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BERICHT
Invalidenversicherung
Praktische Tipps zum kompliziertesten Rechtsgebiet der Schweiz
Bei Anfragen der Invalidenversicherung (IV) und bei der Begleitung von Patienten im IV-Verfahren kommt es immer wieder zu Unsicherheiten und Missverständnissen: Was muss wann und wie erledigt werden? An der medArt Basel informierten Prof. Regina Kunz, Prof. Andreas Zeller und Dr. Philippe Macherel über Fallstricke und praktische Aspekte für Hausärzte, wenn es bei ihren Patienten um die IV geht.
«Das Sozialversicherungsgesetz ist wohl das komplizierteste Rechtsgebiet in der Schweiz», sagte Dr. Philippe Macherel, ehemaliger Leiter des regionalen ärztlichen Dienstes beider Basel der IV. Zuvor war er Hausarzt, sodass ihm mehrere Seiten des IV-Verfahrens gut bekannt sind – sowohl die von Hausärzten oft als überbordende Bürokratie empfundenen Anforderungen seitens der IV als auch die für die IV notwendigen Abläufe. Macherel äusserte zwar Verständnis für die Kritik an allzu langwierigen IV-Verfahren, gab aber zu bedenken, dass der Papierkrieg, der mit einer IV-Anmeldung ausgelöst werde, für Aussenstehende nicht nachvollziehbar sei. Die IV müsse Unterlagen und Auskünfte von vielen Beteiligten einholen, vom Hausarzt, von den Spezialärzten und Spitälern, von der Pensionskasse sowie, falls der Antragsteller das nicht ausdrücklich untersagt habe, vom Arbeitgeber und manchmal auch von der Polizei, falls es um eine Haftpflichtsituation oder eine Straftat gehe. Darüber hinaus ist das Durchschnittseinkommen zu ermitteln, das später der Berechnung einer IV-Rente zugrunde liegen wird. Doch was kann der Hausarzt tun, um das Verfahren zu beschleunigen? Macherel empfahl, die Fragen der IV möglichst rasch zu beantworten. Diese «Briefe, die immer am Freitag eintreffen», wie Prof. Andreas Zeller, Hausarzt und Leiter des universitären Zentrums für Hausarztmedizin in Basel, die Fragebögen der IV augenzwinkernd charakterisierte, einfach unbeantwortet zu lassen, sei keine Lösung. Die behandelnden Ärzte sind gesetzlich dazu verpflichtet, gegenüber der IV Auskunft zu geben. Mit der Anmeldung bei der IV entbindet der Antragsteller alle behandelnde Ärzte automatisch von der Schweigepflicht gegenüber der IV. Überdies helfe es dem Patienten nicht, wenn man die Auskunft verweigere, betonte Macherel.
Verwirrender Sprachgebrauch
Dass es zu Missverständnissen im Umgang mit der IV kommt, könnte auch an einigen Sprachregelungen liegen, deren Bedeutung missverständlich ist. So ist die Meldung an die IV etwas ganz anderes als die Anmeldung bei der IV (Kasten 1), und mit dem Begriff Invaliditätsgrad (IV-Grad) ist nicht etwa der Grad der Arbeitsunfähigkeit gemeint, sondern der Pro-
zentsatz, um den sich das Durchschnittseinkommen im Vergleich zu früher durch die Invalidität verringert hat (Kasten 2).
An welchen Stellen des IV-Verfahrens muss der Hausarzt aktiv werden?
Neben der allgemeinen Begleitung seines Patienten hat der Hausarzt insbesondere zu Beginn der IV-Verfahrens folgende Aufgaben: s Bei Eintreten des Krankheitsfalls: Wenn der Patient ar-
beitsunfähig geschrieben werden muss, sollte früh erfasst werden, ob man als behandelnder Arzt von einem längeren Arbeitsausfall ausgeht. Falls ja, sollte eine Meldung an die IV erfolgen. s Meldung an die IV: Man empfiehlt dem Patienten, sich bei der IV zu melden, beziehungsweise man meldet ihn in Absprache bei der IV. Diese sogenannte Früherfassung führt zu einem Beratungsgespräch zwischen IV-Stelle und Patient. s Anmeldung bei der IV: Je nach Ausgang dieses Beratungsgesprächs sollte sich der Patient bei der IV anmelden. Die behandelnden Ärzte werden dann von der IV um Stellungnahmen angefragt.
Nur schreiben, was man weiss
Bei der Beantwortung von Fragen der IV empfahl Macherel, immer nur das zu schreiben, was man wisse, und somit den aktuellen Wissenstand anzugeben – nicht mehr und nicht weniger. Man solle sich auf keinen Fall etwas aus den Fingern saugen, sondern gegebenenfalls schreiben «Diese Frage kann ich nicht beantworten» oder das entsprechende Kästchen ankreuzen. Ein Beispiel aus der Praxis: Es geht um einen Patienten mit psychischen Problemen, den der Hausarzt kaum kennt und allenfalls einmal wegen einer Erkältung in der Praxis gesehen hat. Der Patient ist bei einem Psychiater in Behandlung. Der Hausarzt sollte die Situation dann genauso angeben, empfahl Macherel, zum Beispiel so: «Ich kenne den Patienten nicht gut. Er war zweimal wegen einer Erkältung bei mir. Er ist meines Wissens in psychiatrischer Behandlung.» Bei den Angaben für die IV darf man sich auch auf Arztbriefe oder andere Unterlagen beziehen, die einem selbst vorliegen.
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Kasten 1:
Melden ≠ Anmelden
Meldung an die IV ▲ Hierbei handelt es sich um einen Antrag auf Frühintervention.
▲ Die IV lädt den Betroffenen ein und bespricht mit ihm mögliche Lösungen des Problems; meist geht es dabei um relativ einfache Massnahmen (z. B. die Anschaffung eines Stehpults).
▲ Es wird abgeklärt, ob eine Anmeldung bei der IV sinnvoll ist.
▲ Durch die Meldung an die IV entsteht kein Rechtsanspruch. Weder muss die IV irgendetwas anbieten, noch muss der Betroffene alle Obliegenheiten erfüllen, welche die IV auferlegen könnte.
▲ Eine Person bei der IV melden kann jeder, zum Beispiel der Hausarzt oder Versicherungen, anders als früher aber nur mit ausdrücklicher Zustimmung (!) des Betroffenen, der die Meldung auch selbst vornehmen kann.
Anmeldung bei der IV ▲ Die Anmeldung bei der IV kann nur der Betroffe selbst (oder ggf. ein
Vormund) vornehmen. Die anmeldende Person tritt damit mit der IV in ein rechtliches Verhältnis ein.
▲ Die Anmeldung bei der IV sollte so früh wie möglich erfolgen, am besten bereits dann, wenn eine Invalidität einzutreten droht.
▲ Entgegen einem weit verbreiteten Missverständnis muss man mit der Anmeldung bei der IV nicht 1 Jahr warten.
▲ Die Wartezeit von 1 Jahr gilt für die IV-Rente, das heisst, dass mindestens 1 Jahr mit einer Arbeitsunfähigkeit von mindestens 40 Prozent vergangen sein muss, bis die Rente gezahlt wird.
▲ Ein laufendes IV-Verfahren stoppen kann nur der Antragsteller selbst. Voraussetzung dafür ist, dass weitere Beteiligte, wie zum Beispiel die Pensionskasse, dem Stopp zustimmen. Das Stoppen eines IV-Verfahrens und eine allfällige spätere Neuanmeldung haben für den Antragsteller keine negativen Konsequenzen.
Solche Unterlagen kann man der IV beilegen, weil, wie bereits erwähnt, alle behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht gegenüber der IV entbunden sind. Zusatzuntersuchungen, die Hausärzte durchführen, um offene Fragen doch noch beantworten zu können, werden von der IV normalerweise nicht bezahlt. Bei Revisionsanfragen kommt es vor, dass Bezug auf frühere Dokumente genommen wird, die der angefragte Hausarzt weder kennt noch erhalten kann. Auf die Frage, was dann zu tun sei, wiederholte Macherel seinen Rat: «Schreiben Sie genau das, was Sie wissen, nicht mehr und nicht weniger», gegebenenfalls, wie oben erwähnt, dass man diese Frage nicht beantworten könne.
Plausibel begründen
Zwei weitere Punkte sind beim Ausfüllen des IV-Fragebogens genauso wichtig: Veränderungen beim Patienten müssen begründet werden, und die Arbeitsfähigkeit ist realistisch einzuschätzen. Man müsse plausibel und in sich schlüssig argumentieren, sagte Macherel. So sei es «nicht wahnsinnig realistisch», wenn einer Büroangestellten wegen Unterkieferschmerzen eine 100-prozentige Arbeitsunfähigkeit beschei-
nigt werde. So etwas werde von der IV nicht ernst genommen. Auch wenn es bekanntermassen «schwierige» IV-Stellen gebe, ändere das nichts daran, dass die Formulare nachvollziehbar ausgefüllt werden müssten: «Die IV-Praxis bedeutet das Bohren dicker Bretter. Und je mehr man sauber bohrt, umso eher kommt tatsächlich etwas dabei heraus.»
Frühzeitig bei der IV anmelden
Die Anmeldung bei der IV sollte so früh wie möglich erfolgen. Man sollte einem Patienten dazu raten, sobald man den Eindruck hat, dass die Arbeitsunfähigkeit (ggf. trotz einer allfälligen Frühintervention) vermutlich bestehen bleiben wird. Eine Krankschreibung ist keine Voraussetzung für die Anmeldung bei der IV. Bereits eine drohende Invalidität ist ausreichend. Eine drohende Invalidität liegt vor, wenn eine Einbusse der Arbeitsfähigkeit von mindestens 20 Prozent innert eines Jahres zu befürchten ist. Auch hierzu ein Beispiel aus der Praxis: Ein Maler hat zunehmend Probleme mit dem Rücken und möchte gerne umschulen, wurde bis anhin wegen seiner Rückenprobleme aber noch nie arbeitsunfähig geschrieben. Wenn dieser Mann seinem Arzt sagt, dass er nur noch 4 Tage die Woche arbeiten könne und mittwochs aussetzen müsse wegen der Schmerzen, wäre das bereits ein Grund, ihm zur Anmeldung bei der IV zu raten.
Wie wird die IV-Rente berechnet?
Bis Ende 2021 wurden IV-Renten in ¼-Schritten berechnet. Ab einer Arbeitsunfähigkeit von 40 Prozent gab es ¼-IVRente, mit 50 und 60 Prozent Arbeitsunfähigkeit eine ½- beziehungsweise eine ¾-IV-Rente und ab 70 Prozent Arbeitsunfähigkeit die volle IV-Rente, berichtete Prof. Regina Kunz, Leiterin Evidence-based Insurance Medicine an der Universität Basel. Seit Januar 2022 erfolgt der Anstieg der Rente zwischen 40 und 70 Prozent Arbeitsunfähgkeit stufenlos. Das führt dazu, dass IV-Renten bei einer Arbeitsunfähigkeit von 40 bis 59 Prozent etwas höher sind als früher und von 60 bis 69 Prozent etwas niedriger. Zurzeit beträgt eine volle IVRente 1225 bis 2450 Franken im Monat. Oft haben die Betroffenen zum Zeitpunkt der IV-Anmeldung keine Anstellung mehr. In diesem Fall legt die IV das Durchschnittseinkommen anhand der Tabellenlöhne fest. Manche Betroffene arbeiteten während eines laufenden IV-Verfahrens «aus Verzweiflung» weiter, war aus dem Auditorium während der Session zu hören. Dies komme häufiger bei Personen mit psychischen Problemen vor, und die Frage sei, ob das Weiterarbeiten das IV-Verfahren gefährde. Das Verfahren könne trotzdem weiterlaufen, sagte Macherel, vor allem wenn die Arbeitssituation erneut «überfordernd» sei, was wiederum ein Arzt bestätigen könne.
Einspruch gegen IV-Bescheid erheben
Sobald der Vorbescheid der IV vorliegt, kann der Betroffene gegebenenfalls einen Einwand einreichen. Dieser Einwand muss noch nicht juristisch ausgefeilt sein und bedarf keiner anwaltlichen Unterstützung. Eine Beschwerde gegen die Verfügung der IV geht hingegen vor Gericht. Man braucht dafür einen Anwalt, der, falls der
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Kasten 2:
Invaliditätsgrad ≠ Grad der Arbeitsunfähigkeit
▲ Invaliditätsgrad (IV-Grad) ist ein wirtschaftlicher Begriff. ▲ Arbeitsunfähigkeitsgrad ist ein medizinischer Begriff. ▲ Der IV-Grad ist nur indirekt vom Grad der Arbeitsunfähigkeit ab-
hängig, denn der wirtschaftliche Schaden kann grösser sein, als es dem Grad der Arbeitsunfähigkeit entspricht (z. B. bei einem Maurer, der theoretisch noch zu 50 Prozent arbeiten könnte, unter dieser Bedingung aber wohl kaum eine Anstellung finden dürfte). ▲ Der IV-Grad entspricht der prozentualen finanziellen Lücke, die durch die Invalidität entsteht. Ein Beispiel: Das durchschnittliche Jahreseinkommen ohne Invalidität betrug 60 000 Franken, jetzt sind es nur noch 20 000 Franken. Der Erwerbsausfall beträgt somit 67 Prozent. Falls eine IV-Rente gesprochen wird, erhält der Betroffene eine 67-prozentige IV-Rente (siehe auch Abschnitt: Wie wird die IV-Rente berechnet?).
Linktipps
Info-Broschüre zu Invalidenrenten der IV https://www.rosenfluh.ch/qr/iv-rente-info
IV-Formulare (alle) https://www.rosenfluh.ch/qr/iv-formulare
Betroffene sich das nicht leisten kann, auf Antrag von der IV bezahlt werden muss (kostenlose Verbeiständung). Die Kriterien, ob man sich den Anwalt leisten kann oder nicht, sind kantonal unterschiedlich; es sei jedoch nicht so, dass nur Sozialhilfeempfänger Anrecht darauf hätten, so Macherel. Den Antrag auf kostenlose Verbeiständung sowie den Antrag auf Fristverlängerung für den Einspruch gegen die Verfügung der IV stellt der Anwalt. Seriöse Kanzleien bieten eine 1-stündige Beratung für zirka 100.– Franken an, in der vorderhand geklärt werden kann, ob überhaupt Aussicht auf Erfolg besteht.
Weitere finanzielle Hilfen
Zusätzlich zur IV-Rente gibt es weitere finanzielle Hilfen, die von den Betroffenen beantragt werden können: s Hilflosenentschädigung: Sie ist für IV-Rentner gedacht,
die von Angehörigen betreut werden. Sie ist bei der IV zu beantragen, die möglicherweise beim behandelnden Arzt nachfragt, wie stark der zu Betreuende behindert ist. s Ergänzungsleistungen: Diese sind ein kantonal unterschiedlicher Zuschuss zur IV-Rente. Ergänzungsleistungen müssen je nach Kanton bei unterschiedlichen Ämtern (z. B. Sozialamt, Gemeinde) beantragt werden. Die Höhe der Ergänzungsleistungen richtet sich nach rein wirtschaftlichen und nicht nach medizinischen Kriterien. s
Renate Bonifer
Quelle: MTE-Session «Rund um die Invalidenversicherung – praktische Aspekte in der Hausarztpraxis», medArt Basel, 21. Juni 2023.
Anmeldung für Erwachsene (berufliche Integration/Rente) https://www.rosenfluh.ch/qr/iv-anmeldung
Meldeformular für Erwachsene (Früherfassung) https://www.rosenfluh.ch/qr/iv-meldung
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