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BERICHT
Mittel gegen Sarkopenie
Training und Ernährung können das Blatt wenden
Foto: zVg
Fast die Hälfte der hospitalisierten älteren Patienten hat eine Sarkopenie. Dabei kann bei diesen Personen mit Proteinsupplementen und etwas Bewegung ein erstaunlicher Zuwachs an Muskelmasse und -kraft erzielt werden. Worauf die Behandlung und die Prävention der Sarkopenie basiert, erklärte Prof. Reto W. Kressig, Ärztlicher Direktor, Universitäre Altersmedizin, Felix Platter, Basel, am FOMF Allgemeine Innere Medizin in Basel.
Ab dem Alter von 25 Jahren beginnt die Mus-
kelmasse und damit die Muskelkraft kontinu-
ierlich abzunehmen. Die Muskelkraft vermin-
dert sich bis zum Alter von 75 Jahren propor-
tional zur schwindenden Muskelmasse,
danach sinkt sie überproportional, und der
Abbau kann bis zum Alter von 85 Jahren bis
zu 40 Prozent erreichen (1). Weil im Alter
Muskelkraft gleichbedeutend mit Mobilität
Prof. W. Kressig
sei, könne dieser Umstand über eine selbstständige Lebensweise entscheiden, erklärte
Kressig die Problematik.
Wenn der Muskelverlust beziehungsweise die schwindende
Muskelkraft krank und funktionell abhängig macht, ist von
einer Sarkopenie die Rede. Diese ist gemäss der Konsen-
sus-Guideline der EWGSOP2 (European Working Group on
Sarcopenia in Older People) mit dem SARC-F-Screeningtest
und anschliessenden wenigen Abklärungen einfach zu dia-
gnostizieren (2).
Der SARC-F-Screeningtest besteht aus 5 Fragen, die die
Schwierigkeiten beim Tragen von 5 kg Gewicht, beim Durch-
queren eines Raums, bei der Dislozierung aus dem Stuhl ins
Bett, beim Ersteigen von 10 Treppenstufen und die Sturzhäu-
KURZ & BÜNDIG
� Muskelgesundheit im Alter braucht Proteine und körperliche Aktivität.
� Milchprodukte und Eier sind gute Proteinquellen, Nüsse (40 g) gute Zwischenmahlzeiten.
� Molkeprotein (Ziger/Ricotta) ist ein schnell resorbierbares und hoch wirksames Protein.
� Für den spezifischen Muskelaufbau bei Sarkopenie eignet sich leucinverstärktes, hoch konzentriertes Molkenprotein (Supplement) mit und ohne Training.
� Eine Vitamin-D-Supplementierung im Alter führt zu einer verbesserten Muskelfunktion und reduziert Stürze.
figkeit im vergangenen Jahr eruieren (3). Ein positiver Score (≥ 4 Punkte) ist ein klinischer Hinweis auf eine Sarkopenie. Die Guideline empfiehlt, an dieser Stelle eine Handkraftmessung durchzuführen. Anstelle der Handkraft können auch andere funktionelle Messungen von Muskelmasse und Muskelkraft (Ganggeschwindigkeit, Timed Up and Go Test) vorgenommen werden, um die Sarkopenie zu bestätigen (Tabelle 1). In der Praxis ist bereits eine verminderte Handgriffkraft ein starker Hinweis auf eine Sarkopenie und daher ausreichend für die Einleitung von Therapiemassnahmen. Die Definition einer Sarkopenie nach EWGSOP2 erfülle praktisch die Hälfte aller hospitalisierten geriatrischen Patienten in der Schweiz, wie Kressig als Mitautor einer entsprechenden Untersuchung (4) erklärte.
Gegensteuer möglich
Viele Ursachen einer Sarkopenie lassen sich nicht beeinflussen, wie beispielsweise eine mitochondriale Dysfunktion, hormonelle Veränderungen, oxidativer Stress oder Verlust von Motoneuronen. Inaktivität und ein Ungleichgewicht beim Proteinmetabolismus, die beide auch zu einer Sarkopenie führen können, sind dagegen durch Massnahmen modifizierbar. Mit Krafttraining und Ernährungssupplementen, insbesondere Proteinen, könne die Entwicklung beeinflusst und sogar eine Zunahme von Muskelmasse und -kraft erreicht werden, was sich unmittelbar in einer Verbesserung der Alltagsfunktionen niederschlage, so Kressig. Auch die tägliche Ernährung spielt eine Rolle. Gemäss den Schweizer Ernährungsempfehlungen für ältere Erwachsene (QR-Link) ist der Kalorienbedarf im Alter um 25 Prozent tiefer als in jungen Jahren, der Proteinbedarf jedoch deutlich erhöht, dieser liegt bei 1 bis 1,2 g/kg KG pro Tag, bei chronischer Krankheit sogar noch höher. Ein gesunder Senior benötigt bei einem Gewicht von 75 kg eine Proteinzufuhr von 90 g/Tag. Mit der geschickten Wahl von proteinreichen Nahrungsmitteln kann dieser Bedarf problemlos gedeckt werden (Kasten).
Leucin stimuliert den Muskelaufbau
Werden proteinreiche Lebensmittel mit hohem Gehalt an der Aminosäure Leucin eingenommen, ist ihr stimulierender Ef-
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Tabelle 1:
Referenzwerte zur Diagnose einer Sarkopenie
Männer Frauen
Handgriffkraft
< 27 kg bzw. < 45 kPa < 16 kg bzw. < 27 kPa Ganggeschwindigkeit ≤ 0–8 m/s ≤ 0–8 m/s Timed Up and Go Test ≥ 20 s ≥ 20 s (vom Stuhl aufstehen und 3 m gehen) oder Chair Stand Test (5-mal >15 s
> 15 s
vom Stuhl aufstehen)
Quelle: RW Kressig, FOMF Basel 2023 und modifiziert nach (2)
Kasten:
Proteindichte Lebensmittel
10 g Protein sind enthalten in: 3 dl Milch/Joghurt 1,5 grosse Eier 50 g Fleisch 100 g Quark/Ziger 12 g Proteinpulver 100 g Tofu 40 g Nüsse 50 g Hülsenfrüchte (gekocht) 120 g Brot 250 g Teigwaren (gekocht) 480 g Champignons
Quelle: RW Kressig, FOMF Basel 2023
fekt auf die Muskeleigenproduktion weiter gesteigert. Denn die Plasmaleucinkonzentration korreliere positiv mit der Muskelproteinsyntheserate, so Kressig. Das konnte eine Untersuchung bei zu Hause lebenden Senioren zeigen, bei denen ein moderates Krafttraining 2-mal pro Woche plus leucinreiche Ernährungssupplemente zu einer Kraftzunahme um das 4- bis 5-Fache geführt hat (5). «Einen solchen Kraftzuwachs bemerkt jeder. Da geht plötzlich wieder sehr vieles, was vorher nicht mehr möglich war», kommentierte Kressig diese Resultate. Leucin kann über tierische und pflanzliche Nahrungsmittel, die Proteine enthalten, aufgenommen werden. Durchschnittlich enthalten Proteine 15 Prozent Leucin. Proteinreiche Lebensmittel sind beispielsweise Milchprodukte, Fleisch, Fisch und Eier. Unter diesen enthalten Emmentaler und Greyerzer Käse besonders viel Leucin (> 2500– 3000 mg/100 g), aber auch Hülsenfrüchte wie Linsen und Sojabohnen sowie Erdnüsse sind sehr leucinreich. Für die Anregung des Muskelaufbaus ist eine bestimmte Leucinkonzentration im Blut notwendig. Diese kann mit 3000 mg/Mahlzeit (Jüngere) beziehungsweise 5000 mg/ Mahlzeit (Ältere) erreicht werden. Das sei in der Regel bei einer Einnahme von 20 bis 25 g Protein pro Mahlzeit der Fall, so Kressig.
Supplementierung mit und ohne Training
Ist die Protein- beziehungsweise Leucinzufuhr mit der normalen Ernährung nicht in ausreichendem Mass möglich, kann der Bedarf auch mit leucinverstärkten Molkeproteinsupplementen gedeckt werden. Dass das funktioniert, zeigte die multizentische, doppelblind randomisierte, plazebokontrollierte PROVIDE-Studie bei sarkopenischen Pflegeheimbewohnern. Diese erhielten während 13 Wochen ein leucinund Vitamin-D-angereichertes Molkeproteingetränk, die Kontrollgruppe ein isokalorisches Kontrollgetränk. Es zeigte
Tabelle 2:
Neutrale Molkenprotein-Nahrungsergänzungsmittel in Pulverform mit hohem Leucingehalt* (Auswahl)
Produkt Moltein® Ready2Mix (Omanda) proteinreiche Trinknahrung, angereichert mit L-Leucin, entwickelt für alters- und krankheitsbedingte Proteinmangelernährung Resource® Whey Protein (Nestlé) geschmacksneutrales Proteinpulver mit 88% Molkenproteingehalt Fresubin® Protein Powder (Fresenius Kabi) Molkeneiweisskonzentrat Whey Protein 94 (Sponser) Molkenproteinisolat Ironmaxx 100% Whey Protein (Powerfood) Prostar 100% Whey (Ultimate Nutrition) CFM Whey Protein (Lee-Sport) Bio Whey Protein (Lee-Sport) aus biozertifizierter Landwirtschaft, ohne Zusatzstoffe und Konservierungsmittel Whey Protein (Foodspring) Impact Whey Protein (Myprotein)
Protein pro 100 g Pulver 89,3 g
Leucingehalt pro 100 g Pulver 23,7 g
88 g
87 g 90 g 77,3 g 82,0 g 80,0 g 77,0 g
81,0 g 82,0 g
10,6 g
8,6 g 11,6 g 11,0 g 3,91 g 11,7 g 10,5 g
9,0 g 10,6 g
Anwendung: in kalten oder warmen Speisen oder Getränken zur Behandlung und Prävention eines Muskelmasseverlusts im Alter. Die belegte Molkenproteindosierung für eine Zunahme der Muskelmasse bei Menschen im Alter 65+ beträgt 20 g/Tag (8). * Molkenproteine sind natürlich reich an Leucin Quelle: Klinik für Geriatrie, Universitätsspital Zürich, 2019
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sich, dass die Muskelmasse in der Verumgruppe im Vergleich zu den Kontrollen signifikant anstieg (+ 250 g) (6). Das bedeute beispielsweise in der Praxis eines Pflegeheims, dass mit einem derartigen Supplement bettlägerige Patienten möglicherweise physiotherapeutisch wieder mobilisiert werden könnten, ordnete Kressig den praktischen Nutzen ein. Der Muskelmassezuwachs in dieser Studie entstand ohne zusätzliches Training. Mit Training sei die Supplementation natürlich effektiver, so Kressig. Am grössten sei ihr Effekt, wenn das Protein unmittelbar vor oder nach dem Training verabreicht werde, so sein Tipp. Voraussetzung dafür sei aber die Einnahme eines schnell resorbierbaren Proteins wie das Molkeprotein, das als hoch konzentriertes Proteinisolat bereits nach 20 Minuten im Blut ist. In der Universitären Altersmedizin Felix Platter in Basel werde daher die Hälfte (15 ml) der leucinreichen Molkeproteindrinkportion vor der Physiotherapiesitzung verabreicht und die andere Hälfte unmittelbar danach. Eine vermehrte Proteinaufnahme verschlechtere zwar die Nierenfunktion, doch wirke sich ein Proteinmangel auf den Gesamtgesundheitszustand eines alten Menschen schädlicher aus, sodass man zugunsten der Lebensqualität eine gewisse Nierenfunktionsverschlechterung in Kauf nehme, so Kressig. Deswegen sei eine erhöhte Proteinzufuhr bei alten Menschen mit Niereninsuffizienz nicht mehr streng kontraindiziert.
QR-Link: Schweizer Ernährungsempfehlungen für Ältere rosenfluh.ch/qr/ernaehrungsempfehlungen-fuer-aeltere
Auch Vitamin D spielt für den Muskelstoffwechsel eine
Rolle. Es wirkt anabol, und die Zugabe fördert ebenfalls die
Muskelkraft bei älteren Menschen mit Vitamin-D-Mangel
(7). Dabei richte sich die Abgabeform nach der Praktikabili-
tät je nach Patient und Pflegesituation, so der Geriater ab-
schliessend.
s
Valérie Herzog
Quelle: «Sarkopenie und Ernährung im Alter», FOMF Allgemeine Innere Medizin, 24. Januar 2023, in Basel.
Referenzen: 1. Ferrucci L et al.: Of greek heroes, wiggling worms, mighty mice, and old
body builders. J Gerontol A Biol Sci Med Sci. 2012;67(1):13-16. 2. Cruz-Jentoft AJ et al.: Sarcopenia. Lancet. 2019;393(10191):2636-2646. 3. Malmstrom TK et al.: SARC-F: a simple questionnaire to rapidly diagnose
sarcopenia. J Am Med Dir Assoc. 2013;14(8):531-532. 4. Bertschi D et al.: Sarcopenia in hospitalized geriatric patients: insights
into prevalence and associated parameters using new EWGSOP2 guidelines. Eur J Clin Nutr. 2021;75(4):653-660. 5. Kim HK et al.: Effects of exercise and amino acid supplementation on body composition and physical function in community-dwelling elderly Japanese sarcopenic women: a randomized controlled trial [published correction appears in J Am Geriatr Soc. 2012 Mar;60(3):605]. J Am Geriatr Soc. 2012;60(1):16-23. 6. Bauer JM et al.: Effects of a vitamin D and leucine-enriched whey protein nutritional supplement on measures of sarcopenia in older adults, the PROVIDE study: a randomized, double-blind, placebo-controlled trial. J Am Med Dir Assoc. 2015;16(9):740-747. 7. Moreira-Pfrimer LD et al.: Treatment of vitamin D deficiency increases lower limb muscle strength in institutionalized older people independently of regular physical activity: a randomized double-blind controlled trial. Ann Nutr Metab. 2009;54(4):291-300. 8. Komar B et al.: Effects of leucine-rich protein supplements on anthropometric parameter and muscle strength in the elderly: a systematic review and meta-analysis. J Nutr Health Aging. 2015;19(4):437-446.