminderung (< 2000 Hz, mindestens
–30 dB), assoziiert mit den Schwindelepisoden s fluktuierender Tinnitus oder Ohrdruck im betroffenen
Ohr. Haben Patienten mehr als 2 Schwindelepisoden pro Monat, ist eine prophylaktische Langzeitbehandlung (z. B. mit > 3-mal 96 mg/Tag Betahistin) indiziert.
Vestibularisparoxysmie Die Diagnose einer Vestibularisparoxysmie lässt sich stellen, wenn Patienten mindestens 10 Sekunden bis zu 1 Minute dauernde, spontan auftretende, relativ gleichförmig ablau-
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Abbildung 1: Klinische Untersuchung mittels M-Brille: Leichtes (8 g), mithilfe elastischer Bügel an der Nase selbstständig sitzendes Untersuchungsinstrument mit vergrößernden Fresnel-Linsen (+20 dpt); diese verhindern die visuelle Fixation. Lässt sich ein Nystagmus nicht durch visuelle Fixation unterdrücken, handelt es sich nicht um einen peripheren vestibulären Spontannystagmus (© Michael Strupp).
Kasten 1:
Anamnese: die 4 wichtigen Unterscheidungskriterien der verschiedenen Schwindelsyndrome
1. Dauer der Symptome a) Schwindelepisoden über ▲ Sekunden bis wenige Minuten (z. B. benigner periphe-
rer paroxysmaler Lageschwindel [BPPV], Vestibularisparoxysmie [VP], orthostatischer Schwindel, transitorische ischämische Attacke [TIA]) ▲ viele Minuten bis Stunden (z. B. Morbus Menière [MM], vestibuläre Migräne [VM]) b) akut einsetzende, über Tage bis wenige Wochen anhaltende Symptome: «akutes vestibuläres Syndrom»: akute unilaterale Vestibulopathie (AUVP) oder Hirnstamm- bzw. Kleinhirninfarkt c) > 3 Monate anhaltende Symptome (z. B. bilaterale Vestibulopathie [BVP], funktioneller Schwindel [FS], neurodegenerative Erkrankungen)
2. Art des Schwindels Drehschwindel (z. B. BPPV, AUVP) Schwankschwindel (z. B. BVP, FS)
3. Auslösbarkeit/Modulierung Schwindel ▲ spontan auftretend (z. B. MM, VP, VM) ▲ beim Gehen (z. B. BVP, FS) ▲ bei Kopflageänderung relativ zur Schwerkraft (z. B.
BPPV) ▲ in bestimmten sozialen Situationen wie Menschen-
mengen, Kaufhaus (z. B. FS)
4. Mögliche Begleitsymptome «Otogene» Symptome (z. B. MM) Potenzielle Hirnstamm-/Kleinhirnsymptome Episodischer Kopfschmerz und/oder Licht- oder Lärmempfindlichkeit, typisch für VM
Abbildung 2: Kopfimpulstest: Um ein Defizit des vestibulookulären Reflexes (VOR) festzustellen, werden rasche Kopfbewegungen nach rechts und links durchgeführt und gleichzeitig die kompensatorischen Augenbewegungen beobachtet. Ist z. B. das rechte Gleichgewichtsorgan ausgefallen, bewegen sich die Augen bei raschen Kopfbewegungen nach rechts ebenfalls nach rechts, und der Patient muss eine Einstellsakkade durchführen, das klinische Zeichen für ein VOR-Defizit (© Michael Strupp).
fende Schwindelattacken beschreiben und auf eine Behandlung mit Lacosamid oder Oxcarbazepin in adäquater Dosis ansprechen, also ex juvantibus.
Zentrale vestibuläre Syndrome
Zentrale vestibuläre Syndrome können sich manifestieren als s akutes zentrales vestibuläres Syndrom (AZVS), Schwank-
oder Drehschwindel, meist durch eine Ischämie in Hirnstamm oder Zerebellum s rezidivierende Attacken wie bei der vestibulären Migräne s persistierendes Syndrom wie beim «zerebellären Schwindel». Bei V.a. AZVS sollte eine sofortige Einweisung in eine neurologische Klinik erfolgen.
Vestibuläre Migräne Die vestibuläre Migräne ist die häufigste Ursache für rezidivierende, spontan auftretende Schwindelepisoden. Nach den aktuellen diagnostischen Kriterien ist diese wie folgt definiert: s ≥ 5 Episoden mit vestibulären Symptomen mittlerer oder
starker Intensität und einer Dauer von 5 min bis 72 h s aktive oder frühere Migräne mit oder ohne Aura s ≥ 1 Migränesymptom während mindestens 50 Prozent der
vestibulären Episoden.
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Abbildung 3: Diagnostisches Manöver für einen benignen peripheren paroxysmalen Lageschwindel (BPPV) am Beispiel des Lagerungsmanövers für den rechten posterioren Bogengang: Zunächst wird der Kopf des Patienten um 45° nach links gedreht und dann der Patient auf die rechte Seite bewegt. Das Manöver für die linke Seite ist spiegelbildlich. Jeder Patient mit Schwindel sollte auf diese Weise untersucht werden, unabhängig von der Anamnese (© Michael Strupp).
Die Behandlung entspricht der Behandlung anderer Migräneformen.
Kasten 2:
Die 4 wichtigsten Aspekte der körperlichen Untersuchung des vestibulären Systems
1. Untersuchung auf einen Spontannystagmus mit Fixation und mittels der Frenzel- oder M-Brille (Abbildung 1)
2. Kopfimpulstest nach Halmagyi zur Diagnose eines einoder beidseitigen Funktionsdefizits des VOR (Abbildung 2)
3. Lagerungsmanöver mit der Frage nach einem BPPV, die bei jedem Patienten unabhängig von der Anamnese durchgeführt werden sollen (Abbildung 3)
4. Untersuchung des Stand- (Romberg-Test) und Gehvermögens mit offenen/geschlossenen Augen und verschiedenen Schwierigkeitsgraden (Füsse nebeneinander, Tandem-Romberg, Stehen auf 1 Bein), insbesondere mit der Frage nach sensorischen Defiziten der vestibulären und/oder somatosensorischen Systeme
vidualisierte Kombination verschiedener Therapieverfahren
(Psychoedukation; medikamentöse Behandlung, insbeson-
dere selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer [SSRI]/Se-
rotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer [SNRI];
kognitive Verhaltenstherapie) empfohlen.
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«Zerebellärer Schwindel» Persistierende Schwindel- sowie Gleichgewichts- und Gangstörungen infolge zerebellärer Erkrankungen sind eine besondere diagnostische Herausforderung. Der Schlüssel zu dieser Diagnose ist die Untersuchung der Augenbewegungen, da praktisch alle Patienten mindestens eine zerebelläre Okulomotorikstörung vorweisen, wie sakkadierte Blickfolge, allseitigen Blickrichtungsnystagmus und insbesondere Downbeat-Nystagmus. Die Diagnose «zerebellärer Schwindel» ist wichtig, da sich viele Formen medikamentös behandeln lassen (z. B. mit 4-Aminopyridin oder Acetyl-DL-Leucin).
Funktioneller Schwindel Der funktionelle Schwindel (FS) ist die häufigste Schwindelform, insbesondere beim jungen Erwachsenen. Dazu gehören der phobische Schwankschwindel und die «persistent postural-perceptual dizziness». Leitsymptom ist persistierender Schwank- und Benommenheitsschwindel, der sich in bestimmten Situationen wie Menschenansammlungen oder in Kaufhäusern verstärkt und häufig beim Sport und nach leichtem Alkoholgenuss geringer ausgeprägt ist und zu Vermeidungsverhalten führen kann. Betroffen sind oft Menschen mit einer perfektionistischen Primärpersönlichkeit. Zur Behandlung des funktionellen Schwindels wird meist eine indi-
Univ. Prof. Dr. med. Dr. h.c. Michael Strupp Neurologische Klinik und Deutsches Schwindel- und Gleichgewichtszentrum LMU Klinikum, LMU München, Campus Grosshadern D-81377 München
Interessenlage: M. Strupp ist Mitherausgeber des «Journal of Neurology» und von «F1000», zudem Chefherausgeber von «Frontiers of Neurootology». Er hat Referentenhonorare erhalten von Abbott, Auris Medical, Biogen, Eisai, Grünenthal, GSK, Henning Pharma, Interacoustics, J&J, MSD, NeuroUpdate, Otometrics, Pierre-Fabre, TEVA, UCB und Viatris. Er hat Forschungsunterstützung erhalten von DECIBEL, Cures Within Reach (USA) und Heel. Er vertreibt die M-Brille «M-glasses» und die Lagerungsschwindel-App. Er übt eine Beratertätigkeit aus für Abbott, AurisMedical, Bulbitec, Heel, IntraBio, Sensorion und Vertify. Er besitzt Aktien von IntraBio.
Dieser Artikel erschien erstmals in «doctors today» 4/23. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
Literatur: 1. Strupp M et al.: Vertigo – Leitsymptom Schwindel. 2022: Springer, Heidel-
berg. 2. Strupp M et al.: Vestibular Disorders. Dtsch Arztebl Int. 2020;117:300-
310.
Weitere aktuelle Literatur kann gerne beim Verfasser per E-Mail (Michael. Strupp@med.uni-muenchen.de) angefragt werden.
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