Transkript
SUMMER SCHOOL
«Die Erkrankung ist heute in vielen Fällen sehr gut kontrollierbar»
Was Hausärzte über die systemische Sklerose wissen sollten
Wir haben die am Jahreskongress der EULAR vorgestellten aktualisierten Empfehlungen zur systemischen Sklerose zum Anlass genommen, uns mit PD Dr. med. Dr. rer. nat. Ulrich Gerth, Leiter des Europäischen Zentrums für die Rehabilitation der Sklerodermie, Reha Rheinfelden, über die Chancen der Betroffenen zu unterhalten – welche sich in den letzten Jahren deutlich verbessert haben. Der Experte erläutert, warum es wichtig ist, die Anzeichen zu erkennen und richtig einzuordnen.
ARS MEDICI: Die systemische Sklerose (SSc) ist eine insgesamt seltene Erkrankung mit etwa 1400 erkrankten Personen in der Schweiz. Ein prominentes Beispiel war der Maler Paul Klee. Noch vor wenigen Jahren war es nicht möglich, den Verlauf der Erkrankung aufzuhalten. Betroffene hatten eine hohe Mortalität. Ist das immer noch so? PD Dr. Ulrich Gerth: Gerade in den letzten Jahren gab es eine Weiterentwicklung verschiedener neuer Therapieansätze, die durchaus Hoffnung machen. Man sollte die Frage jedoch differenzierter betrachten. Kennzeichen für die systemische Sklerose sind 3 Pathomechanismen: 1. Inflammation, 2. Vaskulopathie und 3. Fibrose. Wir haben sehr viel über den Pathomechanismus gelernt und können daraus verschiedene Therapieansätze herleiten (siehe Tabelle 1).
Foto: zVg
Zur Person
PD Dr. med. Dr. rer. nat. Ulrich Gerth hat an der Universität Münster in Deutschland Chemie und Medizin studiert und in beiden Fachgebieten doktoriert. Nach der Erlangung seiner Facharzttitel für Innere Medizin, Nephrologie und Rheumatologie hat er an der Medizinischen Fakultät der Universität Münster habilitiert. Zu seinem klinischen Schwerpunkt gehören die entzündlich-rheumatologischen Erkrankungen. Er ist stv. Chefarzt der Reha Rheinfelden und leitet das Europäische Zentrum für die Rehabilitation der Sklerodermie.
Kann man die Inflammation heute besser behandeln? Gerth: Ja. Klinische Folgen einer nicht kontrollierten Inflammation sind insbesondere eine sich entwickelnde interstitielle Lungenerkrankung, englisch Interstitial Lung Disease – kurz ILD – oder Arthritiden beziehungsweise Myositiden sowie eine Serositis. Hier wurden in der Vergangenheit oft Methotrexat und Cyclophosphamid als Basistherapeutika eingesetzt. In den letzten Jahren konnten wir jedoch durch gute Studien dazulernen. Neu sind auch Tocilizumab und Rituximab sowie Mycophenolat-Mofetil in die Leitlinien aufgenommen worden. Bei diesen Substanzen handelt es sich formal um eine Off-label-Anwendung, Tocilizumab ist jedoch bereits von der FDA zur Behandlung einer SSc-assoziierten ILD zugelassen.
Und wie sieht es mit der Fibrose aus? Gerth: Das ist eine wichtige Frage. Die Fibrose äussert sich zum einen an der Haut, zum Beispiel in Form einer Sklerodaktylie, kann aber auch innere Organe betreffen. Im Bereich der Lunge ist die Endstrecke einer Entzündung oft eine Fibrosierung in Form einer interstitiellen Lungenerkrankung. Heute weiss man, dass die Lungenfibrose die wichtigste Or-
ganbeteiligung in Bezug auf die Mortalität der Patienten ist. Seit ein paar Jahren ist deshalb Nintedanib als antifibrotische Therapie zugelassen. Es kann bei vielen Patienten helfen, den Progress der Erkrankung zu stoppen. Wichtig ist hierbei, dass antifibrotische und antiinflammatorische Therapien gut kombiniert werden können.
Gibt es auch bezüglich der Vaskulopathie Neuigkeiten? Gerth: Die Vaskulopathie mit dem Raynaud-Phänomen und digitalen Ulzera ist eine häufige Manifestation der systemischen Sklerose. Hier gibt es jedoch medikamentös in den letzten Jahren keine neuen Entwicklungen oder Neuzulassungen, die in die aktuellen Leitlinien Eingang gefunden haben.
Auf dem EULAR-Kongress in Mailand wurden aktualisierte Leitlinien zur Behandlung der systemischen Sklerose vorgestellt. Was war der Hintergrund? Gerth: Die derzeit vorliegende Leitlinie der EULAR für die Therapie der systemischen Sklerose stammt aus dem Jahr 2017. Seinerzeit wurde in Bezug auf die Hautbeteiligung lediglich Methotrexat als Basistherapie angeraten, in Bezug auf eine Lungenbeteiligung Cyclophosphamid.
412
ARS MEDICI 14–16 | 2023
SUMMER SCHOOL
Tabelle 1:
Pathomechanismus der systemischen Sklerose und mögliche medikamentöse Therapien
Pathomechanismus
Medikamentöse Therapie
Inflammation
MTX, MMF, Rituximab, Tocilizumab
Vaskulopathie
Kalziumantagonisten (CCB),
PDE-5-Hemmer, Iloprost, Bosentan
Fibrosierung Nintedanib
MTX: Methotrexat, MMF: Mycophenolat-Mofetil, PDE: Phosphodiesterase, CCB: Kalziumkanalblocker
Seitdem gab es jedoch viele relevante Neuerungen, insbesondere bei den medikamentösen Therapien, die auf die verschiedenen Pathomechanismen der Erkrankungen abzielen.
Welche sind das im Detail? Gerth: Die neu vorgestellten Leitlinien umfassen 8 klinische Bereiche im Zusammenhang mit Symptomen und Organbeteiligungen bei systemischer Sklerodermie, einschliesslich Raynaud-Phänomen, digitale Ulzera, pulmonale arterielle Hypertonie, Sklerodermie-Nierenkrise, Hautfibrose, interstitielle Lungenerkrankung, gastrointestinale Manifestationen und Arthritis. Die meisten neuen Empfehlungen betreffen den Bereich Hautfibrose und interstitielle Lungenerkrankungen und enthalten Empfehlungen für den Einsatz von Mycophenolat-Mofetil, Nintedanib, Rituximab und Tocilizumab zur Behandlung von Krankheitsmanifestationen (siehe Tabelle 2). Keine dieser Therapien war in den Empfehlungen von 2017 enthalten. Die volle Veröffentlichung der Leitlinie wird gegen Ende des Jahres erwartet. Aktuell liegt nur ein Kongressabstrakt vor (1).
Wie geht man in der Praxis vor, das heisst, welche Therapie beziehungsweise wenn Therapie, wie lange?
Gerth: Das ist im Einzelfall häufig schwer zu beantworten. Grundsätzlich kann man sagen, dass die Therapie sich nach der Organmanifestation richtet und diese erst vorliegen muss, damit therapiert wird. Die Therapie ist also immer eine Reaktion, prophylaktische Therapien werden aufgrund der heterogenen Verläufe und des damit verbundenen Risikos einer Übertherapie nicht empfohlen. In der Praxis ist es jedoch mitunter oft schwierig, die Aktivität der Erkrankung zu bestimmen. Hierfür sind regelmässige Kontrollen und Statuserhebungen zu den verschiedenen möglichen Organbeteiligungen notwendig.
Wie sieht es mit Rehabilitation aus? Gerth: Das ist ein wichtiger Aspekt. Mit den medikamentösen Therapien kann man die Entzündung und die Fibrose kontrollieren und die Durchblutung verbessern. Eine Verbesserung der Funktion, das heisst eine bessere Ausdauer und Beweglichkeit, lässt sich jedoch nur mit nicht medikamentösen Therapien erreichen. Hier haben Bindegewebemassagen neben Physiotherapie und reflektorischer Atemtherapie sowie Ergotherapie einen wichtigen Stellenwert. Insbesondere in der kalten Jahreszeit haben wir in unserem Zentrum sehr gute Erfahrung mit der Hyperthermie mittels wassergefilterter Infrarot-A-Bestrahlung, kurz wIRA, gemacht. Es gibt auch zunehmend Studien, die die Evidenz der nicht medikamentösen Therapien bei der systemischen Sklerose untermauern.
Ist dank der neuen Therapien eine Heilung möglich? Gerth: Die systemische Sklerose ist eine chronisch autoimmune Erkrankung, die sehr heterogene Verläufe aufweist. Es gibt Fälle, in denen die Aktivität der Erkrankung auch ohne medikamentöse Therapie sistiert, aber auch Fälle, die trotz bestmöglicher Therapie refraktär verlaufen. Das Spektrum ist sehr breit. Aber durch die Verbesserung der medikamentösen Therapien lässt sich heute in vielen Fällen die Aktivität der Erkrankung kontrollieren, sodass sie nicht mehr fortschreitet. Eine prinzipielle Chance auf Heilung bietet die autologe
Tabelle 2:
Leitliniengerechte Behandlung der systemischen Sklerose (nach Organmanifestation)
Raynaud- Digital-
Pulmonale Haut- ILD Muskulo- Magen-
Syndrom
ulzera
Hypertonie
fibrose
skelettal Darm-Trakt
A PDE-5-Hemmer, PDE-5-Hemmer, PDE-5-Hemmer, HSCT,
HSCT,
Iloprost
Bosentan
ERA,
Rituximab, Rituximab,
CCB
Iloprost Prostanoide MTX MMF,
CYC,
Nintedanib
B
Riociguat,
MMF
TCZ
PPI
Iloprost
C
Kein Warfarin TCZ
Prokinetika
D
MTX Antibiotika
Renale Krise
keine ACEHemmer zur Prävention ACE-Hemmer
ILD: interstitial lung disease; Prostanoide: Epoprostenol, Iloprost oder Treprostinil; ERA: Endothelinrezeptorantagonist (Ambrisentan, Bosentan oder Macitentan); CCB: Kalziumkanalblocker; CYC: Cyclophosphamid; HSCT: hämatopoetische Stammzelltransplantation; MMF: Mycophenolat-Mofetil; MTX: Methotrexat; PDE: Phosphodiesterase; TCZ: Tocilizumab; A–D: Evidenzklassen A bis D; ACE: angiotensin-converting enzyme
Quelle: adaptiert nach (1)
ARS MEDICI 14–16 | 2023
413
SUMMER SCHOOL
Bild: OpenClipart-Vectors
Abbildung: Klassische Trikolore beim Raynaud-Phänomen: Durch Vasospasmen kommt es zunächst zu einer Minderdurchblutung (Weissfärbung), dann Hypoxie (Blaufärbung) und schliesslich Hyperperfusion (Rotfärbung).
Stammzelltransplantation, wobei hier durch die Prozedur eine Mortalität bis zu 10 Prozent besteht. Wichtig ist herauszufinden, welcher Patient für die Stammzelltransplantation geeignet ist. Weitgehend Konsens unter den Experten ist, dass Patienten, bei denen die Erkrankung unter bestmöglicher medikamentöser Therapie fortschreitet, für eine Stammzelltransplantation evaluiert werden sollten.
Bei Diagnosestellung sollte ein Rheumatologe mit Erfahrung bei der Behandlung der systemischen Sklerose oder gegebenenfalls ein Zentrum involviert werden, in dem die Betroffenen dann gemeinsam mit dem Hausarzt betreut werden.
Was ist für den Hausarzt wichtig? Gerth: Wichtig ist, die Symptome der systemischen Sklerose zu kennen. Hier ist insbesondere das Raynaud-Phänomen, also ein Weisswerden der Finger bei zum Beispiel Kälte oder mechanischem beziehungsweise psychischem Stress, gefolgt von der hypoxischen Phase mit Violettfärbung und anschliessender Hyperämie mit Rotfärbung, zu nennen. Diese klassische Trikolore tritt bei vielen Patienten mit systemischer Sklerose als erstes Symptom auf (siehe Abbildung). Hierbei ist wichtig, die antinukleären Antikörper (ANA) zu bestimmen. Sollten diese positiv sein, würde ich den Patienten zu einem Rheumatologen überweisen und eine Kapillarmikroskopie veranlassen. Dort kann dann geschaut werden, ob spezifische Veränderungen einer systemischen Sklerose vorliegen und die Diagnose gestellt werden kann.
Welche Untersuchungen veranlasst der Rheumatologe? Gerth: Der Rheumatologe schaut zunächst, ob er die Diagnose einer systemischen Sklerose bestätigen kann. Sofern das der Fall ist, sollte umgehend ein Staging mit der Frage nach einer Magen-Darm-Beteiligung durchgeführt werden (z. B. Refluxösophagitis, Motilitätsstörung). Zudem gehören Untersuchungen der Lunge (Lungenfunktion mit Diffusion bzw. Thorax-CT) und des Herzens (transthorakale Echokardiografie) zu den wichtigen Basisuntersuchungen mit der Frage nach Lungen- oder Herzbeteiligung – insbesondere nach einer interstitiellen Lungenerkrankung oder einer pulmonalen Hypertonie.
Was ist das Fazit für die Praxis?
Gerth: Die Diagnose einer systemischen Sklerose bedeutet
kein unabänderliches Schicksal mehr. Wichtig ist es, die ini-
tialen Symptome zu kennen – hier insbesondere ein (asym-
metrisches) Raynaud-Phänomen, das sich meistens nach dem
30. Lebensjahr entwickelt – und dann die wichtigen Unter-
suchungen zu veranlassen (antinukleäre Antikörper und Ka-
pillarmikroskopie). Ist die Diagnose gestellt, kann durch die
Einleitung einer Therapie Organschaden vermieden werden.
Bei Diagnosestellung sollte ein Rheumatologe mit Erfahrung
bei der Behandlung der systemischen Sklerose oder gegebe-
nenfalls ein Zentrum involviert werden, in dem die Betroffe-
nen dann gemeinsam mit dem Hausarzt betreut werden. Den
Patienten kann Mut gemacht werden, da mittlerweile etliche
neue Medikamente und Therapien zur Verfügung stehen, mit
denen man in vielen Fällen die Krankheit sehr gut kontrollie-
ren kann.
s
Das Interview führte Christine Mücke.
Referenz: 1. del Galdo F et al.: 2023 Update of EULAR recommendations for the treat-
ment of systemic sclerosis. Abstract: OP0234. Vorgestellt am EULAR 2023, 31. Mai bis 3. Juni in Mailand.
414
ARS MEDICI 14–16 | 2023