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FORTBILDUNG
Hypoglykämien: Gefährdungen für die mentale Gesundheit
Hypoglykämien bei Patienten mit Diabetes können unterschiedliche Ursachen haben, zum Beispiel zu hohe Dosen von Antidiabetika oder Insulin, Sport oder das Auslassen einer Mahlzeit. Dabei reagiert das Gehirn am empfindlichsten auf einen Glukosemangel. Neben Akutfolgen wie Konzentrationsstörungen, Aggression oder Benommenheit drohen bei schweren, wiederholten Hypos auch Spätfolgen wie Depression oder Demenz.
Christoph Axmann
Eine Hypoglykämie ist ein Zustand, bei dem der Blutzucker unter 70 mg/dl (3,9 mmol/l) abfällt und spezifische Symptome einer Unterzuckerung auftreten, die unter Glukosegabe wieder verschwinden (Tabelle). Die Grenze von 70 mg/dl (3,9 mmol/l) wird gewählt, weil unterhalb dieser Schwelle im Gehirn autoprotektive Adaptationsvorgänge unter dem Selfish-Prinzip (brain first) beginnen, um die Sicherheit der Energieversorgung des zentralen Nervensystems (ZNS) zu gewährleisten. Die Glukoseaufnahme ins Gehirn wird unter Ausnutzen des vorhandenen Angebots im Blut gesteigert durch eine Vermehrung der Glukosetransporter an der Blut-Hirn-Schranke. Zusätzlich kann durch eine höhere Glukokinaseaktivität mehr Glukose in die Neuronen einströmen und in den Mitochondrien durch Oxidation (aerobe Glykolyse, Zitratzyklus, Atmungskette) zur Energiegewinnung verstoffwechselt werden.
Es geht um die Versorgung des Gehirns mit Glukose
Das Gehirn braucht Glukose als Energielieferanten. Wegen der fehlenden Speichermöglichkeiten ist es zur Erhaltung seiner Funktionen (neuronale Steuerung vital wichtiger Funktionen, emotionale Stabilität, kognitive Leistungsfähigkeit) auf ein dauerhaftes, stetiges und verlässliches Angebot von Glukose aus dem Blut angewiesen. Fällt der Blutzucker als Folge von zu viel exogen appliziertem oder endogen stimuliertem Insulin zu sehr ab, versucht der Organismus, unter allen Umständen durch kompensatorische Freisetzung kontrainsulinärer Hormone (Glukagon, Adrenalin, Glukokortikoide, Somatotropin) eine Euglykämie aufrechtzuerhalten, um damit Gefahren vom Gehirn abzuwenden (Abbildung). Hormonell wird die hepatische Glukoneogenese gesteigert und der Glukoseoutput aus der Leber verstärkt. So werden die endogenen, hepatischen Glukosereserven mobilisiert.
MERKSÄTZE
� Das Gehirn ist auf ein stetiges Angebot von Glukose aus dem Blut angewiesen.
� Hypoglykämien können durch die Stimulation von Adrenalin kardiale Symptome hervorrufen.
� Durch den zerebralen Glukosemangel kann es zu Kognitionsund Affektstörungen sowie zu neurologischen Ausfällen kommen.
� Als Akuttherapie ist bei schwerer Hypoglykämie Glukagon (intranasal, i.m., s.c.) oder Glukose i.v. indiziert.
� Bei der Auswahl der Medikamente sollte deren Potenzial für Hypoglykämien berücksichtigt werden.
Kardiale Gefahren unter sympathikoadrenerger Gegenregulation
Die Stimulation von Adrenalin erhöht die kardiale Gefährdung der Patienten durch Rhythmusstörungen, Angina pectoris, Herzinfarkt sowie gesteigerte kardiovaskuläre Mortalität (Kasten 1). Darüber hinaus kann es zu Heisshungerattacken kommen, die dazu führen sollen, dass der Betroffene durch Aufnahme schnell resorbierbarer Kohlenhydrate neue Glukose hinzufügt. Auch Angst- und Panikattacken können entstehen.
Glukosemangel im Gehirn
Eine Neuroglykopenie (Kasten 1) kann zu einer Einschränkung der kognitiven Leistungsfähigkeit des Gehirns mit Konzentrationsstörungen, Störung in Lernen und Gedächtnis sowie Kopfschmerzen und Albträumen führen. Durch die Stimulation der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden(HPA)-Achse können Affektstörungen (Affektinkontinenz, aggressive Durchbrüche) entstehen, aber
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Tabelle:
Klassifikation der Hypoglykämie und Grenzwerte
Plasmaglukosespiegel Grad
< 70 mg/dl (< 3,9 mmol/l) 1 Grenzwert; so niedrig, dass die Zufuhr von schnell resorbierbaren Kohlenhydraten angezeigt ist < 54 mg/dl (< 3,0 mmol/l) 2 klinisch relevante Hypoglykämie, Schwelle für neuroglykopenische Symptome; sofortiges Handeln erforderlich, um die Hypoglykämie zu behandeln kein spezifizierter 3 schwere Hypoglykämie, schwere Grenzwert kognitive Beeinträchtigung: für Behandlung wird Fremdhilfe benötigt Die American Diabetes Association hat die von der International Hypoglycemia Study Group empfohlene Hypoglykämieklassifikation anerkannt (Diabetes Care. 2017;40[1]:155-157) auch schwere depressive Episoden und kognitive Einschränkungen. Dabei kann es insbesondere bei einer genetischen Prädisposition für Depression zur einer neuronalen Dysbalance verschiedener Hirnareale kommen, die sich in unterschiedlich ausgeprägten Symptomen einer Depression äussert: s gedrückte depressive Stimmung s Verlust von Freude und Interesse s Antriebsminderung s erhöhte Müdigkeit. Eine gravierende Neuroglykopenie kann klinisch durch neurologische Ausfälle mit Koordinationsstörungen, Verwirrtheit, Krampfanfällen und Bewusstlosigkeit imponieren. Schwere Hypoglykämien erhöhen das Risiko für eine Demenz signifikant. Bei sehr langer Neuroglykopenie mit Bewusstlosigkeit kann es zu ausgeprägten zerebrodestruktiven Prozessen (hypoglycemia induced neurologic deficit [HIND], stroke mimics) kommen, die denen durch Hypoxie hervorgerufenen gleichen und tödlich enden können. 80 Eigeninsulin 70 Glukagon Adrenalin 60 Wachstumshormon Cortisol 50 Glukosemangel im Gehirn 4,4 3,9 3,3 2,8 mg/dl mmol/l Abbildung: Hypoglykämie und ihre hormonelle Gegenregulation Kasten 1: Folgen einer Hypoglykämie Adrenerge Symptome: Unruhe, Nervosität, Zittern, Kribbeln, Schwäche, Heisshunger, Blässe, Schwitzen, Tachykardie, Angina pectoris, Angst, Panik Individuelle Symptome: Glukosemangel im Gehirn Kognitionsstörungen: unflexibles Denken, Unaufmerksamkeit, Konzentrationsschwäche, Störungen im Lernverhalten, Gedächtnisstörungen, Kopfschmerzen, Albträume Affektstörungen: Affektinkontinenz, Aggression, Depression Neurologische Ausfälle: Koordinationsstörungen, Schwindel, Torkeln, verwaschene Sprache, Sehstörungen, Benommenheit, Verwirrtheit, epileptische Krampfanfälle, Bewusstlosigkeit, Tod Spätfolgen schwerer, wiederholter Hypoglykämien: Depression, Demenz (• HIND, stroke mimics) Hypoglykämie und Angst Viele Hypoglykämien treten nachts unbemerkt auf und haben erhebliche Auswirkungen auf das körperliche und psychische Wohlbefinden der Betroffenen und deren Arbeitsfähigkeit. Das führt bei den Menschen mit Diabetes und ihren Angehörigen nicht selten zu Angst. Die Angst vor einer Hypoglykämie kann eine effektive Diabetesbehandlung behindern durch negativen Einfluss auf die Therapietreue, Verzögerung oder Vermeidung einer Insulintherapie, Weglassen einer Insulininjektion oder Injektion einer verminderten Insulindosis. Nächtliche Hypoglykämien verschlechtern das Gedächtnis und oftmals auch die Schlafqualität. Hypoglykämiewahrnehmungsstörung Rezidivierende Hypoglykämien sind der wichtigste Risikofaktor für weitere schwere Unterzuckerungen, oftmals mit einer abgeschwächten hormonellen Gegenregulation (zerebrale Hypoglykämietoleranz), und können zu einer Hypoglykämiewahrnehmungsstörung führen. Insbesondere im Alter kann die Hypoglykämiewahrnehmung verändert sein. Es kommt zu einer Angleichung der glykämischen Schwellen für autonome und neuroglykopenische Symptome. Dadurch ergibt sich ein verkleinertes Fenster für die Reaktionszeit zur Behandlung der Hypoglykämie. Zum Erkennen einer Hypoglykämiewahrnehmungsstörung sollten spezifische Schulungsprogramme genutzt werden. Was sind die Gründe für eine Hypoglykämie? Wichtig ist eine umfangreiche Aufklärung der Patienten und ihrer Angehörigen über die vielfältigen Gründe für eine Hypoglykämie (Kasten 2) und die grosse Breite der Symptomatik. Zudem müssen die Therapeuten sensibilisiert werden, was die Bedeutung einer stabilen Diabeteseinstellung angeht, die Unterzuckerungen vermeiden hilft. Akuttherapie einer Hypoglykämie Bei sicherer Diagnose einer Hypoglykämie ist rasches Handeln geboten: orale Aufnahme schnell resorbierbarer Kohlenhydrate. 364 ARS MEDICI 13 | 2023 FORTBILDUNG Bei einer schweren Hypoglykämie mit bereits eingetretener Bewusstseinstrübung sollte zeitnah zum Beispiel durch einen Angehörigen intranasal Glukagon (Baqsimi®) verabreicht werden. Dieses Nasenpulver enthält 3 mg Glukagon, ist sofort anwendbar und wird in einem Hub in ein Nasenloch eingeführt und dort passiv resorbiert. Es kann auch unter einer Behandlung mit Dekongestiva angewendet werden. Baqsimi® zeigte in Studien eine vergleichbare glukosesteigernde Wirkung wie Glukagon, das intramuskulär verabreicht wurde. Es hilft, die hepatischen Glukosereserven zur Verfügung zu stellen und so schnell eine Euglykämie wiederherzustellen. Deshalb ist nach Beendigung der Neuroglykopenie, wenn der Betroffene wieder wach und im Kopf klar geworden ist, die Zufuhr von Kohlenhydraten wichtig, um die Leberreserven wieder aufzufüllen. Gegebenenfalls kann auch Glukose intravenös appliziert werden (40 ml 40%ige Glukose) (Kasten 3). So können zerebrale Schäden vermieden werden. Ist bei einer Hypoglykämie immer eine stationäre Krankenhauseinweisung nötig? In der Regel ist eine ambulante Therapie einer Hypoglykämie ausreichend. Allein bei schwerer Hypoglykämie mit Bewusstlosigkeit oder unter einer Sulfonylharnstofftherapie sollten eine Glukoseinfusion und gegebenenfalls eine stationäre Behandlung erwogen werden. Ältere, multimorbide Diabetiker, die hohe Dosen an Insulin spritzen, und diejenigen, die unter Alkoholeinnahme eine Unterzuckerung erlitten haben, sollten nach Wiederherstellung einer Euglykämie ihren Hausarzt oder Diabetologen aufsuchen, ebenso diejenigen, bei denen wiederholt schwere Hypoglykämien auftreten. Vorbeugende Massnahmen sind besser als Notfalltherapie Die Auswahl der Antidiabetika sollte das Gefahrenpotenzial von Hypoglykämien berücksichtigen und nach Metformin (kein Hypoglykämiepotenzial) die Therapie eskalieren durch GLP-1-Rezeptor-Agonisten (GLP: glucagon-like peptide; z. B. Dulaglutid, Semaglutid) und/oder SGLT2-Hemmer (SGLT2: sodium-glucose linked transporter 2; z. B. Empagliflozin, Dapagliflozin) und dabei die bei Typ-2-Diabetes oftmals noch vorhandene endogene Insulinreserve ausnutzen. Sulfonylharnstoffe sollten vermieden werden. Auch bei der Auswahl der Insuline sollte das Hypoglykämierisiko Beachtung finden. Daher sollten lang wirkende Basalinsuline mit stabilem Wirkprofil und möglichst niedriger intraindividueller Variabilität sowie als Bolusinsuline kurz wirksame Insulinanaloga, die sich am physiologischen Sekretionsprofil des Pankreas orientieren, bevorzugt werden. Moderne Diabetestechnologie kann helfen, Hypoglykämien zu verhindern Moderne Technologie in der Diabetestherapie kann ebenfalls Unterzuckerungen verhindern. Geräte zur kontinuierlichen Glukosemessung mit Warnhinweisen helfen dabei, hypoglykämische Zustände abzuwenden. Abschalten der Basalinsulinzufuhr durch SmartGuard™-Technologie in Insulinpumpen erhöht die Sicherheit besonders vor nächtlich auftretenden Hypoglykämien. Kasten 2: Gründe für die Hypoglykämie ▲ Auslassen einer Mahlzeit (Erbrechen, Verweigern nach Insulingabe) ▲ körperliche Bewegung/Wärme ▲ zu hohe Dosis von Antidiabetika (Sulfonylharnstoffe, Insulindosis, v. a. postprandiale Korrekturen) ▲ Alkohol ▲ endokrine Erkrankungen (z. B. Morbus Addison, Niereninsuffizienz) ▲ Psychopharmaka (z. B. Sertralin) Kasten 3: Therapie der Hypoglykämie mit Bewusstlosigkeit 3 mg Glukagon intranasal oder 1 mg Glukagon s.c., i.m. oder 40 ml Glukose 40% i.v. ggf. 5- oder 10%ige Glukoselösung langsam i.v. Nach Glukagongabe Zufuhr von Kohlenhydraten!!! Während bei noch vorhandener endogener Insulinproduktion die therapeutischen Möglichkeiten zum Vermeiden einer Hypoglykämie schon sehr erfolgreich angewendet werden, schreitet die Entwicklung der Diabetestechnologie weiter zum Closed-loop-System voran. Dabei werden Devices erprobt, bei denen sowohl Insulin als auch Glukagon zur Verfügung steht, um stabile Blutzuckerverläufe mit hoher «time in range» (TIR) ohne Hypoglykämien zu generieren. Insuline der Zukunft, die nur 1-mal in der Woche zu spritzen sind, haben ein noch stabileres Wirkprofil; Smart-Insuline und hepatopräferenzielle Insuline befinden sich in der Entwicklung. So kann die Diabetestherapie immer sicherer werden, denn es gilt: Die Güte der Diabeteseinstellung, möglichst ohne Hypo- glykämien, ist die Grundlage für die mentale Gesundheit bei Menschen mit Diabetes mellitus. s Dr. med. Christoph Axmann Leitender Internist und Diabetologe DDG/ÄKN Klinik Dr. Fontheim – Mentale Gesundheit D-38704 Liebenburg Interessenlage: Der Autor erklärt, dass er finanzielle Unterstützung für Vorträge, Teilnahme an Advisory Boards und Kongressen erhalten hat von Abbott, AstraZeneca, Aventis, Berlin-Chemie, Diabetes Akademie Niedersachsen, Diabetologen Hessen eG, Eli Lilly, MSD, Novartis, NovoNordisk, OmniaMed, Roche Diagnostics, Takeda. Dieser Artikel erschien erstmals in «doctors today» 4/23. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor. ARS MEDICI 13 | 2023 365