Transkript
BERICHT
Adipositas
Ursachen und Lösungen eines komplexen Problems
«Ganz schön wütend» könne man angesichts der Stigmatisierung übergewichtiger Personen werden, sagte Prof. Katharina Timper, Leitende Ärztin, Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Metabolismus, Universitätsspital Basel, an der medArt in Basel. In einem temperamentvollen Vortrag gab sie einen Überblick über die Ursachen der Adipositas und darüber, wie man die Patienten behandeln und unterstützen kann.
Zu Beginn ihres Vortrags erläuterte Timper, dass es sich bei Übergewicht und Adipositas um eine globale Epidemie handelt. Bereits jetzt sind 60 Prozent der Erwachsenen und ein Drittel der Kinder in Europa davon betroffen. Und der Trend zur Gewichtszunahme setzt sich weiter fort (1). Das Problem bei der Adipositas stellten allerdings nicht das Gewicht, sondern die zahlreichen Komorbiditäten dar, die damit vergesellschaftet seien, so die Referentin. Dazu gehören kardiovaskuläre Erkrankungen und Typ-2-Diabetes sowie verschiedene Krebsarten, Leberverfettung und möglicherweise auch demenzielle Erkrankungen. Diese Komorbiditäten führen zu einer drastischen Einschränkung der Lebenserwartung. «Wir gehen davon aus, dass es bei einer schweren Adipositas zu einer Verkürzung der Lebenserwartung um 10 bis 14 Jahre kommt», erklärte Timper. Ausserdem leide die Lebensqualität der Betroffenen in allen Bereichen massiv. Diese Qualitäten gelte es zu verbessern und die Mortalität zu senken.
Adipositas – eine plurifaktorielle Erkrankung
Die Referentin wies darauf hin, dass es sich bei der Adipositas um eine plurifaktorielle Erkrankung handelt, bei der (epi-)genetische und (neuro-)biologische Faktoren sowie äussere Bedingungen wie der Lebensstil, aber auch gewichtsbedingte Stigmatisierungen eine Rolle spielen.
KURZ & BÜNDIG
� Bei der Adipositas handelt es sich um eine plurifaktorielle chronische Erkrankung.
� Die Behandlung erfolgt multimodal, interdisziplinär und individuell.
� Für den Erfolg ist die Entstigmatisierung der Patienten ein entscheidender Faktor.
� Grundpfeiler der Behandlung sind eine ausgewogene Ernährung und körperliche Aktivität.
� Zur gezielten Adipositastherapie stehen GLP-1-Analoga und bariatrische Eingriffe zur Verfügung.
Um einen Teil des komplexen Prozesses zu veranschaulichen, ging Timper auf die neurobiologischen Faktoren im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme ein. Zum einen gibt es die homöostatische Nahrungsaufnahme: Man isst, weil man Hunger hat. Dieser biologische Anteil wird durch zahlreiche Hormone gesteuert. Das wichtigste, GLP(glucagon-like peptide)-1, reduziert das Hungergefühl, der Gegenspieler, das Hormon Ghrelin, steigert es. Die hedonische Nahrungsaufnahme, geprägt durch die psychologische Komponente von Freude und Genuss beim Essen, wird durch Dopamin sowie durch Opioidund Cannabinoidrezeptoren vermittelt. Und zu guter Letzt wird die Nahrungsaufnahme auch durch eine Exekutivfunktion, nämlich durch die bewusste Entscheidung, etwas zu essen, gesteuert. Timper wies darauf hin, dass letztere im Zweifel immer von den beiden anderen Dimensionen dominiert wird. «Es sind autonome Prozesse, die darüber entscheiden, wann, was und wie wir essen, und nicht unser Wille», betonte die Professorin. Zentrale Schaltstelle für die Regulation des Zucker- und Energiestoffwechsels ist der Hypothalamus. Hier befinden sich Proopiomelanocortin(POMC)-Neurone, die bei Aktivierung, zum Beispiel durch GLP-1, die Nahrungsaufnahme reduzieren, sowie AgRP(Agouti-related peptide)-Neurone, die bei Aktivierung, zum Beispiel durch Ghrelin, die Nahrungsaufnahme steigern. Wie mächtig dieses zweite System wirkt, demonstrierte Timper anhand eines Experiments mit einer satten Maus. Sobald ihre AgRP-Neurone über eine Elektrode im Gehirn mit blauem Laserlicht aktiviert wurden, fing sie an zu fressen. «Sie will nicht essen, sondern sie muss, und sie würde bei fortbestehender Aktivierung nicht mehr aufhören, bis sie tot umfällt. Sie hat keine Chance, diesem Drang zu widerstehen», so die Referentin. Vergleichbares geschieht vermutlich auch beim Menschen im Gehirn. Im Zusammenhang mit Adipositas werde der Hypothalamus somit von der Schaltstelle zur Störstelle für die Regulation des Zucker- und Energiestoffwechsels, erklärte Timper. Innerhalb der komplexen Steuerungsvorgänge gibt es vielfältige Möglichkeiten für anatomische und biochemische Dysregulationen, die zu Adipositas führen können. Timpers Fazit: «Adipositas ist nicht die Folge einer vermehrten Nahrungsaufnahme, sondern eine vermehrte Nahrungsaufnahme ist die Folge von Adipositas.»
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Stigmatisierung – Ursache und Folge der Adipositas
Im Zusammenhang mit Adipositas spielt auch die bereits erwähnte Stigmatisierung der Betroffenen eine wichtige Rolle. Sie ist gleichzeitig Ursache und Folge der Adipositas. «Die Patienten erfahren gesamtgesellschaftlich, aber auch im Gesundheitssektor eine systematische Abwertung und Diskriminierung», so Timper. Die Adipositas führt zu einer externen Stigmatisierung, die psychologischen Stress erzeugt. Dies führt zu emotionalem Essverhalten, zur Funktion von Essen als Coping-Strategie und zur Vermeidung körperlicher Aktivitäten. Im Lauf der Zeit kommt es dann auch zur Internalisierung der Stigmatisierung, zur Selbstzuschreibung der Schuld. Auch die Stigmatisierung durch Ärzte stelle ein Problem dar, sagte Timper. In einer multinationalen Studie mit 13 996 Erwachsenen im Alter von 18 bis 89 Jahren mit einem durchschnittlichen Body-Mass-Index (BMI) von 30,5 kg/m2 gaben 66,6 Prozent der Teilnehmer an, durch einen Arzt eine gewichtsbezogene Stigmatisierung erfahren zu haben (2). Die Referentin wies darauf hin, dass diese Patienten gegenüber Ärzten voraussichtlich niemals mehr ihr Problem ansprechen würden. Das Vertrauen sei dann für immer zerstört.
Was ist bei der Therapie grundsätzlich zu beachten?
Bei der Adipositas handele es sich um eine chronische Erkrankung; dies müsse bei jedem Patientengespräch verbalisiert werden, so Timper, und es gebe auch keine «Schuld». «Empathie und Wertschätzung sind im Umgang mit den Betroffenen absolut zentral», führte sie weiter aus. Auch kleinste Erfolge sollten wertgeschätzt und der Patient unterstützt werden. Die Behandlung der Adipositas erfolgt stets als Teamaufgabe zusammen mit dem Patienten sowie multidisziplinär und interprofessionell. Die Grundlage bildet eine multimodale Lebensstiländerung. Dabei ist auf eine ausgewogene Ernährung zu achten, die dem Patienten Freude bereitet. Von grosser Bedeutung sind auch sportliche Aktivitäten, die ebenfalls in erster Linie mit Spass verbunden sein sollten. Im Rahmen einer Verhaltenstherapie können psychische Komorbiditäten wie Angststörungen, Depressionen oder auch Essstörungen adressiert werden. Der Zielwert des Gewichtsverlusts ist abhängig von den gesundheitlichen Verbesserungen, die erreicht werden sollen. So kann mit einem Gewichtsverlust von bis zu 5 Prozent bereits eine Verbesserung des Blutdrucks und der Hyperglykämie erzielt werden, während für die Senkung des kardiovaskulären Sterblichkeitsrisikos eine Gewichtsabnahme von 15 Prozent oder mehr erforderlich ist. «Bei den meisten Patienten wird ein Verlust von 10 bis 15 Prozent des Körpergewichts und, wenn möglich, auch mehr angestrebt», erklärte Timper.
Gezielte Adipositastherapie – Medikamente und Bariatrie
Zur gezielten Behandlung der Adipositas stehen Medikamente und bariatrische chirurgische Eingriffe zur Verfügung. «Die gezielte Pharmakotherapie der Adipositas fusst ganz klar auf dem Inkretinhormon GLP-1», erklärt die Professo-
rin. Dieses vermindert den Anreiz zur Nahrungsaufnahme im Gehirn und steigert die Insulinsekretion im Pankreas. Die zentralen Effekte von GLP-1 betreffen die Energieaufnahme. Das Hungergefühl und das Verlangen nach Essen werden reduziert, das Sättigungsgefühl wird erhöht, und die Kontrolle des Essverhaltens wird verbessert. Darüber senkt sich das Gewicht. GLP-1 weist aber auch noch weitere positive metabolische Effekte auf. Es vermindert in der Leber die Glukoneogenese und Fetteinlagerungen, es verzögert die Magendarmpassage, und es erhöht die Insulinsensitivität im Muskel.
GLP-1-Analoga Liraglutid und Semaglutid
Mit dem GLP-1-Analogon Liraglutid (Saxenda®) kann bei Personen, die darauf ansprechen, eine Gewichtsreduktion von etwa 10 Prozent erreicht werden. 20 bis 25 Prozent der Patienten gehören allerdings zu den «early non-responder» (3). Die Ursache dafür ist unbekannt. Das Gewicht kann mit Liraglutid gesenkt und erhalten werden; es steigt aber wieder an, wenn das Medikament abgesetzt wird (4). Mit Liraglutid wird zudem eine Reduktion des Risikos für kardiovaskuläre Ereignisse wie Schlaganfall und Herzinfarkt um 30 bis 40 Prozent erreicht (5). Zu den Nebenwirkungen gehören Diarrhö, Obstipation, Übelkeit und selten auch Erbrechen. Diese seien häufig gut auszuhalten und durch langsames Einschleichen zu verhindern, erklärte Timper. Mit dem noch wirksameren GLP-1-Analogon Semaglutid (Wegovy®; 2,4 mg) kann eine Gewichtsabnahme um etwa 16 Prozent erreicht werden (6).
GIP-/GLP-1-Rezeptor-Agonist Tirzepatid
Beim dualen Agonisten Tirzepatid (Mounjaro®) wurde GLP-1 mit dem glukoseabhängigen insulinotropen Polypeptid (GIP) gekoppelt. Mit Tirzepatid wird ein Gewichtsverlust von 23 Prozent erreicht (7). Diese noch ausgeprägtere gewichtsreduzierende Wirksamkeit beruht darauf, dass Tirzepatid im Vergleich zu Plazebo und zu Semaglutid bei gleicher Kalorienaufnahme und gleicher Erhöhung des Sättigungsgefühls (8) den Energieverbrauch steigert (9). «Mit diesem Präparat treten wir in eine neue Zeitrechnung ein», so Timper begeistert.
Weitere Medikamente in der Entwicklung
Bei Mäusen konnte mit dem GIP-/GLP-1-/Glukagon-Tripelagonisten LY3437943 sogar ein Gewichtsverlust von 50 Prozent erzielt werden (10). Dies sei auch bei Menschen zu erwarten, denn «Mausdaten korrelieren exzellent mit den Humandaten bei diesen Multiagonisten», erklärte Timper. Des Weiteren befänden sich aber auch noch zahlreiche weitere gewichtsreduzierende Medikamente in der Entwicklung.
Bariatrische Chirurgie
Die bariatrische Chirurgie behält ihren Stellenwert für Patienten, welche die Medikamente nicht vertragen, nicht darauf ansprechen oder sie nicht anwenden möchten. Bariatrische Eingriffe sind für Patienten mit einem BMI ≥ 35 kg/m2 und ausgeprägten Begleiterkrankungen oder bei einem BMI ≥ 30 kg/m2 in Verbindung mit nicht kontrolliertem Diabetes Typ 2 (HbA1c ≥ 8% über ≥ 12 Monate) geeignet. Als Alternativen stehen ein Schlauchmagen oder ein Magen-
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bypass zur Verfügung. Nach dem Eingriff kommt es zu einer Gewichtsabnahme um 20 bis 30 Prozent vom Ausgangsgewicht, deren Maximum etwa 1 bis 2 Jahre nach der Operation erreicht wird. Die kardiovaskuläre Risikoreduktion liegt bei 30 bis 50 Prozent (11). «Der Eingriff erfolgt im Magen-Darm-Bereich. Aber eigentlich operieren wir im Gehirn, weil es dadurch zu Veränderungen der Hormone kommt, zu Veränderungen der neuronalen Schaltung. Deswegen haben die Patienten wieder ein Sättigungsgefühl. Sie wollen anders essen, und sie sind viel zufriedener in Bezug auf das Essen», erklärte Timper. Zudem verlängert die bariatrische Chirurgie das Überleben. Dies zeigte sich in einer Metaanalyse über 17 Studien mit 174 772 Teilnehmern. Hier wurde die Gesamtmortalität um 49,2 Prozent gesenkt. Das mediane Überleben wurde bei Patienten mit Diabetes mellitus um 9,3 Jahre und bei Personen ohne Diabetes mellitus um 5,1 Jahre verlängert (12). s
Petra Stölting
Quelle: «Ganz schön wütend – Adipositas», Vortrag von Prof. Dr. Katharina Timper, Universitätsspital Basel, an der medArt Basel 2023 am 23. Juni 2023
Referenzen: 1. WHO European Regional Obesity Report 2022 2. Puhl RM et al.: The roles of experienced and internalized weight stigma
in healthcare experiences: Perspectives of adults engaged in weight management across six countries. PLoS One. 2021;16(6):e0251566. 3. Fujioka et al.: Early Weight Loss with Liraglutide 3.0 mg Predicts 1-Year Weight Loss and is Associated with Improvements in Clinical Markers. Obesity (Silver Spring). 2016;24(11):2278-2288. 4. Le Roux CW et al.: 3 years of liraglutide versus placebo for type 2 diabetes risk reduction and weight management in individuals with prediabetes: a randomised, double-blind trial. Lancet. 2017;389(10077):1399-1409. 5. Davies MJ et al.: Liraglutide and cardiovascular outcomes in adults with overweight or obesity: a post hoc analysis from SCALE randomized controlled trials. Diabetes Obes Metab. 2018;20(3):734-739. 6. Widing JPH: Once-Weekly Semaglutide in Adults with Overweight or Obesity. N Engl J Med. 2021;384(11):989-1002. 7. Jastreboff AM et al.: Tirzepatide Once Weekly for the Treatment of Obesity. N Engl J Med. 2022;387(3):205-216. 8. Heise T et al.: Tirzepatide Reduces Appetite, Energy Intake, and Fat Mass in People With Type 2 Diabetes. Diabetes Care. 2023;46(5):998-1004. 9. Coskun T et al.: LY3298176, a novel dual GIP and GLP-1 receptor agonist for the treatment of type 2 diabetes mellitus: from discovery to clinical proof of concept. Mol Metab. 2018;18:3-14. 10. Coskun T et al.: LY3437943, a novel triple glucagon, GIP, and GLP-1 receptor agonist for glycemic control and weight loss: from discovery to clinical proof of concept. Cell Metab. 2022;34(9):1234-1247. 11. English WJ et al.: Cardiovascular risk reduction following metabolic and bariatric surgery. Ann Transl Med. 2020;8(Suppl 1):S12. 12. Syn NL et al.: Association of metabolic-bariatric surgery with long-term survival in adults with and without diabetes: a one-stage meta-analysis of matched cohort and prospective controlled studies with 174 772 participants. Lancet. 2021;397:1830-41.
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