Transkript
Facetten des Symptoms «Schmerz»
Der Weg zur wirksamen Therapie
FORTBILDUNG
Wenn sich Schmerzen nicht eindeutig einer behandelbaren somatischen Ursache zuordnen lassen, entsteht leicht Hilflosigkeit bei Patienten und Ärzten. Doch dem subjektiven Phänomen «Schmerz» kann eine Reihe von Einflussfaktoren, häufig auf psychosozialem Gebiet, zugrunde liegen, die es aufzudecken gilt. So können das Vertrauen in den Therapeuten und die Wirksamkeit der Therapie gefördert werden.
Peter Besuch
Eines der häufigsten Schmerzbilder in der ärztlichen Praxis sind Rückenschmerzen. Unter Rückenschmerzen leiden mit einer Lebenszeitprävalenz von zirka 80 Prozent die meisten Menschen mindestens 1-mal in ihrem Leben. Sie sind der häufigste Grund für eine Frühberentung. Aufgrund der volkswirtschaftlichen Auswirkungen gehört das Phänomen zu einem der dringlichsten Gesundheitsprobleme unserer Gesellschaft (2). In diesem Artikel sollen Anregungen zu möglichen Veränderungen der Diagnostik und der Therapie von Schmerzen im täglichen Behandlungsalltag formuliert werden. Patienten mit Schmerzen haben oft hohe Erwartungen an die Therapie, diagnostisch wird häufig ein grosser Aufwand betrieben. Bleibt dieser ohne Ergebnis, kommt es häufig zu unbefriedigenden Therapieverläufen (5). Verschiedene Gründe führen zu vorzeitiger, nicht den Leitlinien entsprechender Zuweisung von Patienten zu technisch-diagnostischen Massnahmen. Die Bedeutung von allgemeinem Bewegungsmangel, Stress und Arbeitsunzufriedenheit im Zusammenhang mit der
MERKSÄTZE
� Der Grundsatz der kausalen Behandlung der Schmerzen hat Bestand.
� Schmerzaufrechterhaltende und -verstärkende psychosoziale Faktoren sollten frühzeitig erfragt und in die Therapie einbezogen werden.
� Es gilt, die «Zufriedenheitsfalle» zu vermeiden.
� Interdisziplinarität bei möglichst wenigen Behandlern (z. B. Schmerzkonferenzen) ist sinnvoll.
� Eine positive Behandlungserwartung ist zu fördern.
� Statt einer Einteilung in akute und chronische Schmerzen sollten besser akute und nicht akute Schmerzen unterschieden werden.
Entstehung von Schmerzen in aufrechter Haltung wird häufig unterbewertet. Die Zufriedenheit der Patienten steigt zunächst mit der Menge der Verordnungen. Es besteht das Risiko, sich in einer «Zufriedenheitsfalle» wiederzufinden, denn mehr Verordnungen und mehr Zufriedenheit bedeuten nicht automatisch eine Besserung des Leidens (9). Es ist notwendig, Schmerz als Emotion zu verstehen. In der Schmerzforschung wird die Differenzierung von Schmerzarten auf Basis verschiedener Betrachtungsweisen angestrebt, um eine mechanismenbasierte Therapie zu realisieren (7). Die Bedeutung sowohl somatopsychischer als auch psychosomatischer Zusammenhänge im Sinne eines biopsychosozialen Krankheitsmodells findet dabei Eingang in etablierte Behandlungsabläufe (11).
Nicht akute Schmerzen
Zuordnung bereits vor Ablauf von 3 Monaten: s Die Symptomatik ist aus den somatischen Befunden hin-
sichtlich Dauer und Ausprägung sowie resultierender Einschränkungen nicht hinreichend erklärbar. s Die ausschliessliche Behandlung diagnostizierter somatischer Veränderungen führt mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zur vollständigen Regredienz von Beschwerden und Einschränkungen. s Die Integration psychosozialer Faktoren, die die Beschwerden aufrechterhalten können (yellow flags; vgl. Kasten), ist erforderlich. s Diagnosen, die eine Verordnung von Heilmitteln begründen könnten, sollten ggf. gestellt werden (z. B. R 52.2 – sonstiger chronischer Schmerz, R 26.8 – sonstige Gangstörung). s Diagnosen, die die Abrechnung der Diagnostik und der Therapie psychosomatischer Erkrankungen sowie der Krisenintervention bei solchen Erkrankungen rechtfertigen, sollten ggf. gestellt werden (z. B. F 45.41 – chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren), um den erhöhten Zeitaufwand abbilden zu können.
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«Yellow flags»: psychosoziale Risikofaktoren für eine Chronifizierung (10)
Kognitive Faktoren: ▲ Annahmen, Überzeugungen, Bewertungen, Glaubenssätze ▲ Erwartungen ▲ Denkweisen (z. B. Katastrophisieren oder Unterdrückung von
Gedanken)
Emotionale Faktoren: ▲ anhaltender alltäglicher Stress, depressive Stimmung, Hoffnungs-
losigkeit, Sorgen, Ängste, Hilflosigkeit
Verhaltensfaktoren: ▲ Vermeidungsverhalten, Durchhalteverhalten/suppressives Verhal-
ten (Schmerzen nicht wahrhaben wollen)
Akute Schmerzen
s Die Symptomatik ist durch den somatischen Befund hinsichtlich Dauer und Ausprägung sowie durch resultierende Einschränkungen kausal erklärbar.
s Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist eine vollständige Regredienz von Beschwerden und Einschränkungen durch Behandlung der somatischen Erkrankung zu erwarten.
s Die langfristige Verordnung von Heilmitteln ist nicht erforderlich, da die Funktionskapazität durch Aktivitäten des täglichen Lebens sowie durch körperliche Aktivitäten aufrechterhalten werden kann.
Etablierte Behandlungsroutinen und deren Folgen
Die frühe Einordnung von Schmerzen in die Kategorien körperliche oder psychische Genese beziehungsweise akut oder chronisch führt dazu, dass psychosoziale Begleitfaktoren meist zu spät oder gar nicht berücksichtigt werden. Eine Chronifizierung ist bereits eingetreten, bevor Patienten ein entsprechendes Angebot erhalten und/oder wahrnehmen (11). Ziel ist es, das von den Patienten gelernte Verhalten, was die Inanspruchnahme des medizinischen Systems angeht, und deren bisherige Erfahrungen im diagnostischen und therapeutischen Prozess zu beeinflussen. Gleichzeitig sollten die für den Therapieerfolg bedeutsamen Selbstwirksamkeitserwartungen und -überzeugungen gestärkt werden (6). Krankheiten und Schmerzen führen zu einer Beeinträchtigung der Routinen des täglichen Lebens. Patienten suchen den Arzt mit dem Wunsch nach einer möglichst schnellen Restitutio ad integrum auf. Die Therapieerwartungen fokussieren hierbei häufig auf passive Massnahmen. Das Vertrauen in die Regenerationsfähigkeit wird geschwächt. Ängste, Enttäuschungen und Kränkungen, die mit den krankheitsassoziierten Einschränkungen verbunden sind, werden von den Patienten häufig nicht von sich aus kommuniziert. Sie nehmen den Schmerz nicht als Warnsignal wahr. Notwendige resultierende Anpassungen des Verhaltens finden nicht statt.
Alternative Betrachtungsweise
Schmerz ist ein hochgradig subjektives Phänomen, das nur demjenigen unmittelbar zugänglich ist, der ihn spürt. Es gibt kein äusseres, objektives Kriterium für Schmerzen, welches
die Überzeugung, Schmerzen zu haben, korrigieren könnte (1). Um dem Risiko der Chronifizierung entgegenzuwirken, sollte gezielt nach den Beeinträchtigungen in den verschiedenen Lebensbereichen gefragt werden, zum Beispiel: «Bei welchen Tätigkeiten im Alltag stehen Ihnen die Schmerzen besonders im Weg?» Oder: «Bei welcher Tätigkeit ist Ihnen eine Verbesserung besonders wichtig?» Besprechen Sie mit den Patienten vorübergehende Veränderungen der Alltagsroutinen, um Regeneration zu ermöglichen, und mögliche medikamentöse und nicht medikamentöse unterstützende Massnahmen. Fragen Sie die Patienten nach den von ihnen vermuteten Ursachen der Schmerzen und nach ihren Erwartungen an die Therapie. Patienten interessieren sich vor allem für Möglichkeiten der Schmerzlinderung und nicht für das Fehlen von Korrelaten für die Beschwerden in der bildgebenden Diagnostik. Die Aussage, dass in einer durchgeführten Untersuchung «zum Glück nichts herausgekommen ist», wird häufig als Unterstellung von simulierten Schmerzen wahrgenommen. Es gilt, die Patienten dort «abzuholen», wo sie sich befinden, um einen gemeinsamen Start für den Behandlungsweg zu haben (6). Ein bedeutsamer Prädiktor für die Schmerztherapie ist die Erwartungshaltung, da sie das Therapieergebnis sowohl positiv als auch negativ beeinflussen kann. Positive Erwartungen gelten als protektiver Faktor (12). Vermitteln Sie den Patienten Sicherheit in der von Ihnen gestellten Diagnose und stellen Sie eine Besserung der Symptomatik in Aussicht. Dabei sollten Sie den hohen Stellenwert regelmässiger körperlicher Aktivität in den Vordergrund stellen. Damit haben die Betroffenen einen massgeblichen Eigenanteil am Therapieerfolg. Äussern die Patienten Bedenken gegenüber der regelmässigen Einnahme von Analgetika, werten Sie dies nicht als Missachtung Ihrer Kompetenz, sondern als Chance, nicht medikamentöse schmerzlindernde Verfahren wie lokale Kälte oder Wärme, transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) und eben Bewegungstherapie in den Fokus der Behandlung zu rücken. Es ist möglich, bei konsequenter Anwendung vorliegender Behandlungskonzepte im ambulanten Bereich eine ausreichende Analgesie bei tolerablen Nebenwirkungen zu erreichen (4). Werden mechanismenbasiert Analgetika und Kotherapeutika auf der Basis des Stufenschemas der World Health Organization (WHO) (Tabelle) ausgewählt, gelingt ein sinnvoller Einstieg in die medikamentöse Schmerztherapie. Das Ziel der analgetischen Medikation ist es, hinreichende Therapiefähigkeit zu erreichen, um eine anhaltende Beeinträchtigung der Lebensqualität inklusive Abnahme der Arbeitseffektivität zu vermeiden und Chronifizierung mit ihren weitreichenden Folgen zu verhindern (8). Der Grundsatz der kausalen Behandlung bleibt auch bei nicht akuten Schmerzen unbestritten. Die symptombezogene klinische Untersuchung trägt zur Verifizierung und Zuordnung der im Gespräch geschilderten Beschwerden bei und fördert die Bildung einer belastbaren therapeutischen Beziehung. Ausreichende Aufmerksamkeit für die Erkrankung und die individuellen Belange des Patienten ermöglicht es, von den bestehenden Erwartungen abweichende diagnostische und therapeutische Strategien zu kommunizieren und umzusetzen (9). Den Schmerz als Warnsignal bei drohender oder manifester körperlicher und/oder emotionaler Überlastung zu bewerten, eröffnet den Patienten die Möglichkeit, den Schmerz
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Tabelle:
Angepasstes WHO-Stufenschema zur Pharmakotherapie akuter Schmerzen
Regelmässig (in festen Zeitabständen,
abhängig von der Wirkdauer)
bis 5 Tage
z. B.
Etoricoxib 90 mg, 1-mal täglich
Novaminsulfon, 4-mal 40 Tropfen
Ibuprofen 600 mg, 3-mal täglich
6–8 Tage
Tilidin/Naloxon 50/4 mg retard, 2-mal 1
Tramadol retard 50 mg, 2-mal 1
bei unzureichender (aber
Morphin (MST Continus® 10 mg),
vorhandener) Schmerzlinderung 2-mal täglich
Hydromorphon 4 mg, 2-mal täglich
Oxycodon 10 mg, 2-mal täglich
Fentanyl 12 µg/h, alle 3 Tage
Bei Bedarf (wird durch den Patienten definiert) z. B. 20–40 Tropfen Tramadol 10 mg Sevredol 1,3 mg Hydromorphon akut 40 Tropfen Novaminsulfon, bis 4-mal täglich Ibuprofen 600 mg, bis 4-mal täglich 40 Tropfen Novaminsulfon, bis 4-mal täglich Ibuprofen 600 mg, bis 4-mal täglich
als Hinweis auf die Notwendigkeit einer Verhaltensveränderung zur Schadensvermeidung zu betrachten. Die Verordnung aktiver Krankengymnastik stellt ein niederschwelliges Angebot dar zur Initiierung regelmässiger körperlicher Aktivitäten. Ziel ist hierbei nicht in erster Linie die langfristige Gewährleistung körperlichen Trainings im Rahmen von zum Beispiel Physiotherapie. Es sollte mit den Patienten bei Verordnungsbeginn vereinbart werden, die Dauer des möglichen Verordnungsvolumens zu nutzen, um regelmässige Aktivitäten in den Alltag zu integrieren. Weiterführend besteht zum Beispiel die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Rehasport. Beobachten Patienten einen Trainingseffekt im Sinne von verbesserter Beweglichkeit und Leistungsfähigkeit, erleichtert dies auch die Verrichtung der Aktivitäten des täglichen Lebens. Diese Erfahrung steigert die Motivation zur Aufrechterhaltung selbstwirksamer Massnahmen. Die unter Anleitung durchgeführten körperlichen Aktivitäten ermöglichen es den Patienten, den aktuellen Stand der Leistungsfähigkeit zu erheben und an diesen adaptierte Trainingsmöglichkeiten zu erarbeiten. Ein Vermeidungsverhalten aufgrund der Angst vor schädlicher Wirkung von Sport kann reduziert werden. Hierbei sollten der Effekt der Schmerztherapie überwacht werden und die Patienten bezüglich des Beobachtungsverhaltens in Richtung Nutzenorientierung unterstützt werden. Beim Auftreten sogenannter «yellow flags» ist es sinnvoll, rechtzeitig einen Schmerzmediziner hinzuzuziehen. Es besteht auch die Möglichkeit, einen Schmerzmediziner im Rahmen der von ambulanten schmerztherapeutischen Einrichtungen verpflichtend angebotenen Schmerzkonferenzen zu konsultieren. Neben der Vermittlung von Anregungen für die ambulante Therapie kann der Schmerzmediziner auch Voraussetzungen für eine stationäre Schmerztherapie prüfen und bei bestehender Indikation geeignete Einrichtungen empfehlen.
Fazit
Um eine individualisierte, mechanismenbasierte Therapie
von Schmerzen gewährleisten zu können, ist das Verlassen
der starren Zuordnung zu akut oder chronisch, seelisch oder
körperlich und der resultierenden Erwartung standardisierter
Behandlungskonzepte hilfreich. Hierzu sollten emotionale
Faktoren durch Hinwendung zu Konfliktzonen der Patienten
in verschiedenen Lebensbereichen, welche schmerzmodulie-
rend wirken und durch den Schmerz beeinflusst werden, in-
tegriert werden. Die Beschäftigung mit der Gefühlswelt der
Betroffenen und das Aushalten der auftretenden Affekte be-
deuten, die Komfortzone der technisch-neutralen Arzt-Pati-
ent-Beziehung zu verlassen.
Verbesserungspotenzial zur Behandlung von Schmerzen bie-
ten leitliniengerechte, gezielte Diagnostik und verstärktes
psychologisches und psychosoziales Screening (3). Im Rah-
men von zum Beispiel Schmerzkonferenzen können Thera-
pieimpulse gegeben oder ggf. Möglichkeiten zu spezialisierter
Behandlung aufgezeigt werden.
s
Dr. med. Peter Besuch Facharzt für Anästhesiologie MVZ - Städtisches Klinikum Dessau D-06847 Dessau-Rosslau E-Mail: p.besuch@mvzdessau.de
Interessenlage: Der Autor deklariert honorierte Referententätigkeit für Kyowa Kirin, Aristo Pharma und Bristol-Myers Squibb.
Dieser Artikel erschien erstmals in «doctors today» 10/22. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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