Transkript
FORTBILDUNG
Opioide zur Behandlung chronischer Schmerzen
Aktualisierte Guideline von VA und DoD
Experten des U.S. Department of Veterans Affairs (VA) und des U.S. Department of Defense (DoD) haben eine gemeinsame klinische Praxisleitlinie zur Anwendung von Opioiden im Management chronischer Schmerzen publiziert. Im Rahmen einer Synopse wurden die aktualisierten Empfehlungen zusammengefasst und wichtige Neuerungen aufgrund ihrer klinischen Relevanz hervorgehoben.
Annals of Internal Medicine
In den USA ist die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit dem Opioidkonsum zwischen 2000 und 2014 um 400 Prozent gestiegen. Dabei spielten auch verschreibungspflichtige Opioide eine wichtige Rolle. Schätzungen zufolge haben etwa 80 Prozent der Heroinkonsumenten zunächst vom Arzt verschriebene Opioide missbräuchlich angewendet. Eine durchdachte und umsichtige Anwendung von Opioiden ist daher zum einen von Bedeutung, um die Anzahl der Menschen zu verringern, die zum illegalen Drogenkonsum übergehen, zum anderen aber auch, um bei Patienten mit chronischen Schmerzen das Missbrauchsrisiko zu minimieren und ihre Sicherheit und Lebensqualität zu maximieren.
Beginn und Fortsetzung der Behandlung
Von einer Opioidtherapie nicht krebsbedingter chronischer Schmerzen wie Rücken-, Kopf- oder Arthroseschmerzen raten die Experten ab, da hier in Studien nur geringe schmerzlindernde Effekte und geringfügige Verbesserungen körperlicher Funktionen, jedoch unerwünschte Wirkungen beobachtet wurden. Im Unterschied zur letzten Leitlinienfassung raten die Experten jetzt generell von einer langfristigen Behandlung mit Opioiden ab, denn sie kann unabhängig von der Dauer mit schädigenden Auswirkungen verbunden sein. Dies gilt vor
allem für jüngere Menschen, weil das Alter in umgekehrtem Zusammenhang mit dem Risiko für missbräuchlichen Konsum und Überdosierung steht, sowie für Personen, bei denen bereits ein Substanzmissbrauch vorliegt. Für Patienten, die wegen eines problematischen Opioidkonsums medikamentös behandelt werden, gibt es im Hinblick auf die Behandlung gleichzeitig vorhandener chronischer Schmerzen keine ausreichenden Belege für oder gegen Methadon, Buprenorphin oder Naltrexon mit verlängerter Wirkstofffreisetzung. Bei manchen Personen erachten die Experten eine längerfristige Opioidtherapie als angemessen. Für Patienten, die täglich Opioide zur Behandlung chronischer Schmerzen benötigen, empfehlen sie in der aktualisierten Fassung neu die Anwendung des partiellen Opioidagonisten Buprenorphin anstelle von Opioidvollagonisten, da diese Substanz mit einem geringeren Missbrauchs- und Überdosierungsrisiko verbunden ist und ein günstigeres Sicherheitsprofil beispielsweise im Hinblick auf Atemdepressionen aufweist. Zudem verursacht Buprenorphin weniger euphorisierende Effekte und gilt als Firstline-Medikament zur Behandlung eines problematischen Opioidkonsums. Von der gleichzeitigen Einnahme von Benzodiazepinen und Opioiden bei chronischen Schmerzen raten die Experten ab.
MERKSÄTZE
� Opioide sollten in der niedrigsten möglichen Dosis über den kürzesten möglichen Zeitraum angewendet werden.
� Zur Opioidlangzeitbehandlung sollte der partielle Opioidagonist Buprenorphin gegenüber Opioidvollagonisten bevorzugt werden.
� Mit präoperativen Patientenschulungen zum Schmerzmanagement mit Opioiden kann einer unnötig langen postoperativen Anwendung vorgebeugt werden.
Dosierung, Behandlungsdauer und Absetzen
Auch in der aktualisierten Fassung empfehlen die Fachleute einen Beginn mit der niedrigsten Dosis, entsprechend dem Nutzen und den Risiken für den Patienten. In diesem Zusammenhang verweisen die Autoren auf das dosisabhängige Risiko für problematischen Opioidkonsum. Wird eine Erhöhung der Opioiddosis in Erwägung gezogen, empfehlen die Experten eine regelmässige Neubewertung des Nutzens und der Risiken im Zusammenhang mit der höheren Dosis. Wie in der alten Fassung empfehlen die Experten auch in der überarbeiteten Version eine Opioidanwendung über den kürzesten möglichen Zeitraum. Nach Behandlungsbeginn sollte
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FORTBILDUNG
Steckbrief
Wer hat die Guideline erstellt? U.S. Department of Veterans Affairs (VA), U.S. Department of Defense (DoD)
Wann wurden sie erstellt? 2022
Für welche Patienten? Patienten mit chronischen Schmerzen
Was ist neu? ▲ Bevorzugung von Buprenorphin gegenüber Opioidvollagonisten ▲ Evaluierung von Verhaltensstörungen, die bei Patienten mit chroni-
schen Schmerzen zusätzlich vorliegen können ▲ Screening auf Schmerzkatastrophisierung, wenn Opioide zur Be-
handlung akuter Schmerzen in Betracht gezogen werden ▲ präoperative Patientenschulung zum Schmerzmanagement mit
Opioiden
spätestens nach 30 Tagen eine erneute Beurteilung vorgenommen werden. Des Weiteren werden häufige Nachuntersuchungen bei Fortsetzung der Behandlung empfohlen. In der aktualisierten Fassung raten die Experten von der Anwendung lang wirkender Opioide ab bei akuten Schmerzen, bei der Anwendung als Bedarfsmedikation und bei Beginn einer langfristigen Opioidtherapie, da diese Substanzen mit höheren Risiken verbunden sind als kurz wirksame Opioide. Im Allgemeinen wird jedoch kein einzelnes Opioid beziehungsweise keine einzelne Opioidformulierung gegenüber anderen bevorzugt empfohlen, da nur eine begrenzte Evidenz über die vergleichbare Wirksamkeit und Sicherheit verschiedener Opioidformulierungen vorliegt. Bei einer Dosisreduzierung oder beim Absetzen von Opioiden empfehlen die Experten eine kooperative, patientenzentrierte
Vorgehensweise. Sie fanden jedoch keine ausreichende Evidenz für oder gegen bestimmte Tapering-Strategien. Potenzielle Schädigungen können durch schrittweises Absetzen des Medikaments unter Vermeidung von Entzugssymptomen abgemildert werden.
Screening, Evaluierung und Risikominimierung
Wird eine Langzeitopioidtherapie eingeleitet, fortgesetzt, ge-
ändert oder beendet, sollte das Suizid- und Selbstverletzungs-
risiko evaluiert werden. Als neue Empfehlung beinhaltet die
aktualisierte Leitlinienfassung bei Erwägung einer Langzeit-
opioidtherapie ein Screening auf Verhaltensstörungen oder
auf eine Schmerzkatastrophisierung, da diese Faktoren mit
einem höheren Gefährdungsrisiko verbunden sind.
Auch bei Patienten mit akuten Schmerzen, bei denen Opioide
in Betracht gezogen werden, empfehlen die Experten ein
Screening bezüglich Schmerzkatastrophisierung und Verhal-
tensstörungen, um Personen mit höherem Gefährdungsrisiko
identifizieren zu können.
Bei dauerhafter Opioideinnahme sollten regelmässige Neu-
bewertungen des Nutzens und der Risiken sowie Harntests
durchgeführt werden. In einer neuen Empfehlung raten die
Experten, Patienten vor einer Operation über die Bedeutung
von Opioiden im Rahmen des Schmerzmanagements aufzu-
klären, um das Risiko eines unnötig langen Opioidkonsums
bei postoperativen Schmerzen zu verringern.
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Petra Stölting
Quelle: Sandbrink F et al.: The use of opioids in the management of chronic pain: synopsis of the 2022 updated U.S. Department of Veterans Affairs and U.S. Department of Defense clinical practice guideline. Ann Intern Med. 2023;176(3):388-397.
Interessenlage: Die Erarbeitung der Guideline wurde vom VA finanziert. Zu den Interessenkonflikten der einzelnen Autoren der referierten Synopse liegen keine Angaben vor.
Opioide: Wie steht es um das Verschreibungsverhalten in der Schweiz?
Um den Einsatz von Opioiden in der Schweiz zu überprüfen hat ein Team unter Leitung von Prof. Maria Wertli, Kantonsspital Baden, 1 921 382 Arbeitsunfälle mit muskuloskelettalen Verletzungen aus den Daten der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) ausgewertet. Dazu zählen Brüche, Prellungen und Verstauchungen ebenso wie oberflächliche Verletzungen. Die Zunahme an Verschreibungen von mindestens einem Schmerzmedikament (Metamizol: +254%; starke Opioide: +88,4%; Coxibe: +85,8%; Paracetamol: +28,1%) sei deutlich grösser als der Zuwachs bei den Verletzungen (+9,4%), berichten die Autoren. Ein Anstieg der Verschreibung von starken Opioiden wurde sowohl bei leichten (+91,4%) als auch bei schweren (+88,3%) Verletzungen beobachtet. Dabei wirken Opioide bei muskuloskelettalen Verletzungen nicht besser als andere Schmerzmittel, sie gehen jedoch
häufiger mit unerwünschten Wirkungen einher (kognitive
Beeinträchtigungen, Übelkeit, Hyperalgesie bis hin zur
Gefahr der Abhängigkeit). Starke Opioide und Metamizol
kommen vor allem in der Deutschschweiz zum Einsatz,
weniger stark in der französisch- und italienischsprachigen
Schweiz. Die zunehmend liberale Verschreibungspraxis
stehe im Widerspruch zu aktuellen, evidenzbasierten Praxis-
empfehlungen, so Wertli, es gelte daher, die Ärzteschaft
und die politischen Entscheidungsträger zu sensibilisieren,
um diese bedenkliche Entwicklung zu stoppen.
Mü
Quelle: Medienmitteilung Kantonsspital Baden, 26.04.2023; Müller D et al.: Increased Use and Large Variation in Strong Opioids and Metamizole (Dipyrone) for Minor and Major Musculoskeletal Injuries Between 2008 and 2018: An Analysis of a Representative Sample of Swiss Workers. J Occup Rehabil (2023).
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