Transkript
Multiple Sklerose: Therapie für Schübe und Verlauf
Wissenswertes für die Hausarztpraxis
FORTBILDUNG
Das Bild der Multiplen Sklerose ist bei den noch jungen Betroffenen oft geprägt von der Vorstellung, dass sie bald im Rollstuhl landen. Das Risiko einer bleibenden Behinderung kann mittlerweile dank verlaufsmodulierender Therapeutika aber sehr deutlich reduziert werden. Dieser Beitrag vermittelt wichtiges Grundwissen für den Kontakt mit diesen biopsychosozial stark belasteten Patienten.
Daniel Eschle
Die Multiple Sklerose (MS) ist die häufigste immunvermittelte Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS). Sie beginnt bevorzugt bei Frauen europäischer Abstammung, vorwiegend im Alter zwischen 20 und 40 Jahren. Die Prävalenz der Erkrankung in der Schweiz wird auf etwa 150 je 100 000 Einwohner geschätzt; zirka 69 Prozent der MS-Patienten sind Frauen und 31 Prozent Männer. Somit werden Hausärzte einige MS-Betroffene über Jahre hinweg in Zusammenarbeit mit Neurologen in ihrer Praxis begleiten. Genetische und Umwelteinflüsse lassen sich bei der globalen Betrachtung der MS-Inzidenzen teilweise sehr schlecht auseinanderhalten. Äussere Einflüsse – Jahre vor dem Ausbruch der Erkrankung – wie zum Beispiel eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus, das Rauchen (!) sowie verminderte Sonnenlichtexposition und/oder Vitamin-D-Produktion vor dem Hintergrund bestimmter genetischer Polymorphismen beeinflussen das Risiko, dass ein autoimmuner Prozess ausgelöst wird, der meist schubförmig abläuft und in entzündlichdemyelinisierenden Läsionen im ZNS mündet.
MERKSÄTZE
� Die Diagnose einer Multiplen Sklerose (MS) bedeutet nicht automatisch eine schlechte Prognose.
� Verlaufsmodulierende Therapien verhindern wirksam Schübe und eine sekundäre Behinderungsprogression.
� Impfungen sind möglich und sinnvoll bei MS. � Eine Schwangerschaft und auch Stillen sind für MS-Patien-
tinnen bei der richtigen Medikamentenwahl möglich.
� Rauchen erhöht das MS-Risiko und hat einen negativen Einfluss auf den Verlauf.
Klinisches Erscheinungsbild
Wenn bei jungen Menschen zunehmend über Tage einzelne Symptome auftreten, die dem ZNS zugeschrieben werden können, so steht eine MS-Manifestation sehr weit oben bei den Differenzialdiagnosen (DD). Besonders typisch sind ein einseitiger Visusverlust bei Neuritis nervi optici, Doppelbilder wegen einer Adduktionsschwäche eines Auges (internukleäre Ophthalmoplegie) infolge einer Hirnstammläsion, eine Trigeminusneuralgie oder -neuropathie, von den Füssen aufsteigende Parästhesien mit sensiblem Querschnittssyndrom (spinaler Herd) oder eine Ataxie bei einer Kleinhirnläsion. Solche Schübe dauern mindestens 24 Stunden bis mehrere Wochen ohne Therapie und sollten nicht von Fieber oder einem Infekt begleitet werden. Wird zu diesem Zeitpunkt eine Magnetresonanztomografie (MRT) durchgeführt, nimmt die ursächliche ZNS-Läsion Kontrastmittel (KM) auf, und oft finden sich noch zahlreiche stumme zerebrale Signalstörungen ohne KM-Aufnahme (spinale Läsionen hingegen sind meist symptomatisch).
Verlaufsformen
In den allermeisten Fällen ist die MS gekennzeichnet durch multiple Schübe. Dem initial entzündlichen Stadium der Krankheit – mit schubförmiger Schädigung der Myelinscheiden – folgt Jahre später ein sekundär chronisch-progredientes oder neurodegeneratives Stadium mit irreversibler axonaler Schädigung und somit bleibender Behinderung (vgl. Abbildung 1). In etwa 10 bis 15 Prozent der Fälle lassen sich keine initialen Schübe ausmachen, und es zeigt sich eine zunehmende neurologische Behinderung, was als primär chronischprogrediente Verlaufsform bezeichnet wird.
Diagnostik und Diagnosekriterien
Drei Bereiche müssen berücksichtigt und miteinander kombiniert werden, um eine örtliche sowie zeitliche Dissemination festzustellen und damit nach den aktuell gültigen McDonaldKriterien von 2017 (http://www.dgn.org/leitlinien) eine MS zu diagnostizieren.
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FORTBILDUNG
Schweregrad der Behinderung
Therapeutisches «window of opportunity» zur Vermeidung einer Behinderungsprogression
Schubförmige Multiple Sklerose mit nach Jahren einsetzendem Übergang in sekundär chronisch-progrediente Verlaufsform mit aufgepfropften Schüben
Abbildung 1: Exemplarische Darstellung des Verlaufs bei Multipler Sklerose vom ersten Schub bis zum sekundär chronisch-progredienten Stadium (© C. Eschle)
Abbildung 2: Native Magnetresonanztomografie mit zervikaler MS-Läsion (Kreis) (© C. Eschle)
Abbildung 3: Magnetresonanztomografie mit zerebralen MS-Läsionen einmal ohne (links) und einmal mit (rechts) Kontrastmittel (KM); die mit dem Pfeil markierte Läsion ist «aktiv» (sie nimmt KM auf) (© C. Eschle)
1. Zunächst muss entschieden werden, ob sich aus klinischer Perspektive ein einziger oder multiple Schübe identifizieren lassen und ob sich die neurologische Symptomatik auf eine einzige oder multiple ZNS-Läsionen zurückführen lässt.
2. Die MRT besitzt einen entscheidenden Stellenwert (eine Computertomografie ist nicht aussagekräftig). Zeigt die zerebrale und spinale MRT eine einzige oder multiple Läsionen (Plaques)? KM-Aufnahme im Sehnerv oder in einer der anderen Läsionen? Simultaner Nachweis von Läsionen mit und ohne KM-Aufnahme? Die Abbildungen 2 und 3 zeigen typische MRT-Befunde.
3. Auffällige Befunde in Zusatzuntersuchungen? Den grössten Stellenwert besitzen die sogenannten oligoklonalen Banden (OKB) im Liquor. Bei den OKB handelt es sich um den biochemischen Nachweis von Immunglobulinen, die ausschliesslich im ZNS produziert werden als Ausdruck eines pathologischen immunologischen Prozesses. Sensitivität und Spezifität der OKB sind ausserordentlich hoch.
Werden die Daten aus diesen drei Bereichen kombiniert, ergeben sich folgende diagnostische Kategorien: s Das CIS (clinically isolated syndrome) ist eine MS-Vor-
stufe, bei der zum Beispiel noch keines der geforderten Kriterien für die zeitliche Dissemination vorliegt. s Das RIS (radiologically isolated syndrome) ist eine MS-Vorstufe, bei der die typischen multiplen MRT-Läsionen vorliegen, aber diese sind klinisch stumm. s Wenn aus allen drei Bereichen pathologische Befunde vorliegen, kann gemäss den McDonald-Kriterien von 2017 eine eigentliche MS diagnostiziert werden.
Differenzialdiagnosen
Die Morphologie von MRT-Läsionen sowie die Interpretation der Liquorbefunde erlauben die Abgrenzung gegenüber DD aus dem neoplastischen, infektiösen, vaskulären oder metabolischen Bereich. Prognostisch und therapeutisch wichtig ist die Abgrenzung von schubförmigen entzündlichdemyelinisierenden Erkrankungen, die sich ebenfalls mit einer Optikusneuritis oder Myelonläsionen präsentieren können. Dabei tritt die Neuritis nervi optici oft bilateral auf, und im Myelon zeigen sich im Gegensatz zur MS auffällig langstreckige Läsionen (über mehrere Wirbelkörper hinweg). Serologisch sind Antikörper namens Neuromyelitis-optica-Immunglobulin G (NMO-IgG) oder Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein-IgG (MOC-IgG) nachweisbar. Ferner ist es wichtig, dass nicht jede zerebrale Läsion automatisch als MS interpretiert wird, wenn zum Beispiel eine MRT bei besorgten Kopfschmerzpatienten durchgeführt wird. Es handelt sich meist um mikroangiopathische Veränderungen, die gehäuft bei Hypertonie oder auch bei Migräne auftreten.
Therapie
Wir unterscheiden zwischen der Akuttherapie eines Schubes und der verlaufsmodulierenden Behandlung (disease-modifying therapy, DMT). Die Schubtherapie erfolgt mit sehr hoch dosiertem Methylprednisolon (MP), sodass akribisch betreffend Steroidnebenwirkungen aufgeklärt und überwacht werden muss. Wichtig ist der Ausschluss von Fieber oder der eines Infekts. Meist
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werden 1000 mg/Tag MP i.v. während 3 Tagen (alternativ 500 mg/Tag MP über 5 Tage) verabreicht. Ziel der Schubtherapie ist eine zeitnahe und somit rasche und residuenfreie Abheilung der aktiven Entzündung. Die DMT zielt hingegen darauf ab, dass weniger oder gar keine Schübe auftreten und es somit nicht zu neurologischen Residuen kommt und das sekundär chronisch-progrediente Stadium hinausgezögert oder gar vermieden wird. Idealerweise wird schon im CIS-Stadium mit einer DMT begonnen. Das RIS wird nicht behandelt, aber engmaschig klinisch und mittels MRT überwacht. Bei der DMT wird unterschieden zwischen Eskalations- und Induktionstherapie. Bei der Eskalation wird mit einer weniger potenten DMT gestartet und bei klinischer Krankheitsaktivität (Schübe) oder neuen MRT-Läsionen auf ein potenteres Präparat gewechselt. Bei der Induktion wird direkt mit einem potenten Präparat begonnen. Es gibt sehr gute Hinweise, dass damit klinisch und im MRT eher «no evidence of disease activity» (NEDA) erzielt werden kann und somit das eingangs erwähnte Szenario «Rollstuhl» verhindert wird. Als Faustregel kann gesagt werden, dass die potenteren Therapien auch mehr Risiken mit sich bringen, zum Beispiel Zosterinfekte oder unter Umständen die gefürchtete progressive multifokale Leukenzephalopathie durch das John-Cunningham-Virus (JCV). Auch bei Kinderwunsch kommen hochpotente Präparate nicht infrage. Somit kann nicht allen Patienten vorbehaltlos gleich eine Induktionstherapie empfohlen werden, obwohl dies nach Möglichkeit heutzutage angestrebt wird. Die Vielfalt der zur Verfügung stehenden oralen und parenteralen Substanzen sowie deren Vor- und Nachteile aufzuzählen, würde den Rahmen dieser Übersicht sprengen. Das Beenden einer DMT ist weniger gut erforscht. Es gibt Hinweise, dass nach 5 Jahren mit NEDA eine DMT unter Umständen beendet werden kann. Leider kann es bei einzelnen Wirkstoffen teilweise nach Therapieende zu einer überschiessenden Krankheitsaktivität kommen, auf die man vorbereitet sein muss. Auch bezüglich der besonderen Kontrollen, die bei den einzelnen DMT notwendig sind, muss auf die Spezialliteratur verwiesen werden. Bei den meisten DMT braucht es eine Überwachung des Blutbilds und der Leberwerte während der Behandlung. Und vor Therapiebeginn müssen die heutzutage empfohlenen Impfungen nachgeholt oder aufgefrischt sowie eine latente Tuberkulose, chronische virale Hepatitiden und eine HIV-Infektion (HIV: humanes Immundefizienzvirus) ausgeschlossen werden.
Flankierende Massnahmen und weitere Themen
Etliche DMT führen zu einer Immunsuppression. MS-Patienten dürfen und sollen sich deshalb nach den aktuell gültigen Empfehlungen impfen lassen – vor allem vor Einleitung einer DMT. Unter laufender DMT kann die Serokonversion aber bei vielen Präparaten abgeschwächt sein, und Lebendimpfstoffe sind kontraindiziert. Eine Vitamin-D-Supplementation ist zwar eine beliebte Massnahme, aber in zu hoher Dosierung kann sie unter Umständen gefährlich sein, und überzeugende Evidenz zur Wirksamkeit als DMT gibt es nicht. Es spricht aber nichts dagegen, mit einer Supplementation die Vitamin-D-Spiegel im hochnormalen Bereich zu halten.
Eine Schwangerschaft und auch Stillen sind für MS-Patien-
tinnen bei der richtigen DMT-Wahl möglich.
Ein besonderes Thema für viele MS-Patienten ist eine ab-
norme physische und psychische Ermüdbarkeit – Fatigue
genannt. Zunächst sollten die «üblichen Verdächtigen» wie
zum Beispiel eine Hypothyreose, eine Restless-Legs-Sympto-
matik oder ein Schlafapnoesyndrom ausgeschlossen werden.
Eine antidepressive Behandlung ist nur sinnvoll, wenn tat-
sächlich die Kriterien für eine Depression erfüllt sind. Thera-
pieversuche mit Präparaten wie zum Beispiel Amantadin oder
Modafinil werden diskutiert, aber die Evidenzlage ist dünn.
Die MS-Leitlinie besagt: «In mehreren kontrollierten Studien
und Metaanalysen wurden positive Effekte für psychoeduka-
tive Verfahren wie Vermittlung von Energiemanagement-
strategien, kognitiver Verhaltenstherapie und Achtsamkeits-
training beschrieben.»
Patienten mit relevanten Residuen, zum Beispiel bei spinalem
Befall mit Spastik und eingeschränkter Mobilität, profitieren
von einer stationären Neurorehabilitation.
s
Dr. med. Daniel Eschle
Leitender Arzt für Neurologie
Kantonsspital Uri
6460 Altdorf
Interessenlage: Der Autor hat keine Interessenkonflikte deklariert.
Dieser Artikel erschien erstmals in «doctors today» 12/22. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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