Transkript
FORTBILDUNG
Neue Leitlinie zum Restless-Legs-Syndrom
Komorbiditäten behandeln ist so wichtig wie RLS-spezifische Therapie
Das Restless-Legs-Syndrom (RLS) zählt zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen. Worauf es bei der RLS-Diagnose und der Behandlung der Patienten ankommt, wird in einer neuen Leitlinie praxisnah erläutert. Neben Fachgesellschaften aus Deutschland und Österreich waren auch die Schweizerische Neurologische Gesellschaft (SNG) und die Schweizerische Gesellschaft für Schlafforschung, Schlafmedizin und Chronobiologie (SGSSC) an der neuen Leitlinie beteiligt.
DGN/DGSM
Die Diagnose RLS erfolgt anhand klinischer Kriterien. Bis anhin werden die meisten RLS-Fälle mithilfe von Screeningfragebögen erfasst, aber diese Fragebögen allein sind für die RLS-Diagnose nicht ausreichend, denn sie liefern viele falsch positive Resultate. So haben die meisten Personen, die gemäss dieser Fragebögen als RLS-Patienten klassifiziert werden, kein RLS, sondern nur RLS-ähnliche Symptome aufgrund von Differenzialdiagnosen und sogenannten RLS-Mimics. Letztere erfüllen 4 der 5 Diagnosekriterien, aber die Betroffenen haben kein RLS. Beispiele für RLS-Mimics sind nächtliche Wadenkrämpfe, lagebedingte Dysästhesien, Beinödeme und Einschlafmyoklonien. Deshalb fordert die Leitlinie zwingend den Ausschluss von Differenzialdiagnosen und RLS-Mimics als Kriterium für eine RLS-Diagnose. Es müssen alle 5 Kriterien erfüllt sein, die im Kasten 1 aufgelistet sind. Bei der Anamnese ist es überdies wichtig, dass die Patienten ihre Symptome in eigenen Worten beschreiben. Eine Untersuchung im Schlaflabor (Polysomnografie) ist für die RLS-Diagnose nicht unbedingt notwendig. Sie erlaubt unter anderem den Nachweis vermehrter periodischer Beinbewegungen im Schlaf. Diese sprechen zusätzlich für das Vorliegen eines RLS, kommen allerdings auch bei anderen Schlaf-
störungen vor, und ihre Häufigkeit steigt mit dem Alter deutlich an. Empfohlen wird die Polysomnografie, um bei entsprechendem Verdacht schlafbezogene Atmungsstörungen sowie Para-, Hyper- und Insomnien abzuklären.
Komorbiditäten erkennen und therapieren
Früher unterschied man zwischen primärem und sekundärem RLS, wobei Letzteres als Folge einer Komorbidität betrachtet wurde. In der neuen Leitlinie wird die Bezeichnung «sekundäres RLS» durch den Begriff «komorbides RLS» ersetzt. Diese Umbenennung steht für ein neues Konzept des Krankheitsbilds, wonach RLS durch Interaktionen zwischen genetischen, sozioökonomischen und Umweltfaktoren sowie Komorbiditäten entstehe. Die kumulative Krankheitslast sei entscheidender als das Vorhandensein einer bestimmten Krankheitsursache, heisst es in der neuen Leitlinie. Komorbide Faktoren müssten deshalb möglichst frühzeitig diagnostiziert und behandelt werden. Als wichtige Komorbiditäten bei RLS gelten: s Eisenmangel s Urämie und Lebererkrankungen s Angststörungen, Depression und Demenz s Polyneuropathie.
MERKSÄTZE
� Zur Diagnose eines RLS müssen Differenzialdiagnosen und RLS-Mimics ausgeschlossen werden.
� Eine Polysomnografie ist nicht zwingend notwendig. � Der Grenzwert für eine Eisensubstitution bei RLS liegt bei
einem Serumferritin von ≤ 75 µg/l oder einer Transferrinsättigung von < 20 Prozent.
� Entscheidend für die Indikation einer medikamentösen Therapie ist die Lebens- und Schlafqualität des Patienten.
Darüber hinaus kann ein RLS mit vielen anderen Erkrankungen assoziiert sein. In der Leitlinie werden an dieser Stelle neben neurologischen Krankheiten (Parkinson, essenzieller Tremor, hereditäre Ataxien, MS, Migräne, Narkolepsie, chronischer Schmerz) zahlreiche Erkrankungen anderer Organsysteme genannt (z. B. Schilddrüsenerkrankungen, COPD, OSAS, atopische Dermatitis, Reizdarm u. a.).
Differenzialdiagnosen und RLS-Mimics
Die Liste der Differenzialdiagnosen ist lang. Welche Red Flags an bestimmte Differenzialdiagnosen denken lassen sollten, ist im Kasten 2 zusammengefasst. Besonders hervorgehoben wird in den Leitlinien die Polyneuropathie (PNP), welche sich, wie bereits erwähnt, in Form eines komorbiden RLS manifes-
150
ARS MEDICI 6 | 2023
FORTBILDUNG
Kasten 1:
RLS-Diagnosekriterien
▲ Drang, die Beine zu bewegen, meist begleitet oder ausgelöst durch Missempfindungen oder ein Unruhegefühl der Beine.
▲ Der Drang, die Beine zu bewegen, und die begleitenden unangenehmen Missempfindungen beginnen oder verschlechtern sich während Ruhe oder Inaktivität, wie Liegen oder Sitzen.
▲ Der Drang, die Beine zu bewegen, und die unangenehmen Missempfindungen bessern sich durch Bewegung, wie Laufen, Gehen oder Strecken, teilweise oder sogar vollständig, zumindest solange die Bewegung anhält.
▲ Der Drang, die Beine zu bewegen, und die unangenehmen Missempfindungen in Ruhe oder Inaktivität treten nur am Abend oder in der Nacht auf oder sie verschlimmern sich am Abend oder in der Nacht.
▲ Das Auftreten der obigen Merkmale darf nicht durch Symptome einer anderen medizinischen Diagnose oder eines Verhaltenszustands erklärbar sein (z. B. Myalgie, venöse Stauung, Beinödeme, Arthritis, Beinkrämpfe, Positionsdiskomfort, habituelles FootTapping).
Quelle: Heidbreder A et al.: Restless Legs Syndrom, S2k-Leitlinie, 2022.
Kasten 2:
Was spricht für Differenzialdiagnosen und RLS-Mimics?
Bei folgenden Red Flags sollten Differenzialdiagnosen bzw. RLSMimics in Betracht gezogen werden:
▲ Die Sensationen sind oberflächlich statt tief liegend (Polyneuropathie, s. Text).
▲ Eine eng umschriebene Lokalisation (einzelner Muskel, umschriebenes Dermatom) spricht für Muskelkrämpfe oder Nerven-Kompressionssyndrome.
▲ Bei Bewegungsdrang, bedingt durch eine innere Unruhe, die den ganzen Körper betrifft, könnte es sich um Akathisie handeln.
▲ Belastungsabhängige Schmerzen in den Beinen sprechen für eine Claudicatio oder Arthrose, Rückenschmerzen für einen engen Spinalkanal.
▲ Ein- oder Durchschlafstörungen ohne eindeutige Relation zu typischen RLS-Beschwerden sind verdächtig auf eine psychophysiologische Insomnie, welche auch beim behandelten RLS persistieren kann. Sie können aber auch Hinweis auf eine affektive Störung sein.
▲ Beschwerden im Sitzen, aber nicht im Liegen lassen an orthostatische oder haltungsbedingte Ursachen denken.
▲ Wenn motorische Phänomene (Zuckungen, rhythmische Bewegungen) gegenüber subjektiven Sensationen im Vordergrund stehen, sollte man an Krämpfe, Myoklonien oder stereotype Bewegungsstörungen denken.
Quelle: Heidbreder A et al.: Restless Legs Syndrom, S2k-Leitlinie, 2022.
tieren, aber ebenso zu den Differenzialdiagnosen zählen kann. Typische Unterschiede zwischen PNP- und RLS-Symptomen sind in der Tabelle zusammengefasst. Symptomatisch einem RLS ähnlich ist das «burning feet syndrome» (BFS), dessen häufigste Ursache ein Diabetes mellitus ist.
Laboruntersuchungen
Um Komorbiditäten und Differenzialdiagnosen nicht zu verpassen und Befunde für therapeutische Indikationen zu erhalten, werden folgende Laboruntersuchungen bei Verdacht auf RLS empfohlen: s Eisenstatus (Serumferritin, Transferrinsättigung, Eisen
und Eisenbindungskapazität) s Hämatologie s Elektrolyte inkl. Ca, Mg s Nieren- und Leberfunktionsparameter s TSH, eventuell T3/T4 s B12, Folsäure s Nüchternglukose, HbA1c s evtl. Schwangerschaftstest.
Medikamentöse RLS-Trigger ausschalten
Entscheidend für die Indikation einer Therapie wegen RLS ist die Lebens- und Schlafqualität der Patienten. Genauso wichtig wie die im Weiteren skizzierte RLS-spezifische Therapie sind die bereits erwähnte adäquate Behandlung von Komorbiditäten und die Suche nach Medikationen, welche ein RLS verstärken können: s Neuroleptika: können RLS verstärken oder auslösen s Antiemetika, Antihistaminika, Lithium: anekdotische Be-
richte über RLS-Verstärkung s Antidepressiva: können RLS verstärken oder auslösen
(grösstes Risiko bei Mirtazapin, evtl. bei Citalopram, Paroxetin, Venlafaxin und anderen SSRI); Bupropion und Trazodon sollten auch bei RLS verträglich sein.
Eisenmangel beseitigen
Der Grenzwert für eine Eisensubstitution bei RLS liegt bei einem Serumferritin von ≤ 75 µg/l oder einer Transferrinsättigung von < 20 Prozent. Bei leichtgradigem RLS wird oral mit Eisen-II-Sulfat substituiert (2-mal täglich für 12 Wochen: 325 mg Eisen-II-Sulfat* plus 100 mg Vitamin C). Falls der Erfolg ausbleibt, sollte frühzeitig auf Eisen i.v. umgestellt werden. Eisen i.v. ist ausserdem indiziert, wenn orales Eisen kontraindiziert ist oder nicht vertragen wird sowie bei mittel- bis schwergradigem RLS. Die Eisensupplementation i.v. wird mit Eisencarboxymaltose (Ferinject®) durchgeführt (einmalig 1000 mg i.v. oder 2-mal 500 mg innert 1 Woche). Dabei dürfen das Ferritin nicht > 300 µg/l und die Transferrinsättigung nicht > 40 Prozent liegen, um eine mögliche Eisenüberlagerung zu vermeiden. 12 Wochen später sollten die Eisenwerte kontrolliert und der klinische Effekt bezüglich des RLS evaluiert werden.
Medikamente bei RLS
Falls von Anfang an kein Eisenmangel bestand beziehungsweise trotz Eisensubstitution der Erfolg ausbleibt, gelten folgende, nicht retardierte Non-Ergot-Dopaminagonisten als 1. Wahl: Rotigotin (Neupro®), Ropinirol (Adatrel®) und Pramipexol (Sifrol® und Generika). Um einer Augmentation vorzubeugen, sollen die Dopaminagonisten nur als Monotherapie und in der niedrigst mögli-
* 325 mg Eisen-II-Sulfat entsprechen in den in Deutschland, Österreich und der Schweiz erhältlichen Präparaten 80–100 mg Eisen-Ionen (Fe2+) und 65 mg Eisen-Ionen (Fe2+) in US-amerikanischen Präparaten.
152
ARS MEDICI 6 | 2023
FORTBILDUNG
Tabelle:
Unterschiede zwischen Polyneuropathie und RLS
Beginn der Parästhesien Beschwerden Tag/Nacht Bewegung
Polyneuropathie meist symmetrisch sockenförmig an den Füssen oberflächlich in der Haut, Ameisenlaufen, Taubheitsgefühl, Brennen Beschwerden auch am Tag lindert die Beschwerden nicht vollständig und nicht anhaltend
Quelle: nach Heidbreder A et al.: Restless Legs Syndrom, S2k-Leitlinie, 2022.
RLS meist auf Höhe der Unterschenkel in der Tiefe in Muskeln, Knochen, Gelenken
Beschwerden typischerweise nur in der Nacht lindert die Beschwerden deutlich
chen Dosis angewendet werden. Eine andere Möglichkeit der Augmentationsprävention ist der primäre Gebrauch von Gabapentin oder Pregabalin, die Anwendung beider Substanzen ist bei RLS jedoch off-label. Falls unter Dopaminagonisten eine Augmentation eintritt (Vorverlagerung der RLS-Symptome um ca. 2 Stunden, Ausbreitung auf andere Körperteile, Zunahme der Symptomintensität, abnehmende Wirkung des Medikaments), gibt es nach einer Dosisreduktion 3 Optionen: Umstellung auf ein lang wirksames Medikament (z. B. Rotigotin-Pflaster), Umstellung auf ein Gabapentinoid (off-label) oder die Kombination mit einem retardierten Opiat (off-label, Opiate können den Bedarf an Dopaminergika reduzieren). In Deutschland ist Oxycodon/Naloxon als 2. Wahl bei RLS zugelassen, in der Schweiz hingegen nicht. Generell bei RLS nicht empfohlen wird Tramadol aufgrund seiner zum Teil serotonergen Wirkung. Levodopa (L-Dopa/Decarboxylasehemmer) soll bei RLS nicht mehr kontinuierlich, sondern allenfalls intermittierend oder zu diagnostischen Zwecken eingesetzt werden (Maximaldosis 100/25 mg). Zur Wirksamkeit von Cannabinoiden bei RLS liegen keine Daten aus randomisierten Studien vor, sodass diese Substanzen nicht empfohlen werden. Dasselbe gilt für Benzodiazepine. Zu oralem Magnesium liegen keine überzeugenden Daten zu einer allfälligen Wirksamkeit bei RLS vor, sodass die Leitlinienautoren auch davon abraten.
S2k-Leitlinie Restless-Legs-Syndrom https://www.rosenfluh.ch/qr/rls
Für die Anwendung von RLS-Medikamenten in der Schwangerschaft und bei Kindern und Jugendlichen wird auf die Originalpublikation der neuen Leitlinie verwiesen (s. Link). Für Kinder und Jugendliche sind mit Ausnahme der Eisensubstitution keine Medikamente bei RLS zugelassen.
Nicht medikamentöse Massnahmen bei RLS
Mittels Yoga konnten RLS-Patienten eine Verbesserung ihrer Schlafqualität und eine Abschwächung ihrer Symptome erreichen. Die Wirksamkeit eines Bewegungstrainings für RLS-Patienten mit dialysepflichtiger Niereninsuffizienz ist nachgewiesen (Bettfahrrad). Generell ist noch unklar, wann welche Form von Bewegungstraining bei RLS nützlich ist, zumal Training am Nachmittag oder Abend zu mehr Symptomen in der Nacht zu führen scheint. Entsprechende Studien fehlen. Für die transkutane spinale Gleichstromstimulation (tsDCS) liegen erfolgreiche randomisierte, kontrollierte Studien vor. Die Methode gilt als sicher, und sie wird in der Leitlinie empfohlen. Die Infrarotlichttherapie wird ebenfalls empfohlen, auch wenn ihr Wirkmechanismus bis anhin noch Rätsel aufgibt. Unzureichend ist die Studienlage bei RLS für die endovaskuläre Laserablation, die Kryotherapie, die pneumatische Kompression, die Akupunktur und die Phytotherapie, sodass für diese Methoden keine Empfehlungen gegeben werden. s
Renate Bonifer
Quelle: Heidbreder A et al.: Restless Legs Syndrom, S2k-Leitlinie, 2022; Deutsche Gesellschaft für Neurologie und Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 16.12.2022).
Interessenlage: Die Autoren der Leitlinie haben keine Interessenkonflikte deklariert.
ARS MEDICI 6 | 2023
153