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BERICHT
Osteoporose
Mangelhafte Therapie in der Schweiz?
Die medikamentöse Behandlung bei Osteoporose nahm bis 2008 zu. Seitdem sinkt der Anteil der Patientinnen und Patienten, die wegen eines erhöhten Frakturrisikos behandelt werden. In einer Studie gingen Prof. Kurt Lippuner und seine Co-Autoren der Frage nach, wie gross die Behandlungslücke ist.
Archives of Osteoporosis
Mit der steigenden Lebenserwartung nimmt auch der Anteil jener Personen zu, die ein Osteoporoserisiko haben, das über der Therapieschwelle liegt und demnach einer Behandlung bedarf. Trotz der zwischen 1998 und 2018 entwickelten und angewendeten Therapien (Bisphosponate, Denosumab) und der in der Folge gesunkenen Hüftfrakturfälle steigt die Zahl behandlungsbedürftiger Personen numerisch an, weshalb man von einer Behandlungslücke sprechen kann. Diese ist definiert als der prozentuale Anteil von Personen mit einem Risiko für osteoporotische Frakturen, die aber unbehandelt bleiben. Um diese Behandlungslücke zu ermitteln, wurden 4 Patientenszenarien herangezogen: Das konservativste Szenario berücksichtigte Frauen und Männer mit einem T-Score ≤ –2,5 an Femurhals oder Lendenwirbel. Die anderen Szenarien waren definiert durch die FRAX-basierte Risikoschwelle (für die Schweiz) für schwere osteoporotische Frakturen (major osteoporotic fracture, MOF) von > 15 oder 20 Prozent in verschiedenen Altersklassen. Die kumulierten Patientenjahre mit Therapie beliefen sich auf 1,894 Millionen in 21 Jahren, davon wurden 48,3 Prozent mit oralen Bisphosphonaten behandelt, 28,9 Prozent mit i.v.-Bisphosphonaten, 19 Prozent mit Denosumab, 3 Prozent mit Raloxifen und 0,8 Prozent mit Teriparatid. Die Informationen betreffend Therapien stammen aus den Medikamentenverkaufsdaten von IQVIA, die aber keine Angaben zu Geschlecht und Indikation liefern.
Viele Medikamente, kein Zuwachs
1998, 2 Jahre nach der Lancierung des ersten Bisphopsphonats Alendronat, begann die Zahl der Patienten unter Behandlung mit Antiosteoporotika stetig anzusteigen. Den Höhepunkt erreichte die Kurve 2008; nach der Einführung der parenteralen Antiosteoporotika 2009 flachte sie ab, um danach kontinuierlich zu sinken. In allen Szenarien stieg das Patientenpotenzial für eine osteoporotische Fraktur beziehungsweise eine Therapie während dieser 21 Jahre von 36 auf 39,5 Prozent an, was die rasche Alterung der Schweizer Bevölkerung reflektiert: In der Gruppe der Personen mit T-Score ≤ –2,5 stieg die Zahl der für eine Behandlung infrage kommenden Personen von 291 258 auf 401 751 (+ 110 493), bei Berücksichtigung eines FRAXRisikos von > 15 Prozent von 641 687 auf 895 310 (+ 253 623). Die Behandlungslücke wird seit 2008 trotz der verfügbaren Therapien immer grösser. Während sie 1998 bei 92 Prozent
lag (von 449 328 Risikopersonen wurden 35 901 behandelt),
sank sie 2018 zwar auf 62 Prozent (von 610 822 Risikoper-
sonen wurden 233 381 behandelt), doch angesichts der stei-
genden absoluten Zahlen von behandlungsbedürftigen Per-
sonen unterscheidet sie sich nur minimal.
Auch die Einführung der per Injektion applizierbaren Bis-
phosphonate wie Ibandronat i.v. (2006), Zoledronat i.v.
(2007) und Denosumab s.c. (2010) resultierte nicht in einem
Anstieg der behandelten Patienten. Als Ursache dafür ver-
muten die Autoren die Umstellung bestehender Patienten von
oralen auf parenterale Therapien. Der selektive Östrogenre-
zeptormodulator (SERM) Raloxifen und das Knochenana-
bolikum Teriparatid änderten ebenfalls nichts an der Unter-
versorgung. Die beiden Präparate hatten im Jahr 2018, in
Behandlungstagen ausgedrückt, einen Anteil von < 2 Pro- zent. Weitere Gründe dafür, dass die Anzahl der Therapien nicht mit der Anzahl potenzieller Patienten korreliert, verorten die Autoren in den 2011 von der FDA propagierten «drug holi- days» nach 3 bis 5 Jahren Bisphosphonattherapie sowie in Berichten über die sehr seltene Kieferknochennekrose als Nebenwirkung. Dabei dürften viele Patienten die Therapie nicht wieder aufgenommen haben, trotz des Hintergrunds, dass «drug holidays» eine vorübergehende Medikamenten- pause implizieren, während dieser regelmässige Kontrollen stattfinden und gegebenenfalls eine Weiterbehandlung erfol- gen sollten. Die Behandlungslücke in der Schweiz ist in den letzten 10 Jahren trotz der Verfügbarkeit von knochenaktiven Thera- pien grösser geworden. Um sie zu reduzieren, sollte den Au- toren zufolge wieder ein aktives «case finding» stattfinden, wie das zum Zeitpunkt der Einführung der Bisphosphonate der Fall war. Die Öffentlichkeit sollte wieder vermehrt über die Gefahr von Osteoporose und Ermüdungsfrakturen infor- miert und Patienten mit hohem Risiko für eine Osteoporose sollten mit dem FRAX-Tool identifiziert und einer Behand- lung zugeführt werden. s Valérie Herzog Quelle: Lippuner K et al.: The osteoporosis treatment gap in Switzerland between 1998 and 2018. Arch Osteoporos. 2023;18(1):20. Interessenlage: Einer der Studienautoren war Experte in Advisory-BoardMeetings von Amgen AG und UCB Pharma AG Schweiz. 228 ARS MEDICI 8 | 2023