Transkript
ARZT UND RECHT
Die juristische Perspektive
Was darf ein Vertrauensarzt, was nicht?
Der Umgang mancher Ärzte mit dem Arztgeheimnis erfolgt nicht immer mit der nötigen Sorgfalt. Rasch kann, freilich ohne böse Absichten, eine Schweigepflichtverletzung vorliegen. Beispielsweise sind bei der Erstellung eines Arbeitsunfähigkeitszeugnisses die Grenzen eng gesteckt. Das gilt auch für dessen Überprüfung durch den Vertrauensarzt im Auftrag eines Arbeitgebers. Was darf der Vertrauensarzt seinem Auftraggeber preisgeben, ohne sich strafbar zu machen? Wer ist der jeweilige Geheimnisherr, und welche Informationen gegenüber wem unterliegen dem Arztgeheimnis? Der folgende Fall schildert eine Situation, in die mehrere Personen involviert sind und in der die Protagonisten möglicherweise nicht in erster Linie ans Berufsgeheimnis denken, weil andere Fragen im Vordergrund stehen.
Gehen wir zunächst von einem Sachverhalt aus, in welchem sich die Frage nach einer Schweigepflichtverletzung offensichtlich stellt und wo das Bundesgericht eine solche auch angenommen hat. Der hier nachfolgend präsentierte Sachverhalt entspricht weitgehend dem im Bundesgerichtsentscheid BGE 143 IV 209 wiedergegebenen. Der besseren Verständlichkeit wegen wird der im Bundesgerichtsentscheid geschilderte Sachverhalt allerdings in verschiedenen Punkten ergänzt beziehungsweise abgeändert. Die rechtlich wesentlichen Punkte bleiben aber unverändert.
Der Fall: Im Frühling kündigte A. als Verwaltungsrat der B. AG, dem Angestellten C. per Ende November. C. wurde in der Folge krank und begab sich am 10. Mai erstmals in ärztliche Behandlung. Der konsultierte Arzt, Dr. Y., attestierte ihm daraufhin eine 100-prozentige Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit für zunächst 3 Wochen. Im Arbeitsunfähigkeitszeugnis, das Dr. Y. der Arbeitgeberin korrekt und rechtzeitig einreichte, wurden also, wie das üblich ist, lediglich die Arbeitsunfähigkeit als solche, ihre voraussichtliche Dauer und «Krankheit» als Grund der Arbeitsunfähigkeit angegeben. Alles Informationen, die grundsätzlich dem Arztgeheimnis unterliegen und die der konsultierte Arzt nur dann an Dritte weitergeben darf, wenn er vom Geheimnisherr dazu ermächtigt wor-
den ist. Dies ist er insbesondere dann, wenn dieser von ihm verlangt, ein Arbeitsunfähigkeitszeugnis auszustellen und der Arbeitgeberin zuzusenden, weil damit das implizite Einverständnis einhergeht, diese dem Arztgeheimnis unterliegenden Informationen zur Kenntnis zu bringen. Dr. Y. bestätigte in den folgenden Wochen mehrfach die anhaltende Arbeitsunfähigkeit von C. Die Arbeitsunfähigkeit von C. hatte zur Folge, dass dieser einerseits nicht mehr zur Arbeit erschien, andererseits aber die (laufende) Kündigungsfrist erheblich verlängert wurde und damit auch die Lohnfortzahlungspflicht. C. informierte seine Arbeitgeberin nicht über den Grund für seine Arbeitsunfähigkeit, wozu er wohlverstanden auch nicht verpflichtet war. Auch auf entsprechende Nachfrage des Vorgesetzten hin weigerte er sich, weitere Informationen zu geben, was er rechtlich ebenfalls durfte. Sein Vorgesetzter A. hegte bei so viel Geheimnistuerei den Verdacht, dass der Angestellte eine Arbeitsunfähigkeit lediglich vortäuschte, um mit Hilfe von Dr. Y. unzulässigerweise von den Kündigungsschutzbestimmungen des Arbeitsrechts zu profitieren. Diese sehen für den Fall einer länger andauernden Krankheit während der Kündigungsfrist vor, dass
Die Serie «Die juristische Perspektive» wird von Dr. iur. Beat Schmidli, Advokat, langjähriger Partner in einem Advokaturbüro in Basel, seit 2014 Präsident Strafgericht, Jugendgericht und Zwangsmassnahmengericht Kanton Basel-Landschaft, verfasst. Die Serie beleuchtet verschiedene Situationen, in die ein Arzt im Rahmen seiner Tätigkeit geraten kann.
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der Lohn für eine gewisse Zeit auch über das ursprüngliche Kündigungsdatum hinaus zu bezahlen ist. Die B. AG erkundigte sich daraufhin direkt bei Dr. Y., dem Arzt ihres Angestellten, nach dem Grund seiner Arbeitsunfähigkeit. Dieser weigerte sich jedoch, irgendwelche diesbezüglichen Auskünfte zu erteilen, wozu er aufgrund der ärztlichen Schweigepflicht auch verpflichtet war. Dr. Y. attestierte am 31. August letztmals eine vollständige Arbeitsunfähigkeit von C. wegen Krankheit bis zum 12. September. Die B. AG hatte, wie erwähnt, den Verdacht, bei den eingereichten Arbeitsunfähigkeitszeugnissen handle es sich um reine Gefälligkeitsbestätigungen, tatsächlich sei C. gesund und arbeitsfähig. Die B. AG verlangte deshalb eine vertrauensärztliche Untersuchung von C., um darüber Klarheit zu erlangen, ob C. tatsächlich krank sei. C. war damit einverstanden und er begab sich am 9. September zum Vertrauensarzt Dr. X., der ihn untersuchte. Am Folgetag sandte X. eine sehr ausführliche «Vertrauensärztliche Beurteilung der Arbeitsfähigkeit von C.» an die B. AG. und als Orientierungskopie an C. C., der davon ausgegangen war, der Vertrauensarzt prüfe im Wesentlichen die Frage, ob er arbeitsfähig sei oder eben nicht, stellte daraufhin einen Strafantrag gegen Dr. X. Der Umfang und der Detaillierungsgrad der Beurteilung hätten den Rahmen eines Zeugnisses über eine vertrauensärztliche Untersuchung bei Weitem gesprengt. Das Strafgericht erklärte darauf am 18. November Dr. X. der Verletzung des Berufsgeheimnisses schuldig und bestrafte ihn.
Was führte zum Schuldspruch?
Beim geschilderten Sachverhalt stellt sich offensichtlich die Frage, ob der Vertrauensarzt Dr. X. diesen Bericht an die B. AG senden durfte oder ob er mit diesem Vorgehen seine Berufspflicht verletzt hat. Das Bundesgericht hat letztinstanzlich in dem von ihm beurteilten Fall festgestellt, dass eine Berufspflichtverletzung vorliege, und es hat aus nachfolgend wiedergegebenen Gründen den von der Vorinstanz gefällten Schuldspruch bestätigt. Auf den ersten Blick scheint klar zu sein, dass für den Vertrauensarzt gegenüber Dritten grundsätzlich die allgemeinen Regeln über die Schweigepflicht gelten: Der Vertrauensarzt dürfte demnach Dritten gegenüber keine Geheimnisse offenbaren, die ihm infolge seines Berufs anvertraut worden sind oder die er in dessen Ausübung wahrgenommen hat. Dr. X. stellt sich nun aber auf den Standpunkt, diese Regel gelte für einen Arzt nicht, sobald dieser als Vertrauensarzt beispielsweise im Auftrag eines Arbeitgebers oder einer Versicherung tätig sei. Das Verfassen eines Berichts als Vertrauensarzt sei weder eine diagnostische noch eine therapeutische Tätigkeit, die er für C. erbracht habe. Er habe im Auftrag der B. AG und mit Einverständnis von C. einen Bericht über dessen Gesundheitszustand verfasst und diesen der B. AG zur Kenntnis gebracht. Die Tätigkeit des Vertrauensarztes sei eben keine ärztliche Tätigkeit im Sinne von Art. 321 Abs. 1 StGB, sondern vielmehr eine gutachterliche Tätigkeit, und als Gutachter übe er nicht den Beruf eines Arztes aus.
Keine Ausnahme für Vertrauensärzte
Im bundesgerichtlichen Entscheid wird in E1 festgehalten, dass Tatsubjekt von Art. 321 StGB (gemeint ist damit der
Täter) jede Person sein könne, die über einen medizinischen Hochschulabschluss verfüge. Also auch Ärzte, die bloss diagnostisch oder als medizinische Experten tätig sind. Mithin unterstehe auch der Vertrauensarzt eines Arbeitgebers dem Berufsgeheimnis nach Art. 321 StGB. Dem Berufsgeheimnis verpflichtet seien, heisst es im Gerichtsentscheid, im Übrigen auch Amts- oder Anstaltsärzte, Rechtsmediziner und Pathologen. Ob und in welchem Umfang der Arzt dem Besteller berichten dürfe, hänge davon ab, ob er seitens des Arbeitnehmers vom Geheimnis entbunden worden sei. Das bedeutet, dass der Vertrauensarzt nur in dem Umfang Informationen in seinen Bericht aufnehmen darf, in welchem er vom Geheimnisherr dazu ermächtigt worden ist. Der Umfang dieser Ermächtigung wird wiederum vom Arbeitnehmer bestimmt und nicht vom Vertrauensarzt. Dieser wird dem Arbeitnehmer mitteilen, welche Informationen er für seinen Bericht benötigt. Ob er diese Informationen aber tatsächlich erhält, liegt in den Händen des Arbeitnehmers und nicht in denen des Vertrauensarztes. Selbst wenn in unserem Fall Dr. X. Herrn C. darüber informiert hat, welche Daten er an die Arbeitgeberin zu übermitteln gedenke, erlaubt ihm das nicht, dem Arbeitgeber jede beliebige Information, die dem Geheimnis unterliegt, zu liefern, sofern er dazu nicht ausdrücklich ermächtigt worden ist.
Was ist nicht strafbar?
Der Täter ist nach Art. 321 Ziff. 2 StGB also nicht strafbar,
wenn er das Geheimnis aufgrund einer Einwilligung des Ge-
heimnisherrn offenbart. Praktisch heisst das, dass der Ver-
trauensarzt sich grundsätzlich zumindest teilweise gegen un-
beabsichtigte Geheimnisverletzungen absichern kann, indem
er bei entsprechenden Aufträgen den Geheimnisherrn eine
Entbindungserklärung unterzeichnen lässt. Damit wird der
Umfang der Befreiung vom Arztgeheimnis definiert. Wenn
man nach rechtlichen Grenzen der Befreiung vom Arztge-
heimnis sucht, sind sie an verschiedenen Stellen zu finden. Zu
erwähnen sind diesbezüglich der Praxisleitfaden der Schwei-
zerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften und
der Verbindung der Schweizer Ärzte und Ärztinnen (Praxis-
leitfaden SAMW/FMH). Das Manual der Schweizerischen
Gesellschaft für Vertrauens- und Versicherungsärzte weist
explizit darauf hin, dass in das Arbeitsunfähigkeitszeugnis
zuhanden eines Arbeitgebers oder eines Versicherers nur die
unbedingt erforderlichen Angaben aufzunehmen seien. Es
handle sich hierbei um die Personalien des Betroffenen, den
Begriff Arbeitsunfähigkeit darum, ob es sich um Krankheit
oder Unfall handle, um Beginn und Ende der Arbeitsunfähig-
keit sowie den Grad derselben, das Ausstellungsdatum des
Zeugnisses sowie um Stempel und Unterschrift des Arztes.
Aus Art. 328 b Obligationenrecht ergibt sich eine weitere
vom Vertrauensarzt zu beachtende Schranke bezüglich der
an den Arbeitgeber zu übermittelnden Informationen. Nach
dieser Bestimmung darf der Arbeitgeber Daten über den Ar-
beitnehmer nur bearbeiten, soweit sie dessen Eignung für das
Arbeitsverhältnis betreffen oder zur Durchführung des Ar-
beitsvertrags notwendig sind. Die «Vertrauensärztliche Be-
urteilung der Arbeitsfähigkeit von C.» entspricht offensicht-
lich nicht diesen Vorgaben.
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Dr. iur. Beat Schmidli
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