Transkript
SUMMER SCHOOL
Erhöhter TSH-Wert in der Praxis
Hypothyreose: Abklärung und Therapie
Der TSH-Spiegel ist der zentrale Laborwert zur Abklärung der Schilddrüsenfunktion. Ist er erhöht, spricht das für eine Unterfunktion der Schilddrüse. Zum weiteren Vorgehen bei Personen mit erhöhten TSH-Werten in der Hausarztpraxis hat die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin e. V. (DEGAM) neue Empfehlungen formuliert.
Mit der neuen S2k-Leitlinie möchte die DEGAM Hausärzten eine Hilfestellung für die kritische Bewertung erhöhter Spiegel des Thyreoidea-stimulierenden Hormons (TSH) bieten, insbesondere um eine zu frühe Pathologisierung sowie unnötige Therapien bei latenter (subklinischer) Hypothyreose zu vermeiden. Ein TSH-Screening bei asymptomatischen Personen wird deshalb grundsätzlich nicht empfohlen. Wie hoch die Prävalenz der Hypothyreose in der Bevölkerung tatsächlich ist, weiss man nicht genau. In Untersuchungen aus Deutschland fand man eine Prävalenz von 4,9 Prozent in den westlichen Bundesländern. Daten aus Europa sprechen für eine Prävalenz von rund 3 Prozent, wobei, wie auch in ande-
ren Studien, Frauen rund 5-mal häufiger betroffen sind als Männer. Für alle Patienten gilt, dass die manifeste Hypothyreose deutlich seltener ist als die latente (subklinische) Hypothyreose (4,6 vs. 0,48% bei den Frauen, 2,8 vs. 0,18% bei den Männern). Erhöhte TSH-Spiegel sollten individuell bewertet werden, wobei das Alter, der fT4-Wert, die klinischen Symptome, der BMI, die Medikation, die Lebensqualität und der Allgemeinzustand zu bedenken sind. Für die Grenzwerte, ab denen eine weitere Abklärung indiziert ist, spielt das Alter eine wesentliche Rolle. In der Praxis gelten folgende TSH-Werte als erhöht: s 18 bis 70 Jahre: > 4,0 mU/l s > 70 bis 80 Jahre: > 5,0 mU/l s > 80 Jahre: > 6,0 mU/l.
Steckbrief
Wer hat die Guideline erstellt? Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin e. V. (DEGAM) mit Beteiligung der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE), der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) und der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) sowie einer Patientenorganisation (SchilddrüsenligaDeutschland e. V.)
Wann wurde sie erstellt? 2023
Für welche Patienten? Erwachsene mit erhöhten TSH-Werten inkl. Schwangere
Was ist neu? ▲ TSH-Grenzwerte nach Alter gestaffelt ▲ detaillierte Empfehlungen für Schwangere ▲ kein TSH-Screening bei asymptomatischen Patienten ▲ erhöhte TSH-Werte nach Spitalaufenthalt hinterfragen ▲ keine routinemässige Sonografie bei erhöhtem TSH ▲ TPO-Antikörper bei erhöhtem TSH allenfalls einmal, aber nicht
wiederholt messen ▲ neue TSH-Grenzwerte zur Indikation von Levothyroxin ▲ feinere Abstufung der empfohlenen Initialdosis von Levothyroxin ▲ Suche nach alternativen Ursachen bei fehlendem Ansprechen auf
Levothyroxin
Wann sind weitere Abklärungen notwendig?
Das Überschreiten der genannten Grenzwerte ist per se noch keine Indikation für eine Behandlung. Für das weitere Vorgehen spielen sowohl das Ausmass der TSH-Wert-Überschreitung (TSH unter oder über 10,0 mU/l) als auch die Anamnese eine Rolle. Eine routinemässige Sonografie der Schilddrüse sollte nicht erfolgen. Bei einem Erstbefund von ≤ 10,0 mU/l TSH sowie bei unauffälliger Anamnese sollte zunächst eine erneute Messung erfolgen, um den Befund zu verifizieren. Liegt der TSH-Wert hingegen > 10,0 mU/l, sollte bei der Wiederholungsmessung zusätzlich der fT4-Wert bestimmt werden. Bei Patienten mit auffälligen anamnestischen Befunden soll der fT4-Wert bereits bei einem TSH-Wert ≤ 10,0 mU/l bestimmt werden. Als auffällige anamnestische Befunde gelten eine Schilddrüsenerkrankung oder eine Schilddrüsenoperation in der Vergangenheit, autoimmune Schilddrüsenerkrankungen oder eine Schilddrüsenunterfunktion bei Verwandten 1. Grades, Kopf-Hals-Bestrahlungen, Radiojodtherapie, Demenz oder Depression, Autoimmunerkrankungen, unspezifische Anämie, KHK, Herzinsuffizienz, Lipidämien sowie eine Dauermedikation mit Amiodaron oder Lithium. Neben den beiden letztgenannten Medikamenten können auch Zytokine, Tyrosinkinase- und Checkpointinhibitoren eine Hypothyreose auslösen. Bei Patienten, die aus dem Spital entlassen wurden, kann der TSH-Wert auch nur vorübergehend erhöht sein (Ausnahme:
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nach Schilddrüsenoperation), sodass hier zunächst eine erneute TSH-Kontrolle empfohlen wird.
Manifeste oder latente Hypothyreose?
Der Befund und das weitere Vorgehen hängen vom fT4-Wert bei gleichzeitig erhöhtem TSH ab: s fT4 erniedrigt: manifeste Hypothyreose s fT4 im Normbereich: latente Hypothyreose s fT4 erhöht: sekundäre Ursache wahrscheinlich, zum Spe-
zialisten überweisen.
Bei latenter Hypothyreose kann einmalig der Antikörperspiegel gegen Thyreoperoxidase (TPO) bestimmt werden, um die Möglichkeit einer Hashimoto-Thyreoiditis abzuklären. Erneute Messungen der TPO-Antikörper sind sinnlos, weil sie nichts an der Behandlung ändern. TPO-Antikörper sollen nicht bestimmt werden, wenn der TSH-Wert normal ist. Der Nachweis von TPO-Antikörpern allein ist im Übrigen nicht ausreichend für die Diagnose Hashimoto-Thyreoiditis; es braucht hierfür weitere Parameter (Labornachweis einer manifesten Hypothyreose, Sonografie).
Wie gefährlich ist eine latente Hypothyreose?
Innert 1 Jahr entwickeln insgesamt 2 bis 5 Prozent der Personen mit latenter Hypothyreose eine manifeste Hypothyreose; das Risiko ist bei Personen mit TPO-Antikörpern leicht erhöht. Bei TSH-Werten > 10 mU/l und normalem fT4-Wert besteht ein erhöhtes Risiko für die Progression zu manifesten Hypothyreose. Auch das Risiko für eine Hyperlipidämie ist erhöht, ebenso für kardiovaskuläre Ereignisse (knapp doppelt so hoch). Insofern könnte die Substitutionstherapie (siehe unten) von Vorteil sein. Kardiale Vorerkrankungen wie zum Beispiel KHK oder tachykarde Herzrhythmusstörungen gehören jedoch zu den relativen Kontraindikationen einer Hormonsubstitution. Ob das kardiovaskuläre Risiko auch bei Personen mit einem TSH-Wert ≤ 10 mU/l (und normalem fT4) erhöht ist, wird kontrovers diskutiert. Eine Übertherapie dieser Personengruppe gelte hingegen als gesichert, so die DEGAM. In einem Review aus dem Jahr 2021 hat sich gezeigt, dass bis zu ein Drittel der Patienten mit Substitutionstherapie wegen latenter Hypothyreose auch nach Absetzen der Levothyroxintherapie euthyreot bleibt. Für Personen ≥ 85 Jahre wurde nachgewiesen, dass eine latente Hypothyreose nicht mit einer erhöhten Mortalität verbunden ist; ein TSH-Wert < 4 mU/l bringt in dieser Altersgruppe keinen Überlebensvorteil. Überdies gilt es als gesichert, dass leicht erhöhte TSH-Werte bei älteren Personen im Allgemeinen nicht mit einem erhöhten Mortalitäts- oder Morbiditätsrisiko assoziiert sind. Es gebe auch Studien, die sogar einen verbesserten Status bezüglich Mobilität und kardiorespiratorischer Belastbarkeit nahelegten, heisst es in der DEGAM-Leitlinie.
Indikationen zur Substitutionstherapie
Es ist unumstritten, dass bei Vorliegen einer manifesten Hypothyreose (TSH erhöht, fT4 erniedrigt) die Substitution mit Levothyroxin immer indiziert ist. Anders sieht es bei der latenten Hypothyreose aus: Hier wird die Notwendigkeit einer Substitution kontrovers diskutiert.
Die DEGAM empfiehlt, individuell zu entscheiden, wobei wiederum das Alter, ein TSH über oder unter 10 mU/l und die Symptomatik eine Rolle spielen, zumal bei Personen ≥ 60 Jahre und bei Hochbetagten (≥ 85 Jahre) der Verdacht einer generellen Übertherapie mit Levothyroxin wegen latenter Hypothyreose bestehe. Die DEGAM-Leitlinie definiert die Kriterien für eine Substitution bei latenter Hypothyreose wie folgt: s TSH ≤ 10 mU/l, fT4 normal und asymptomatisch: unab-
hängig vom Alter nicht substituieren s TSH > 10 mU/l, fT4 normal und ≤ 75 Jahre: substituieren,
abhängig von Symptomatik und Patientenwunsch Therapieverzicht unter TSH-Kontrolle möglich (bis < 20 mU/l) s TSH erhöht, aber < 20 mU/l, fT4 normal und > 75 Jahre: Verzicht auf Substitution möglich.
Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass es für die früher gängige Empfehlung, bei Hashimoto-Thyreoditis immer zu substituieren, keine ausreichende Evidenz für den Nutzen dieser Massnahme gebe.
Initialdosis und Therapiemonitoring
Bei behandlungsbedürftiger Hypothyreose ist die Monotherapie mit Levothyroxin das Mittel der Wahl. Eine Therapie mit T3, T3/T4-Kombinationen oder natürlichen Schilddrüsenhormonpräparaten wird nicht empfohlen. Es gibt keine Evidenz dafür, dass die (zusätzliche) Gabe von Nahrungsergänzungsmitteln (z. B. Jod, Selen, Vitamine) von Vorteil ist. Bei der Einnahme des Levothyroxins sind das Timing und die Wechselwirkungen mit Nahrungsmitteln und Medikamenten zu beachten (30 Minuten vor der Mahlzeit auf nüchternen Magen, keine Milch usw.). Bei manifester Hypothyreose beträgt die empfohlene volle Dosis 1,6 µg/kg Körpergewicht (KG) pro Tag, wobei es sich hierbei nur um eine ungefähre Empfehlung handelt. Die Dosis richtet sich nach dem Wohlbefinden der Patienten und ihren Symptomen. Initial ist eine niedrigere Dosis üblich, wobei bei Patienten ohne kardiale Erkrankungen der Start mit der vollen Dosis verträglicher und kosteneffizienter sein kann. Die individuelle Initialdosis ist abhängig von Alter, Körpergewicht, kardialem Status und Ausmass der Hypothyreose. Die DEGAM empfiehlt folgende Initialdosen: s manifeste Hypothyreose und < 60 Jahre ohne Komorbidi-
täten: 1,6 µg/kg KG s manifeste Hypothyreose und ≥ 60 Jahre und/oder kardio-
vaskuläre Erkrankungen: 0,3 bis 0,4 µg/kg KG s latente Hypothyreose: 25 bis 50 µg/Tag.
Es kann mehrere Wochen dauern, bis sich eine Dosisänderung im TSH-Wert bemerkbar macht. Die Kontrolle nach Therapiebeginn beziehungsweise nach jeder Dosisanpassung sollte jeweils frühestens nach 8 Wochen erfolgen. Die Blutprobe muss hierbei vor (!) der Einnahme der jeweiligen Tagesdosis genommen werden. Ist die optimale Dosis erreicht, sind die TSH-Verlaufskontrollen nur noch halbjährlich und und letztlich noch einmal pro Jahr erforderlich. Falls der Patient auf die Therapie nicht anspricht, soll nach anderen Ursachen gesucht werden. Wenn der TSH-Wert trotz gesicherter Adhärenz des Patienten und voller Levothyroxindosis nicht sinkt oder steigt, soll der Patient an einen Endokrinologen überwiesen werden.
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Zu guter Letzt weisen die Leitlinienautoren darauf hin, dass Medikamentenmissbrauch mit Levothyroxin vorkomme, weil die Patienten hofften, damit abzunehmen. Ein allfälliger Gewichtsverlust unter überdosiertem Levothyroxin beruht vor allem auf dem Verlust von Wasser; das Körperfett wird kaum angetastet.
S2k-Leitlinie «Erhöhter TSH-Wert in der Hausarztpraxis» https://www.rosenfluh.ch/qr/tsh
Lang- und Kurzversion sowie Patienteninformationen https://www.rosenfluh.ch/qr/tsh-zusatz
Empfehlungen für Schwangere
In der neuen Leitlinie werden zu jedem Aspekt auch detail-
lierte Empfehlungen für Schwangere gegeben, die im Wesent-
lichen denjenigen für jüngere Erwachsene entsprechen. Auch
bei Schwangeren gilt ein TSH-Wert von 4,0 mU/l als oberes
Limit; ein TSH-Screening wird nicht empfohlen.
Bei Schwangeren mit Hypothyreose, die eine Hormonsub-
stitution erhalten, sollte der TSH-Wert regelmässig, mindes-
tens 1-mal pro Trimenon und 6 Wochen postpartal kontrol-
liert werden. Zirka 70 bis 80 Prozent der mit Levothyroxin
vorbehandelten Schwangeren benötigen während der
Schwangerschaft vorübergehend eine höhere Dosis (ca. 20–
30%); danach sinkt der Bedarf meist wieder auf die frühere
Dosis.
s
Renate Bonifer
Quelle: Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin e. V. (DEGAM): Erhöhter TSH-Wert in der Hausarztpraxis. S2k-Leitlinie. AWMF-Register-Nr. 053-046; DEGAM-Leitlinie Nr. 18; Stand: 04/2023.
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