Transkript
Kinetosen
Was hilft gegen Seekrankheit?
BERICHT
Die Seekrankheit kann jeden treffen. Letztlich sei jeder mit einem intakten Gleichgewichtssinn dafür anfällig, sagte Dr. med. Jens Kohfahl am 24. Forum Reisen und Gesundheit. Neben einer Reihe präventiver Massnahmen gibt es nur wenige Medikamente, die bei Seekrankheit nützlich sind.
Man gehe davon aus, dass im Grunde fast jeder zu irgendeinem Zeitpunkt seines Lebens an Bord eines Schiffes Symptome der Seekrankheit verspürt habe, wobei das Spektrum von leichten Beschwerden bis zu äusserst schweren Auswirkungen reiche, sagte der Referent. Nur kleine Kinder unter 2 Jahren scheinen dagegen immun zu sein. Ältere Kinder und Jugendliche leiden hingegen häufiger unter Seekrankheit als Erwachsene. Bis zur Pubertät sind mehr Knaben als Mädchen betroffen, danach ist es umgekehrt, und im Alter verschwindet der geschlechtsabhängige Häufigkeitsunterschied wieder.
Ausbalancieren hilft
Ursache der mannigfaltigen Beschwerden sind intersensorische Konflikte: Was das Auge wahrnimmt und die Gelenke über die Position im Raum melden, passt nicht zu den Informationen, welche die rollenden und schaukelnden Bewegungen des Schiffs im Gleichgewichtsorgan des Innenohrs bewirken. Deshalb hilft es, den Horizont zu fixieren. Allerdings sollte man dabei gleichzeitig Schiffstrukturen im Augenwinkel behalten, um die Schiffsbewegungen in Relation zum Horizont besser einschätzen zu können. Ebenfalls hilfreich ist es, im Stehen zu versuchen, die Schiffsbewegungen auszubalancieren. Ob beidseits getragene Akupressurarmbänder und sogenannte Horizont-Brillen etwas bringen, ist umstritten. Bei Letzteren handelt es sich um Brillen mit Doppelgläsern, in deren Innerem horizontale Strukturen in einer Flüssigkeit schwimmen und so einen künstlichen Horizont erzeugen.
KURZ & BÜNDIG
� Es gibt zahlreiche nicht medikamentöse Strategien, die der Seekrankheit vorbeugen.
� Hoch dosiertes Vitamin C oder Ingwer-Präparate können präventiv wirken.
� Beim Einsatz von Medikamenten gegen Kinetosen ist vor allem bei Personen ab 65 Jahren Vorsicht geboten.
Auf jeden Fall nützlich ist es, sich in der Schiffsmitte und nicht auf einem hohen Deck aufzuhalten, weil dort die Auslenkung der Schiffsbewegungen am geringsten ist. Wer anfällig für Seekrankheit ist, sollte daran bereits beim Buchen seiner Kabine denken. Auch Schiffsvibrationen können eine Kinetose triggern, sodass die Kabine möglichst nicht in der Nähe der Schiffsmotoren liegen sollte.
Trigger und Prävention
Weitere ungünstige Faktoren sind Müdigkeit, ein leerer Magen, Restalkohol im Blut, unangenehme Gerüche, eine sitzende Tätigkeit, schlechtes Wetter zu Beginn der Schiffsreise, Dunkelheit und Nebel sowie psychologische Faktoren wie Ängstlichkeit und Unerfahrenheit. Generell wird dazu geraten, bei Anfälligkeit für Kinetosen histaminhaltige Nahrungsmittel zu vermeiden. «Wenn Sie das konsequent durchziehen, haben Sie nicht mehr viel Spass am Leben», kommentierte Kohfahl diesen Tipp, denn er bedeutet den Verzicht auf zahlreiche Nahrungsmittel, wie zum Beispiel Salami, Hartkäse, Thunfisch aus der Dose, Sauerkraut, Tomaten, Spinat, Schokolade, Walnüsse, Bananen, Rotwein und schwarzen oder grünen Tee, um nur einige davon zu nennen. Ob eine Desensibilisierungstherapie gegen Seekrankheit in jedem Fall nützlich ist, sei fraglich. Dieser Ansatz beruht auf der Erfahrung, dass jede Seekrankheit auch auf See irgendwann wieder verschwindet, sodass ein Training zur Gewöhnung an die Schaukelei prinzipiell möglich sein sollte. Es gebe aber auch Personen, bei denen diese Methode das Gegenteil, nämlich eine Sensibilisierung bewirken könne, sagte Kohfahl. Angeboten werden ausserdem Kurse zum Gleichgewichtstraining und elektrokortikale Therapien (TENS), wobei der Referent sich nicht zu den Erfolgsaussichten dieser Methoden äusserte.
Prodromi und Symptome
Die Prodromalsymptome der Seekrankheit werden heutzutage als Sopite-Syndrom bezeichnet. Es umfasst sämtliche Phänomene, die im Vorfeld einer Seekrankheit auftreten können, aber nicht zu den unmittelbaren Symptomen der Kinetose, wie beispielsweise Übelkeit und Erbrechen, gehören.
ARS MEDICI 12 | 2023
345
BERICHT
Typisch für das Sopite-Syndrom sind psychisches Unbehagen, periodisches Gähnen, eine nachlassende Motivation und Aktivität, Müdigkeit, Schwindel, Sehstörungen und ein Druckgefühl im Kopf. All diese Symptome können anhalten oder die einzigen Symptome der Seekrankheit sein. Diese Symptome ähneln aber auch den Nebenwirkungen der gängigen Medikamente gegen die Seekrankheit. Zu den typischen Symptomen der Seekrankheit gehören Blässe, Schweissausbrüche, Völlegefühl, Stuhl- und Harndrang, Speichelfluss, Augentränen, Übelkeit, Aufstossen und Erbrechen. Wann welche Symptome auftreten und wie schwer sie ausgeprägt sind, ist individuell sehr unterschiedlich. Wer unter schweren Symptomen leide, sei «echt schwer krank», betonte der Referent. Das Leiden könne sich bis zu Elends- und Vernichtungsgefühlen und bis zu einem Zusammenbruch der Persönlichkeit steigern.
Nicht medikamentöse Optionen
Bei diesen Massnahmen spiele der Plazeboeffekt, mit rund 30 Prozent Wirksamkeit, eine grosse Rolle, sagte Kohfahl. Mit Vitamin C (2 g/Tag; z. B. als 500-mg-Kautablette oder SeaGum, 250 mg als Kaugummi) oder Ingwerpräparaten (500 mg alle 4 Stunden [Zintona®, 250 mg Kapseln]) habe man gute Erfahrungen gemacht. Diese Präparate müsse man jedoch präventiv einnehmen: «Damit kann man keine ausgebrochene Seekrankheit behandeln», sagte Kohfahl. Ebenfalls einen guten Effekt soll folgende Atemtechnik haben: Einatmen beim Vorwärtsneigen und Ausatmen beim Rückwärtsneigen. Wer es einmal versucht, bemerkt sofort, dass diese Technik das Gegenteil des sonst intuitiven Ein- und Ausatmens bei diesen Bewegungen ist. Man muss sich darauf konzentrieren, was möglicherweise dank Ablenkung zur gewünschten Wirkung führt. Ein Tipp aus der Notfallmedizin ist, den Brechreiz durch das Riechen an einem mit Isopropanol getränkten Tupfer einzudämmen.
Scopolamin als Pflaster oder Nasenspray ist wirksam, in der
Schweiz jedoch nicht auf dem Markt. Das Gleiche gilt für
Promethazin.
Ein prinzipielles Problem all dieser Medikamente sind einige
ihrer potenziellen Nebenwirkungen wie Glaukom, Harnver-
halt, Epilepsie, Auslösen eines Asthmaanfalls oder Verwirrt-
heitszustände. Relevant seien diese Komplikationen insbe-
sondere für ältere Personen ab 65 Jahren. «Alle diese Medi-
kamente stehen auf der PRISCUS-Liste* und sollten von
ihnen möglichst nicht genommen werden», sagte der Refe-
rent. Er wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass
Personen, die diese Medikamente gegen Reisekrankheit in
jüngeren Jahren problemlos vertragen hätten, mit steigen-
dem Alter plötzlich entsprechende Nebenwirkungen entwi-
ckeln können und zunächst niemand daran denkt, dass diese
Medikamente die Ursache dafür seien.
Metoclopramid gegen Übelkeit sei bei Kinetosen wegen des
Risikos später, irreversibler Dyskinesien keinesfalls indiziert,
warnte Kohfahl. Erwägen könne man bei manifester See-
krankheit allenfalls Odansetron-Lingualtabletten (off-label),
die gegen Übelkeit und Erbrechen bei Chemotherapien sowie
postoperativ zugelassen sind. Sie kämen aber nur in speziel-
len Fällen infrage, zum Beispiel für Seenotrettungskräfte im
Einsatz, sagte der Referent.
s
Renate Bonifer
Quelle: Referat von Dr. med. Jens Kohfahl: «Seekrankheit: Wege aus der Kinetose» am 10. März 2023, am 24. Forum Reisen und Gesundheit des CRM (Centrum für Reisemedizin GmbH) am 10. bis 11. März 2023 in Berlin.
* Mann NK et al.: Potenziell inadäquate Medikation für ältere Menschen: PRISCUS 2.0. Dtsch Arztebl Int 2023;120:3-10.
PRISCUS 2.0 www.rosenfluh.ch/qr/priscus2023
Vorsicht bei Medikamenten für Ältere
Gängige Medikamente gegen Seekrankheit sind Dimenhydrat-Kaugummi (Trawell®) und Cinnarizin (Stugeron®). Ob die Kombination von Dimenhydrat und Cinnarizin (offlabel) pharmakologisch sinnvoll sei, sollten andere beurteilen, so Kohfahl. Als Mediziner bevorzuge er Einzelsubstanzen, um Wirkungen und Nebenwirkungen besser abschätzen zu können.
346
ARS MEDICI 12 | 2023