Transkript
EDITORIAL
Wenn das erst der Anfang war …
Künstliche Intelligenz (KI) begleitete uns jahrelang, ohne dass wir so genau wussten, wozu sie dereinst in der Lage und gut sein würde. Die Verarbeitung von immer mehr Daten in immer kürzerer Zeit: klar, das erwarteten wir. Und irgendwas mit Algorithmen…. Aber konkret spürten wir die Macht der Algorithmen fast nur bei der Werbung auf Social Media. Doch dann, auf einmal: ChatGPT. Wir sind uns von Google ja viel gewöhnt, aber der Text-Roboter von OpenAI... Schon erstaunlich: der würde – ohne Vorbereitung – glatt das USMLE bestehen, das «amerikanische Staatsexamen», eine dreiteilige Prüfung, die viele von uns kurz nach dem Schweizer Staats zusätzlich abgelegt haben, um gegebenenfalls in den USA ärztlich tätig werden zu dürfen. Zwar musste der Fragenkatalog aus praktischen Gründen modifiziert werden – bildbasierte Fragen etwa konnte Chat-GPT nicht verarbeiten –, aber unter Verwendung von 350 öffentlich zugänglichen Fragen, die letzten Sommer Bestandteile des USMLE waren, erzielte die KI-Software von OpenAI immerhin 50 bis 75 Prozent der erreichbaren Punkte (notwendig für ein Bestehen der Prüfung sind ungefähr 60 Prozent). Bereits zuvor hatte Chat-GPT auch Prüfungen für Juristen bestanden. Dabei ist Chat-GPT ja längst nicht die erste KI-Software, die gelernt hat, medizinische Daten von Millionen von
Patienten zu verarbeiten, zuverlässige Diagnosen zu
stellen und Prognosen abzugeben. Uns wird – halb fas-
ziniert, halb verunsichert – langsam bewusst, was da auf
uns zukommt. (Noch) geht es nicht um den Ersatz von
uns Ärzten, aber immerhin um Hilfen, ohne die wir nicht
mehr auskommen. Wenn «die KI» dank «Erfahrung»
und Algorithmen uns lange bevor wir es auch nur ahnen,
vor einer drohenden Sepsis, Niereninsuffizienz, Pneumo-
nie oder was auch immer warnen und uns das einzig (?)
korrekte Vorgehen diktieren, dann ist sie schlicht unent-
behrlich. Dann beginnen wir uns zu fragen, worin unsere
Aufgabe künftig bestehen wird. Werden wir lernen müs-
sen, in welchen Situationen wir warum nicht alleine auf
die KI vertrauen dürfen? Oder gibt es dafür eh eine Super-
visions-KI? Oder werden Fehler der KI so selten sein, dass
Kontrollen sich nicht lohnen? Dann werden wir zu reinen
Handwerkern – sofern uns die Robotik nicht auch dabei
ausbootet – oder/und Psychologen. Ist das dann noch
unser Beruf?
Letzthin habe ich CHAT-GPT gefragt, ob S. ein neues Spi-
tal bauen sollte und wenn ja, warum. Die Antwort kam
innert 10 Sekunden, mit der Einschränkung, nicht ge-
nügend über die regionalen Gegebenheiten zu wissen,
aber ansonsten so systematisch, übersichtlich und wohl
begründet, wie es ein durchschnittlicher Gesundheits-
politiker kaum besser gekonnt hätte. Alles in wohlfor-
mulierten Sätzen (und natürlich gänzlich unprovokant).
Werden also Politiker in Zukunft überflüssig? Gefüttert
mit Detailinformationen (nationale und kantonale Ge-
setzgebung, Finanzplanung, bisherige Abstimmungen,
Statements von Parteien, Gesundheitsökonomen, Inte-
ressenvertretern usw.), wird «die KI» Volksentscheide
vermutlich hundertprozentig sicher vorhersagen. Und
dann? Weshalb überhaupt noch abstimmen? Es scheint:
Wenn GPT erst der Anfang ist, wird uns bereits die
nächste KI-Generation vor eine einzige Frage stellen:
Wer und was ist überflüssig? Und müsste die Antwort
darauf (so ist zu befürchten) nicht lauten: Alle, die etwas
zu entscheiden haben? Sogar die Demokratie?
Ich werde das heute neu angebotene GPT-4 gelegentlich
danach fragen. Bin gespannt.
s
Richard Altorfer
ARS MEDICI 6 | 2023
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