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BERICHT
State of the Art für die Allgemeinpraxis
Diagnostik und Therapie der Depression
Viele Menschen mit Depression werden im Hausarztbereich behandelt, möglicherweise sogar mehr als von den Psychiatern selbst. Prof. Undine Lang, Direktorin Klinik für Erwachsene und Privatklinik, Universitäre Psychiatrische Kliniken (UPK), Basel, gab am FOMF Allgemeine Innere Medizin in Basel ein Update darüber, was in der Diagnostik und Behandlung der Depression wichtig ist.
Wie Prof. Lang berichtet, verzeichnet die Weltgesundheitsorganisation (WHO) durch die Coronapandemie einen Anstieg von Depressionen und Angststörungen weltweit um 25 Prozent; für die Schweiz sei dieser Anstieg jedoch nicht zu sehen. Gemäss Gesundheitsobservatorium (2022) fühlen sich knapp ein Viertel der Schweizer manchmal und 4,5 Prozent meistens bis ständig entmutigt. Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer. Ein Grund dafür kann beispielsweise soziale Überlastung infolge Betreuung von Familie und Angehörigen bei gleichzeitiger Berufstätigkeit sein. Bei Männern ist der Verlust der Arbeit als Identifikationsmerkmal infolge Arbeitslosigkeit oder Pensionierung häufig ein Auslöser. Abgesehen von den Arbeitsausfallkosten in der Schweiz von etwa 8 Milliarden Franken jährlich, verdoppeln Depressionen die Häufigkeit anderer somatischer Erkrankungen wie beispielsweise Herzinfarkt, Hirnschlag oder Diabetes und umgekehrt. Eine Behandlung der Depression kann der Expertin zufolge demnach auch die Prognose der Komorbiditäten verbessern, zum Beispiel durch die Steigerung der Compliance.
Wann ist es ein Burnout?
Ein Burnout ist ein stressbedingtes psychosomatisches Syndrom, gekennzeichnet durch eine physische, psychische und kognitive Erschöpfung im Kontext mit dem Arbeitsplatz. Dabei treten vegetative Symptome, Motivationsverlust und Leistungsminderung auf. Bei zunehmendem Schweregrad ist ein Burnout ein Risikofaktor für die Entwicklung einer Depression. Bei schwerem Burnout liegt eine Erschöpfungsdepression vor, die behandelt werden sollte.
Eine Erschöpfungsdepression oder Burnout am Arbeitsplatz entsteht häufig bei Personen mit grossem Elan, Idealismus, hoher Leistungsbereitschaft oder Hang zum Perfektionismus. Sie wollen «etwas verändern», «sich sozial engagieren», «die Extrameile gehen» und so weiter, Zur Erschöpfungsdepression kann es kommen, wenn diese Personen merken, dass sie trotz ihres hohen Einsatzes nicht umsetzen können, was sie sich vorgenommen haben, und an ihre Grenzen stossen. Ein gutes Beispiel hierfür sei das Pflegepersonal, das vor lauter Patienten «nicht mehr hinterherkommt», so Lang.
Typische Symptome einer Depression
Eine Depression äussert sich gemäss Lang hauptsächlich durch den Verlust von Interesse und Freude an Dingen, die den Betroffenen sonst wichtig waren, eine depressive Stimmung und einen verminderten Antrieb. Als Nebensymptome gelten Schlafstörungen, Appetitverminderung, verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit, vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, Gefühl von Schuld und Wertlosigkeit, Zukunftspessimismus sowie oder suizidale Gedanken bis zu deren Umsetzung (Kasten). Beim Vorhandensein von 2 Haupt- und 2 bis 4 Nebensymptomen kann laut den S3-Leitlinien für unipolare Depression die Diagnose einer leichten bis mittelgradigen Depression gestellt werden, wenn die Symptome länger als 2 Wochen persistieren (S3-Leitlinie). Bei 3 Haupt- und mindestens 4 Nebensymptomen handelt es sich um eine schwere Depression (1). In der Realität könne sich eine schwere Depression auch im Unvermögen zeigen, zur Arbeit zu gehen oder den Alltag zu bewältigen, so Lang.
KURZ & BÜNDIG
� Eine Depression kann weitere somatische Erkrankungen begünstigen.
� Fehlende soziale Vernetzung und Einsamkeit sind ein wichtiger Risikofaktor für Depressionen.
� Bei einer leichten Depression soll mit einer Psychotherapie begonnen werden.
Therapieoptionen
Insgesamt können Depressionen heute, wenn sie ohne Komorbidität auftreten, sehr gut behandelt werden. Bei zirka 80 Prozent der Patienten gibt es eine signifikante Besserung der Symptome innerhalb von 4 Wochen Behandlung. Die Therapie einer leichten Depression besteht in erster Linie aus einer Psychotherapie, bei einer mittelgradigen Depression kommen Psychotherapie oder Pharmakotherapie zum Einsatz und bei einer schweren Depression beide Therapieformen. Bei allen Depressionsformen soll der Verlauf wöchentlich
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Kasten:
Typische Symptome einer Depression
Symptome Beispielfragen
Hauptsymptome
Gedrückte, depressive Stimmung
▲ Haben Sie sich in den letzten 2 Wochen niedergeschlagen
oder traurig gefühlt?
▲ Gab es Zeiten, an denen Ihre Stimmung besser oder schlechter war?
Interessenverlust und Freudlosigkeit
▲ Haben Sie in der letzten Zeit das Interesse oder die Freude an
wichtigen Aktivitäten (Beruf, Hobby, Familie) verloren?
▲ Hatten Sie in den letzten 2 Wochen fast ständig das Gefühl,
zu nichts mehr Lust zu haben?
Antriebsmangel, erhöhte Ermüdbarkeit
▲ Haben Sie Ihre Energie verloren?
▲ Fühlen Sie sich ständig müde und abgeschlagen?
▲ Fällt es Ihnen schwer, die Aufgaben des Alltags wie gewohnt zu
bewerkstelligen?
Nebensymptome
Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit
▲ Haben Sie Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren?
▲ Haben Sie Mühe, die Zeitung zu lesen, fernzusehen oder einem
Gespräch zu folgen?
Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen ▲ Leiden Sie an fehlendem Selbstvertrauen und/oder Selbstwertgefühl?
▲ Fühlen Sie sich so selbstsicher wie sonst?
Schuldgefühle
▲ Machen Sie sich häufig Selbstvorwürfe?
▲ Fühlen Sie sich häufig schuldig für alles, was geschieht?
Psychomotorische Agitiertheit oder Hemmung
▲ Sind Sie innerlich so unruhig, dass Sie nicht stillsitzen können?
▲ Müssen Sie ständig auf und ab gehen, weil Sie so unruhig sind?
▲ Sprechen oder bewegen Sie sich langsamer also sonst?
Hoffnungslosigkeit
▲ Sehen Sie die Zukunft schwärzer als sonst?
▲ Haben Sie Pläne für die Zukunft?
Schlafstörungen
▲ Hat sich an Ihrem Schlaf etwas geändert?
▲ Schlafen Sie mehr/weniger als sonst?
Appetitstörungen
▲ Hatten Sie weniger Appetit in der letzten Zeit?
▲ Haben Sie ungewollt abgenommen?
Suizidgedanken, Suizidhandlungen
▲ Geht es Ihnen so schlecht, dass Sie über den Tod nachdenken oder
daran, dass es besser wäre, tot zu sein?
▲ Hatten oder haben Sie konkrete Pläne, sich etwas anzutun?
▲ Haben Sie versucht, sich etwas anzutun?
▲ Gibt es etwas, was Sie am Leben hält?
Quelle: mod. nach (1)
monitorisiert und die Therapiewirkung nach 3 bis 4 Wochen überprüft werden. Die Pharmakotherapie sollte tief dosiert mit 1 Medikament begonnen und nach 3 bis 4 Wochen entweder aufdosiert oder gewechselt werden, wenn nicht mindestens eine 50-prozentige Besserung eingetreten sei, so Lang. Eine Metaanalyse verglich die Wirksamkeit (Ansprechrate) und die Akzeptanz (Drop-out-Rate) von 21 Antidepressiva miteinander. Gemäss dieser sind alle beteiligten Antidepressiva signifikant wirksam, die meisten davon aber mit Nebenwirkungen behaftet. Die wenigsten Nebenwirkungen haben Agomelatin, Fluoxetin und Escitalopram, hinsichtlich der Wirkung bewegen sie sich im Mittelfeld beziehungsweise unteren Drittel (Fluoxetin) (2). Am Beginn einer Depression sei es sinnvoll, eine Therapie mit allgemein gut verträglichen Antidepressiva zu beginnen, empfahl Lang. Komme es nicht zu einem befriedigenden Rückgang der Symptome, sollten aus klinischer Sicht eher stärker wirkende Antidepressiva eingesetzt werden. In der Metaanalyse von Cipriani sind dies
zum Beispiel Amitryptilin, Duloxetin, Mirtazapin und Venlafaxin (2). Es sei wichtig zu wissen, so Lang, dass die psychotherapeutische Behandlung kontinuierlich besser evaluiert, beforscht und immer spezifischer ausgerichtet wird; sie sei insofern oft nachhaltiger als die Pharmakotherapie. In der Psychotherapie erlerne der Patient Entspannungstechniken (z. B. Meditation, Yoga), die es ihm erlaubten, mit Stressoren besser umzugehen; ausserdem würden durch die Psychotherapie heute mehr Ressourcen gestärkt als nur Symptome bekämpft werden. So erhöht die Psychotherapie bei praktisch allen psychiatrischen Störungsbildern die Wirksamkeit einer Therapie (3).
Neue Ansätze zur Therapie
Das Darmmikrobiom scheint auch Auswirkungen auf die Psyche zu haben. So spielen die Nahrung und die DarmHirn-Achse bei Depressionen eine Rolle. Beispielsweise un-
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terscheidet sich das Mikrobiom von Patienten mit Depression und von solchen ohne Depression. Diese Überlegung führte zu einer Studie, in der das Darmmikrobiom durch die Gabe von Probiotika verändert und praktisch augmentiert wurde. Die Studie untersuchte bei 60 Teilnehmern mit einer schweren depressiven Episode die Wirkung eines Probiotikagemischs versus Plazebo zusätzlich zur Standardbehandlung während eines Monats. In der Probiotikagruppe erhöhte sich der Lactobacillus-Anteil im Mikrobiom, was mit einer Reduktion von depressiven Symptomen assoziiert war (4). Ausserdem verbesserte sich die kognitive Leistungsfähigkeit im Vergleich zur Plazebogruppe (5). Für eine Empfehlung zur Verwendung eines spezifischen Präparats bestehe aber noch zu wenig Evidenz, so Lang. Neue Möglichkeiten bietet auch der Einsatz von Psychedelika bei Depressionen. Die erste in dieser Indikation bereits zugelassene Substanz ist das Ketamin, das als Esketaminnasenspray appliziert wird. Ketamin wirke laut der Expertin zügig und gut bei schwerer, behandlungsresistenter Depression. Die erste Wahl der Therapie in diesen Fällen sei jedoch nach wie vor die Gabe von Lithium, welches bei Therapieresistenz sehr gut wirksam sei und auch bei Suizidalität, da es die Suizidrate um das bis zu 10-Fache senke, wie viele Studien gezeigt hätten. Forschungen laufen auch mit Lysergsäurediethylamid (LSD) (6). In verschiedenen Untersuchungen zeigte LSD einen therapeutischen Effekt bei Angst und Depression, schwächte die Angstreaktion der Amygdala, erhöhte das Sozialerleben und die Empathie, veränderte die Konnektivität im Gehirn und unterdrückte die «Fehlernetzwerke». Die Verabreichung erfordert aber eine längere Überwachung. Andere psychedelische Substanzen wie etwa MDMA und Psilocybin könnten insbesondere bei der posttraumatischen Belastungsstörung kurz vor der Zulassung stehen (7).
Risikofaktoren und präventive Massnahmen
Es werde immer klarer, dass auch die Lebensweise die Entwicklung einer Depression begünstigen könne, so Lang. Zu Risikofaktoren gehören Stress, körperliche Erkrankungen, Traumata, soziale Isolation, Arbeitslosigkeit, Bewegungsmangel, Schlafmangel, eine ungesunde Ernährung und ein städtisches Umfeld. Umgekehrt seien Schutzfaktoren gelebte
Freundschaften, Kontakte zur Natur, Selbstwirksamkeit, Em-
pathie, Optimismus, Autonomie, Achtsamkeit, Spiritualität,
Sinnerleben, Humor, das Pflegen von diversen Hobbies,
Dankbarkeit, die Fähigkeit, anderen vergeben zu können oder
auch psychische Flexibilität, wie die Referentin aus ihrem
eigenen Buch zitierte (Lang 2019, «Resilienz», Kohlhammer
Verlag). Eine Untersuchung über den Zusammenhang von
Mortalität und sozialer Vernetzung zeigte beispielsweise, dass
ein hoher sozialer Support und eine hohe soziale Vernetzung
einen noch grösseren Einfluss auf die Mortalität haben als
eine «gesunde» Lebensweise (Alkoholkonsum, Rauchen,
Übergewicht und Sport) (8). Das zeige die Wichtigkeit, die
Einsamkeit von Menschen zu durchbrechen und sie in soziale
Netzwerke einzubinden, betonte die Psychiaterin abschlies-
send.
s
Valérie Herzog
Quelle: «Behandlung der Depression», FOMF Allgemeine Innere Medizin, 27.1.2023, in Basel.
Referenzen: 1. S3-Leitlinie: Nationale Versorgungsleitlinie Unipolare Depression. 2022.
www.awmf.org. Letzter Zugriff: 13.4.23 2. Cipriani A et al.: Comparative efficacy and acceptability of 21 antidepres-
sant drugs for the acute treatment of adults with major depressive disorder: a systematic review and network meta-analysis. Lancet. 2018;391(10128):1357-1366 und Focus (Am Psychiatr Publ). 2018;16(4):420429. 3. Huhn M et al.: Efficacy of pharmacotherapy and psychotherapy for adult psychiatric disorders: a systematic overview of meta-analyses. JAMA Psychiatry. 2014;71(6):706-715. 4. Schaub AC et al.: Clinical, gut microbial and neural effects of a probiotic add-on therapy in depressed patients: a randomized controlled trial. Transl Psychiatry. 2022;12:227. 5. Schneider E et al.: Effect of short-term, high-dose probiotic supplementation on cognition, related brain functions and BDNF in patients with depression: a secondary analysis of a randomized controlled trial. J Psychiatry Neurosci. 2023;48(1):E23-E33. 6. Holze F et al.: Lysergic acid diethylamide-assisted therapy in patients with anxiety with and without a life-threatening illness: a randomized, double-blind, placebo-controlled phase II study. Biol Psychiatry. 2023;93(3):215-223. 7. De Gregorio D et al.: Hallucinogens in Mental Health: Preclinical and Clinical Studies on LSD, Psilocybin, MDMA, and Ketamine. J Neurosci. 2021;41(5):891-900. 8. Holt-Lunstad J et al.: Social relationships and mortality risk: a meta-analytic review. PLoS Med. 2010;7(7):e1000316.
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