Transkript
FORTBILDUNG
Wann Pharmakotherapie, wann Psychotherapie, wann Augmentation?
Therapie bei akuter Major-Depression
Die neue Leitlinie des American College of Physicians (ACP) stellt die überarbeiteten klinischen Empfehlungen zur nicht medikamentösen und medikamentösen Erst- und Zweitlinientherapie in der akuten Phase einer Major-Depression zusammen.
Annals of Internal Medicine
Anhand der Schwere der Symptome bei akuter Major-Depression (major depressive disorder, MDD) erfolgt die Einteilung in leichte, mittelschwere und schwere Formen. Von einer schweren Erkrankung ist etwa ein Drittel betroffen, rund 75 Prozent der MDD-Patienten weisen auch eine begleitende Angststörung auf. Bei der Behandlung ist zu unterscheiden zwischen einer Akutphase (6–12 Wochen), der Fortsetzungsphase (4–9 Monate) und der Erhaltungstherapie (≥ 1 Jahr). Die Fortsetzungstherapie zielt darauf ab, die Remission zu erhalten und einen Rückfall zu vermeiden, die Erhaltungstherapie versucht, Rezidiven – also abgegrenzten, neuerlichen depressiven Episoden – vorzubeugen. Für die Behandlung stehen verschiedene Optionen offen, zu denen Pharmakotherapie und nicht pharmakologische Behandlungsansätze wie Psychotherapie, Komplementär- und Alternativmedizin sowie körperliche Trainingstherapie zählen.
Welche Erstlinientherapie für wen?
In der akuten Phase einer mittelschweren bis schweren MDD empfiehlt das ACP eine Monotherapie entweder mit kogniti-
Steckbrief
Wer hat die Guideline erstellt? American College of Physicians (ACP)
Wann wurde sie aktualisiert? 2023
Für welche Patienten? Erwachsene mit akuter Phase einer Major-Depression
Was ist neu? ▲ Empfehlungen zur medikamentösen und nicht pharmakologischen
Initialtherapie bei akuten Phasen einer Major-Depression leichter respektive mittelschwerer bis schwerer Ausprägung. ▲ Empfehlungen zum Vorgehen bei Nichtansprechen oder ungenügendem Ansprechen auf die Initialbehandlung (Zweitlinientherapie).
ver Verhaltenstherapie oder einem Zweitgenerationsantidepressivum als Initialbehandlung. Dies ist eine starke Empfehlung, basierend auf Evidenz mittlerer Gewissheit, die dafür spricht, dass zwischen den beiden Monotherapien wahrscheinlich keine Unterschiede bestehen (Kasten 1). Dies bedeutet aber auch, dass in der Behandlung der MDD ein individualisierter Ansatz zu verfolgen ist, der die Patientenpräferenzen hinsichtlich verschiedener Behandlungsoptionen berücksichtigt, wie die Leitlinie mehrfach betont. In der Grundversorgung werden am häufigsten Zweitgenerationsantidepressiva als Initialbehandlung verschrieben. Allerdings kommen unter diesen Medikamenten bis zu 70 Prozent der MDD-Patienten nicht in eine Remission und verbleiben nach dem ersten pharmakologischen Therapieversuch noch in der akuten Krankheitsphase. Im Vergleich zu Patienten mit leichter oder mittelschwerer MDD sprechen solche mit schwerer MDD schlechter an. Evidenz geringer Gewissheit deutet darauf hin, dass eine Kombinationsbehandlung mit kognitiver Verhaltenstherapie keinen zusätzlichen Nutzen bringen könnte. Bei leichter MDD empfiehlt die Guideline hingegen eine Monotherapie mit kognitiver Verhaltenstherapie zur Initialbehandlung. Da die Behandlungsstudien vor allem Patienten mit schwereren Erkrankungsformen rekrutierten, ist dies nur eine bedingte Empfehlung, basierend auf Evidenz geringer Gewissheit (Kasten 1). In den pharmakologischen Behandlungsstudien wurden selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (selective serotonin reuptake inhibitors, SSRI), Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (serotonin-norepinephrine reuptake inhibitors, SNRI) sowie andere Antidepressiva mit unterschiedlichen Wirkmechanismen eingesetzt.
Was tun bei Nichtansprechen der Erstlinientherapie?
Bei Nichtansprechen auf die Initialbehandlung mit einem Zweitgenerationsantidepressivum in adäquater Dosierung empfiehlt das ACP den Wechsel zu oder die Augmentation mit einer kognitiven Verhaltenstherapie (Kasten 2). Dies ist nur eine bedingte Empfehlung auf der Basis von Evidenz ge-
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FORTBILDUNG
Kasten 1:
Empfehlungen des American College of Physicians (ACP) zur Initialtherapie bei akuter Major-Depression
▲ In der akuten Phase einer mittelschweren bis schweren Major-Depression empfiehlt das ACP eine Monotherapie entweder mit kognitiver Verhaltenstherapie oder einem Zweitgenerationsantidepressivum als Initialbehandlung.
▲ In der akuten Phase einer mittelschweren bis schweren Major-Deperession schlägt das ACP eine Kombinationstherapie aus kognitiver Verhaltenstherapie und einem Zweitgenerationsantidepressivum als Initialbehandlung vor.
▲ Bei Patienten mit einer akuten Phase einer leichten Major-Depression schlägt das ACP eine Monotherapie mit kognitiver Verhaltenstherapie als Initialbehandlung vor.
starke Empfehlung; Evidenz mittlerer Gewissheit
bedingte Empfehlung; Evidenz geringer Gewissheit
bedingte Empfehlung; Evidenz geringer Gewissheit
Kasten 2:
Empfehlungen des American College of Physicians (ACP) zur Zweitlinientherapie bei akuter Major-Depression
Das ACP schlägt eine der folgenden Optionen vor für Patienten in der akuten Phase einer mittelschweren bis schweren Ma-
jor-Depression, die auf die Initialbehandlung mit einem Zweitgenerationsantidepressivum in adäquater Dosierung nicht ange-
sprochen haben:
▲ Wechsel zu oder Augmentation mit einer kognitiven Verhaltenstherapie
bedingte Empfehlung;
Evidenz geringer Gewissheit
▲ Wechsel zu einem anderen Zweitgenerationsantidepressivum oder Augmentation
bedingte Empfehlung;
mit einem weiteren Wirkstoff
Evidenz geringer Gewissheit
ringer Gewissheit. Als vernünftige (reasonable) Alternative wird in der Guideline der Wechsel zu einem anderen Zweitgenerationsantidepressivum oder die Augmentation mit einem zusätzlichen antidepressiven Wirkstoff (z. B. Mirtazapin, Bupropion, Buspiron) empfohlen. Die ACP-Guideline befasst sich ausdrücklich nicht mit Zweitlinientherapien nach dem Scheitern einer nicht pharmakologischen Erstlinientherapie. Studien, die Zweitgenerationsantidepressiva als Monotherapie oder Teil einer Kombinationstherapie nicht berücksichtigten, wurden ausgeschlossen. Komplementär- und alternativmedizinische Therapien sind in der Guideline ebenfalls nicht detailliert berücksichtigt. Dazu gehören in den USA auch Johanniskrautpräparate.
Welche Therapieerfolge sind zu erwarten?
Das Guideline-Komitee führte vergleichende EffektivitätsReviews durch. Danach führte eine Monotherapie mit kognitiver Verhaltenstherapie im Vergleich zu einer pharmakologischen Monotherapie «wahrscheinlich» zu keinem Unterschied beim Ansprechen (54,2% vs. 55,4%) und bei der Remissionsrate (40,8% vs. 43,8%; Evidenzgewissheit mässig). Beim Vergleich von Kombinationstherapie und pharmakologischer Monotherapie fanden sich hinsichtlich des Ansprechens (79,4% vs. 77,8%) und der Remission (55,0% vs. 57,3%) ebenfalls keine Unterschiede (Evidenzgewissheit gering). Die alleinige kognitive Verhaltenstherapie barg im Vergleich zur medikamentösen Monotherapie ein geringeres Risiko für Therapieabbrüche wegen Nebenwirkungen (0,8% vs. 6,2%). Bei der Kombinationstherapie bestanden im Vergleich zur alleinigen Pharmakotherapie keine Unterschiede hinsichtlich
Therapieabbrüchen wegen Nebenwirkungen (6,9% vs. 5,6%; Evidenzgewissheit gering). Eine Aussage zu den Häufigkeiten schwerer Nebenwirkungen war aufgrund der unzureichenden Evidenzlage nicht möglich. Die Effektivitäts-Reviews für die verschiedenen Optionen bei der Zweitlinienbehandlung kamen zu folgenden Ergebnissen: Wechselstrategien zu einer verhaltenstherapeutischen Monotherapie im Vergleich zu einer pharmakologischen Monotherapie mit einem anderen Antidepressivum und Augmentationsstrategien durch Verhaltenstherapie oder mit einem zweiten Antidepressivum schienen keine Unterschiede beim Ansprechen (Risikobereich: 22,2–35,4%) und der Remissionsrate (Risikobereich: 26,7–33,3%) zur Folge zu haben (Evidenzgewissheit tief). Wechselstrategien von einem Antidepressivum zu einem anderen zeigten im Vergleich zu den jeweiligen Einzelwirkstoffen keine Unterschiede beim Ansprechen (Risikobereich: 26,1–31,2%) und der Remissionsrate (Risikobereich: 14,7–24,8%; Evidenzgewissheit mässig). Augmentationsstrategien mit einem zweiten Antidepressivum wiesen im Vergleich zu einem blossen Wechsel des Antidepressivums keine Unterschiede beim Ansprechen (Risikobereich: 26,9–53,1%) und bei der Remissionsrate (Risikobereich: 29,7%–36,7%) auf (Evidenzgewissheit mässig). Auch bei den Abbruchraten wegen Nebenwirkungen insgesamt und wegen schwerer Nebenwirkungen liessen sich – allerdings bei geringer Evidenzgewissheit – zwischen Wechsel- und Augmentationsstrategien keine signifikanten Unterschiede nachweisen.
Was es zu beachten gilt
Wenn eine Initialbehandlung mit einem Zweitgenerationsantidepressivum erfolgt, sollten aus Kostengründen nach
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Kasten 3:
Zweitgenerationsantidepressiva (ZGA): übliche Tagesgesamtdosis bei Erwachsenen
Klasse
Wirkstoff
SSR Citalopram
Escitalopram
Fluoxetin
Fluvoxamin
Paroxetin
Sertralin
SNRI Desvenlafaxin#
Duloxetin
Levomilnacipran#
Venlafaxin
Andere
Bupropion
Mirtazapin
Nefazodon#
Trazodon
Vilazodon#
Vortioxetin
Anxiolytikum Buspiron
üblicher täglicher Dosisbereich 20–40 mg 10–20 mg 20–80 mg (90 mg/Woche) 50–300 mg 20–50 mg 50–200 mg 50 mg 20–60 mg 40–120 mg 75–225 mg 150–450 mg 15–45 mg 100–600 mg 50–400 mg 20–40 mg 5–20 mg 5–30 mg
SSRI: selektive Serotoninwiederaufnahmeinhibitoren (selective serotonin reuptake inhibitors), SNRI: Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (serotoninnorepinephrine reuptake inhibitors) # in der Schweiz nicht im Handel
Möglichkeit Generika bevorzugt werden. Auch müssen die ungewissen Therapieaussichten eines ersten Therapieversuchs und die Häufigkeit von Nebenwirkungen unter Antidepressiva im Gespräch deutlich dargelegt werden. Ne-
ACP-Leitlinie «Nonpharmacologic and pharmacologic treatments of adults in the acute phase of major depressive disorder»
https://www.rosenfluh.ch/qr/guide-majordepress
benwirkungen wie Obstipation, Durchfall, Übelkeit, Benom-
menheit, Schlaflosigkeit oder Somnolenz und sexuelle Dys-
funktion sind häufig (bei >5%) und doppelt so hoch wie
unter Plazebo. Der Behandlungsbeginn sollte daher mit einer
tiefen oder minimalen Dosierung erfolgen, und eine Ver-
schlechterung der Symptome sollte nach 1 bis 2 Wochen
überwacht werden. Im Verlauf muss sichergestellt werden,
dass die optimale tolerierte Dosis zur Anwendung kommt,
insbesondere wenn sich die Symptomatik trotz Therapiead-
härenz nicht bessert. Bevor man zu einem Therapiewechsel
oder einer Augmentation übergeht, sollte die Dosierung lang-
sam bis zur maximal zugelassenen Dosis gesteigert werden.
Dosierungshinweise für die verschiedenen Wirkstoffklassen
sind in Kasten 3 zusammengestellt.
Während der ersten beiden Behandlungsmonate soll nach
neuen oder gesteigerten Suizid- oder Selbstschädigungsge-
danken gefragt werden. Für Patienten in der Akutphase einer
leichten MDD, die keine kognitive Verhaltenstherapie er-
halten können, sind Antidepressiva eine vernünftige Alter-
native. Wenn eine Remission erzielt werden konnte, soll die
Antidepressivabehandlung noch für mindestens 4 bis 9 Mo-
nate weitergeführt werden. Um Entzugssymptome zu ver-
hindern, muss die Behandlung langsam ausgeschlichen wer-
den. Patienten mit schwerer Symptomatik, ausgeprägter
Beeinträchtigung oder deutlichem Selbstschädigungsrisiko
gehören in eine spezialärztliche Betreuung. Patienten mit
MDD profitieren von regelmässigem körperlichen Training.
Zumindest der Rat dazu gehört daher in den Behandlungs-
plan.
s
Halid Bas
Quelle: Qaseem A et al.: Nonpharmacologic and pharmacologic treatments of adults in the acute phase of major depressive disorder: a living clinical guideline from the American College of Physicians. Ann Intern Med. 2023;176(2):239-252.
Interessenlage: Die Interessenlagen der Mitglieder des Guideline-Komitees wurden offengelegt. Bei 2 Mitgliedern traten im Beratungsverlauf deutliche Interessenkonflikte zutage, und sie wurden von den weiteren Diskussionen ausgeschlossen.
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