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FORTBILDUNG
Schlafmittel bei der Insomniebehandlung
Pro und Contra
Kaum ein Medikament wird so ambivalent gehandhabt wie Hypnotika – einerseits wird es seit jeher als Standardtherapie bei Schlafstörungen eingesetzt, andererseits ist es mit zunehmend negativem Image behaftet: Hypnotika machen «süchtig», führen zu «erheblichen Absetzeffekten» und machen den «natürlichen Schlaf kaputt». Aber was ist die Alternative? Im Folgenden werden die typischen Problemstellungen in einer spezialisierten Schlafambulanz beschrieben und Empfehlungen für die hausärztliche Praxis gegeben.
Tatjana Crönlein
Schlafstörungen sind nicht nur häufig, sie nehmen auch zu. Statistiken wie die der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) (2) zeigen, dass in Deutschland 35 Prozent der Bevölkerung Schlafstörungen haben und 6 Prozent an einer klinisch relevanten Insomnie leiden (1). In der Schweiz ist gemäss Bundesamt für Statistik etwa ein Viertel der Bevölkerung von Schlafstörungen betroffen, bei 6 Prozent sind diese pathologisch (3). Die Anzahl der Hypnotikakonsumenten unter den Berufstätigen hat sich von 5 auf 9 Prozent erheblich gesteigert. Frauen und ältere Personen scheinen generell mehr Psychopharmaka verschrieben zu bekommen, wofür unterschiedliche Gründe wie beispielsweise die Symptompräsentation diskutiert werden.
Typische Symptome einer Insomnie
Die Kasuistik beschreibt eine sehr häufige Symptomkonstellation einer Insomnie (siehe Tabelle 1). Typisch ist ein Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber dem Schlaf, dies wird vor allem durch Unfähigkeit, den verlorenen Schlaf tagsüber nachzuholen, verstärkt. Damit einhergehend, findet sich häufig eine starke Fokussierung auf den gestörten Schlaf und die antizipierten Folgen, verbunden mit einer Forderungshaltung («Sie sind meine letzte Hoffnung»). Viele Patienten befürchten einerseits, durch die anhaltenden Schlafstörungen erheblichen
MERKSÄTZE
� Vorteil einer Pharmakotherapie bei Schlafstörungen ist die rasche und zuverlässige Wirksamkeit.
� Nachteile sind u. a. unerwünschte Nebenwirkungen, Toleranzentwicklung, Absetz- und Hangover-Effekte.
� Insomniepatienten brauchen viel Zeit und Aufmerksamkeit.
Schaden, entweder körperlicher oder beruflicher Art, zu erleiden und wollen eine schnelle und umfassende Lösung des Problems. Andererseits wird häufig eine Abneigung gegenüber einer pharmakologischen Behandlung signalisiert. Ein weiteres Problem ist der häufig chronische Verlauf der Schlafstörung mit vielen frustranen Therapieversuchen.
Schlafmittel sind besser als ihr Ruf
Die verschriebenen Substanzen haben sich in den letzten Jahrzehnten erheblich gewandelt, von Benzodiazepinen über Z-Substanzen bis hin zu sedierenden Antidepressiva. Die Vorteile der Pharmakotherapie sind die Effizienz und die rasche Wirksamkeit, Nachteil ist die limitierte empfohlene Einnahmedauer, vor allem bei den Benzodiazepinrezeptoragonisten. Insgesamt ist das Abhängigkeitspotenzial bei Hypnotika eher als gering einzuschätzen. Die Praxis zeigt, dass es ausser einer Rebound-Insomnie (die in der Regel nur kurz anhält) meist keine schweren Absetzeffekte gibt. Das Problematische am Absetzen des Hypnotikums ist weniger der Entzug, sondern eher die Tatsache, dass der Betroffene dann ohne Hilfe ist. Ein Hypnotikum sollte also immer dann abgesetzt werden, wenn sich die Schlafstörung entweder von allein stabilisiert hat oder dem Betroffenen eine Alternative (z. B. eine kognitive Verhaltenstherapie) angeboten wurde. Weitere Nachteile (siehe Tabelle 2) sind unerwünschte Nebenwirkungen (z. B. Restless-Legs-Syndrom) und ein Wirkverlust. Letzterer ist das Hauptproblem bei der Hypnotikaeinnahme. Einer US-amerikanischen Studie zufolge leiden 53 Prozent der Patienten mit Hypnotika noch an Schlafstörungen (4). Das Hauptproblem der Schlafmittel ist also, dass sie bei einem Teil der Patienten nicht wirken – und dass diese Patienten ihre Hypnotika weiternehmen. Insgesamt gibt es auf dem Schlafmittelmarkt einen hohen Anteil an sogenannten Over-the-Counter-Produkten – überwiegend auf pflanzlicher Basis. Bedauerlicherweise ist die wissenschaftliche Datenlage hier noch zu dünn (5).
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Kasuistik: Lehrerin mit Schlafstörungen
Frau K. habe eigentlich noch nie richtig gut geschlafen, sie sei schon als Kind deswegen häufig ermahnt worden. Während ihrer Ausbildung habe sich der Schlaf dann etwas gebessert, sei jedoch mit der Geburt ihrer Kinder schlechter geworden. Sie habe gefühlt keine Nacht mehr durchgeschlafen und unabhängig von der Schlafqualität der Kinder dann auch noch Einschlafstörungen entwickelt. Trotz der Schlafstörungen und der Müdigkeit habe sie wieder angefangen, als Lehrerin zu arbeiten. In den letzten Jahren sei sie jedoch zunehmend überfordert gewesen. Sie habe schon als Jugendliche Schlafmittel eingenommen, dessen Namen sie jedoch nicht erinnere. Nach der Geburt der Kinder habe sie zunächst pflanzliche Mittel genommen, dann von ihrem Hausarzt Zolpidem verschrieben bekommen. Damit habe sie endlich wieder einschlafen können. Aus Angst vor Abhängigkeit habe sie das Mittel jedoch nicht weiter einnehmen wollen. Sie habe schliesslich Mirtazapin genommen, zunächst in einer Dosierung von 15 mg, dann 7,5 mg. Leider habe sie hierunter ein Restless-Legs-Syndrom entwickelt. Es folgten dann Therapieversuche mit Trazodon, Doxepin und Opipramol. Die Medikamente hätten immer nur vorübergehend geholfen. Sie habe auch immer wieder einmal Zolpidem genommen, wenn nichts mehr geholfen habe und sie «endlich mal wieder» eine Nacht durchschlafen wollte. Mittlerweile wirke auch dies nicht mehr. Sie sei verzweifelt, habe bereits «alles» an schlafhygienischen Massnahmen versucht (Verzicht auf Kaffee und abendlichen Sport, regelmässige Bettzeiten), ohne Verbesserung. Sie gehe gegen 22 Uhr ins Bett und stehe um zirka 7 Uhr auf, sie erreiche höchstens 4 Stunden Schlaf. Tagsüber könne sie überhaupt nicht schlafen, egal wie müde sie sei. Sie wisse aber, dass sie so nicht mehr lange ihren Alltag schaffen werde.
Tabelle 1:
Typische Symptome einer Insomnie in der Schlafambulanz
Chronische Ein- und Durchschlafstörungen Erhebliches Nachlassen der Leistungsfähigkeit/Zukunftsängste Unfähigkeit, den Schlaf am Tage nachzuholen, trotz Müdigkeit Frustrane Therapieversuche Versuch, den wenigen Schlaf durch lange Bettzeiten und Schonung am Tage zu kompensieren
Tabelle 2:
Vor- und Nachteile von Hypnotika
Nachteile: ▲ unerwünschte Nebenwirkungen ▲ Toleranzentwicklung ▲ Absetzeffekte ▲ dysfunktionale psychologische Effekte ▲ Empfehlung einer zeitlich begrenzten Einnahmedauer ▲ Hangover-Effekte
Vorteile: ▲ rasche Wirkung ▲ zuverlässige Wirkung ▲ immer verfügbar
Therapeutische Empfehlungen
Das Setting einer spezialisierten Schlafambulanz bietet den Vorteil, dass mehr Zeit zur Verfügung steht, und die Möglichkeit einer weiterführenden Diagnostik in einem Schlaflabor. Verdachtsdiagnosen, die aufgrund ambulanter Messmethoden erhoben worden sind, können im Schlaflabor überprüft werden. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen können die folgenden Empfehlungen ausgesprochen werden.
Sich Zeit nehmen
Wie viele andere psychosomatische Krankheitsbilder bedürfen auch die der Insomniepatienten Zeit und Aufmerksamkeit. Schlafstörungen können Ausdruck einer zugrunde liegenden körperlichen Ursache sein oder auch dem typischen psychophysiologischen Teufelskreis der Insomnie entsprechen (6). Unter Letzterem ist die Wechselwirkung zwischen gestörtem Schlaf, erhöhter ängstlicher Beobachtung und Anspannung zu verstehen. Allein die differenzialdiagnostische Untersuchung und die erste Aufklärung können zeitintensiv sein, ersparen, langfristig gesehen, jedoch unnütze Therapieversuche.
Aufklärung hilft
Viele Patienten fühlen sich bezüglich ihrer Schlafstörungen zu wenig aufgeklärt. Was ist die Ursache meiner Schlafstörung? Haben diese Folgen für die Gesundheit? Auch wenn es nicht die Schlafstörung gibt, kann der Patient über Folgendes aufgeklärt werden: 1. Schlafstörungen sind grundsätzlich behandelbar. 2. Bei der Insomnie gibt es medikamentöse und verhaltens-
therapeutische Therapiemethoden. 3. Man sollte die Insomnie sehr ernst nehmen, sie ist grund-
sätzlich jedoch keine gefährliche Erkrankung.
Viele schlafbezogene Ängste bestehen aufgrund falscher Vorstellungen (7), zum Beispiel auf der Annahme, dass mindestens 7 Stunden lang in der Nacht geschlafen werden sollte und weniger Schlaf für den Körper schädlich sei. Allein die Revision dieser dysfunktionalen Vorstellung kann schon zu einem Abbau schlafbezogener Ängste und damit zu einer Verbesserung der Schlafqualität führen. Psychoedukative Inhalte finden sich in seriösen Ratgebern zum Thema Insomnie (z. B. auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin [DGSM], www.dgsm.de).
Differenzialdiagnostik ist wichtig
Wann kann ich von einer psychophysiologischen Ursache der Schlafstörung ausgehen, und wann sollte ich weiter differenzialdiagnostisch untersuchen? Typische Merkmale für eine weitergehende körperliche Untersuchung sind in Tabelle 3 aufgelistet. Falls sich die Schlafstörung unter der Therapie nicht verbessert, sondern eher noch verschlechtert, sollte eine weiterführende schlafmedizinische Untersuchung initiiert werden. Untersuchungen haben gezeigt, dass etwa 20 Prozent aller Insomniepatienten eine unerkannte organische Schlafstörung, zum Beispiel eine Schlafapnoe, haben (8). Bei Verdacht auf eine organische Schlafstörung sollte eine weiterführende Untersuchung stattfinden, beispielsweise mit einer Polygraphie zur Abschätzung einer schlafbezogenen Atmungsstörung.
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Tabelle 3:
Symptome, die bei einer Insomnie auf eine körperlich bedingte Schlafstörung hinweisen
Morgendliche Abgeschlagenheit; Gefühl, wie gerädert zu sein Ungewolltes Einschlafen tagsüber Überwiegend Durchschlafstörungen mit raschem Wiedereinschlafen Verschlechterung der Schlafstörung durch Alkohol oder Benzodiazepine Anzeichen eines Restless-Legs-Syndroms Schnarchen Behinderte Nasenatmung Übergewicht Alter > 50 Jahre
Methoden wie der Stimuluskontrolle und chronobiologi-
schen Methoden wie der Bettzeitenrestriktion, allesamt in ein
kognitives Therapiemodell eingebettet. Metaanalysen zeigen,
dass die KVT-I nicht nur vergleichbar gute Effekte wie die
Hypnotikatherapie zeigt (9), sondern vor allem einen nach-
haltigen Effekt, der über das Therapieende hinaus noch mess-
bar ist. Der hohe edukative Anteil in der KVT-I macht es
möglich, die Therapie grundsätzlich auch mit reduziertem
Therapeuten-Patienten-Kontakt (z. B. digital online) zu ver-
mitteln. Dies hat die Entwicklung von Selbsthilfeprogram-
men angestossen und natürlich einem grossen Markt von
Ratgebern Platz geschaffen. Im ambulanten Bereich haben
sich gruppentherapeutische Programme etabliert. Die Dauer
der Sitzungen variiert zwischen 1 und 8 Sitzungen, kann aber
auch länger sein. Die KVT-I sollte unbedingt bei chronischen
Insomnien empfohlen werden. Die Einnahme eines Hypnoti-
kums ist keine Kontraindikation.
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Umsichtiger Umgang mit Schlafmitteln
Man sollte dem Patienten grundsätzlich die Chance auf ein Schlafmittel geben, zumal die meisten Hypnotika in der Regel ohne Probleme absetzbar sind. Insbesondere bei reaktiven Schlafstörungen im Rahmen einer Stressreaktion (Trennung, Prüfung usw.) können Schlafmittel rasch Abhilfe schaffen und den Patienten entlasten. Andererseits bergen sie auch bestimmte Gefahren, wobei die grösste Gefahr die einer Chronifizierung der Schlafstörung darstellt (siehe oben). Patienten verlassen sich unter Umständen auf die «gute Wirkung» und vermeiden eine Umstellung ihrer Schlafgewohnheiten.
Richtige und falsche Schlafhygiene
Schlafhygienische Regeln finden sich in unterschiedlichen Qualitätsstandards in der Fach- wie auch in der Laienliteratur. Der Begriff als solcher ist nicht geschützt, und von daher fühlen sich viele befugt, schlafhygienische Tipps zu geben. Gute schlafhygienische Empfehlungen zeichnen sich durch folgende Eigenschaften aus: s Sie sollten das Entstehen von Schlafstörungen verhindern. s Sie sollten eine bestehende Schlafstörung nicht verschlech-
tern. s Sie sollten sich an wissenschaftlichen Standards der Schlaf-
medizin orientieren. Leider erfüllen viele Massnahmen diese Standards nicht und können im schlimmsten Fall nicht nur den Schlaf, sondern auch die Lebensqualität des Betroffenen erheblich einschränken. Auch an dieser Stelle kann auf die Ratgeber der DGSM verwiesen werden.
Kognitive Verhaltenstherapie für Insomnie
Die kognitive Verhaltenstherapie für Insomnie (KVT-I) wird mittlerweile in den Leitlinien als Therapie der ersten Wahl empfohlen (5). Sie hat das Ziel, das Wechselspiel zwischen gestörtem Schlaf, ängstlicher Sorge und dysfunktionalem Verhalten wirksam zu unterbrechen. In der Therapie wird der Patient auf der Basis einer Aufklärung über Mechanismen der Schlafregulation und des Krankheitsbildes der Insomnie motiviert, schlaffördernde Verhaltensmassnahmen auszuprobieren, und er wird bei der Ausführung therapeutisch begleitet. Die KVT-I basiert auf klassischen verhaltenstherapeutischen
PD Dr. phil. Tatjana Crönlein Schlafmedizinisches Zentrum Universität Regensburg D-93053 Regensburg
Interessenlage: Die Autorin hat keine Interessenkonflikte deklariert.
Dieser Artikel erschien erstmals in «doctors today» 9/22. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autorin.
Literatur: 1. Schlack R et al.: Häufigkeit und Verteilung von Schlafproblemen und
Insomnie in der deutschen Erwachsenenbevölkerung: Ergebnisse der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1). Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz. 2013;56(56):740-748. 2. Nolting HD: Gesundheitsreport 2017: Deutschland schläft schlecht – ein unterschätztes Problem. IGES-Institut/Deutsche Angestellten-Krankenkasse (DAK), 2017; https://www.dak.de/dak/download/praesentation-iges-2108946.pdf (abgerufen 4.2.23). 3. Bundesamt für Statistik (BfS): Schweizerische Gesundheitsbefragung 2012: Schlafstörungen in der Bevölkerung. Mai 2015, https://www.bfs. admin.ch/asset/de/350820 (abgerufen 4.2.23). 4. Pillai V et al.: Effectiveness of benzodiazepine receptor agonists in the treatment of insomnia: an examination of response and remission rates. Sleep. 2017;40(2):zsw044. 5. Riemann D et al.: S3-Leitlinie Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen. Somnologie. 2017;21:2-44. 6. Harvey AG: A cognitive model of insomnia. Behav Res Ther. 2002;40(8):869-893. 7. Morin CM et al.: Dysfunctional beliefs and attitudes about sleep among older adults with and without insomnia complaints. Psychol Aging. 1993;8(3):463-467. 8. Crönlein T et al.: Polysomnography reveals unexpectedly high rates of organic sleep disorders in patients with prediagnosed primary insomnia. Sleep Breath. 2012;16(4):1097-1103. 9. Koffel EA et al.: A meta-analysis of group cognitive behavioral therapy for insomnia. Sleep Med Rev. 2015;19:6-16.
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