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BERICHT
Rundumpaket Kardioprävention
Die Mittel sind vorhanden, man muss sie nur einsetzen
zVg
Trotz aller medizinischer Fortschritte sterben in Europa immer noch sehr viele Patienten aufgrund von kardiovaskulären Erkrankungen, oder sie haben deswegen eine schlechte Lebensqualität. Durch die Kontrolle von Blutdruck, LDL-Cholesterin, Blutzucker und Gewicht sowie durch Rauchstopp, gute Ernährung, Bewegung und soziale Einbindung ist das gemäss Prof. Isabella Sudano, Klinik für Kardiologie, Universitätsspital Zürich, eigentlich weitgehend vermeidbar.
Manche Risikofaktoren für kardiovaskuläre
Erkrankungen sind nicht modifizierbar. Dazu
gehören zum Beispiel Alter und Geschlecht,
eine positive Familienanamnese oder eine be-
reits vorhandene kardiovaskuläre Erkrankung.
Aber auch wenn die Patienten scheinbar ge-
sund sind, bleiben viele beeinflussbare Risiko-
faktoren (Tabelle 1), mit deren Korrektur das
Risiko für eine kardiovaskuläre Erkrankung
Prof. Isabella Sudano
gesenkt oder unter Kontrolle behalten werden kann. Welche Präventionsmassnahmen ange-
zeigt sind, wird anhand des kalkulierten
10-Jahres-Risikos bestimmt, das mithilfe des SCORE2-
Risikorechners der European Society of Cardiology (ESC) (1)
oder des AGLA-Risikoscores (www.agla.ch) ermittelt wer-
den kann.
Die notwendigen Präventionsmassnahmen müssten mit dem
Patienten zusammen festgelegt werden, nur so bestehe eine
Chance auf ihre langfristige Einhaltung, so Sudano. Dazu
gehöre vielleicht auch der Wegzug aus einer lärmigen und
luftverschmutzten Wohngegend.
Wichtig ist es, bei den verschiedenen Massnahmen Ziele zu
setzen, die erreicht werden können.
Ernährung anders ausrichten
Die Ernährung ist ein wichtiger Baustein, deren Umstellung sollte gegebenenfalls eines der Ziele sein. Gemäss den Empfehlungen der Arbeitsgruppe Lipide und Atherosklerose (AGLA) (2) sollte sie viel Gemüse und viel Obst enthalten, ebenso Getreideprodukte, diese jedoch vorzugsweise als Vollkornprodukte. Stark verarbeitete Getreideprodukte wie beispielsweise Weissbrot, weisser Reis und Frühstückszerealien sollten eingeschränkt oder vermieden werden. Als Eiweissquelle sollten Fisch, Geflügel und Magermilchprodukte dienen, ebenso Hülsenfrüchte wie Erbsen, Bohnen und Linsen. Rotes Fleisch und verarbeitete Fleischprodukte sollten dagegen eingeschränkt werden. Als Fette und Öle sind tendenziell Olivenöl und Rapsöl zu bevorzugen. Bei den Getränken sind Wasser und Tee ideal, gesüsste und verarbeitete Getränke entsprechend zu vermeiden, dazu gehören auch
Frucht- und Gemüsesäfte. Unverarbeitete Früchte und Gemüse sollten als Flüssigkeitsquelle bevorzugt werden. Um Salzexzesse zu vermeiden, sollte auf verarbeitete Nahrungsmittel und das Nachsalzen von Speisen verzichtet werden. Das Genussmittel Alkohol ist aus gesundheitlichen Gründen nicht empfohlen, deshalb sollte der Konsum von Alkoholika nicht täglich stattfinden und in der Woche bei Männern 14 und bei Frauen 7 Standarddrinks nicht übersteigen. Ein Standarddrink enthält 10 g reinen Alkohol, was 2,5 dl Bier, 1 dl Wein (12 Vol%), 30 ml Schnaps (40 Vol%) oder 20 ml Whisky (45 Vol%) entspricht (2).
Die Schweiz bewegt sich
Gemäss der Schweizerischen Gesundheitsbefragung von 2017 gaben 76 Prozent der Personen an, körperlich ausreichend aktiv zu sein, im Vergleich zu 2002 sind das 14 Prozent mehr (3). Zu kardiopräventiven Zwecken empfehlen die ESC-Guidelines mindestens 150 bis 300 Minuten pro Woche Bewegung von mittlerer Intensität oder 75 bis 150 Minuten intensive körperliche Bewegung, was nachgewiesenermassen die Gesamtmortalität sowie die kardiovaskuläre Mortalität und Morbidität reduziert (1). Sportliche Aktivitäten sind bereits in der Kindheit sehr wichtig. Sie haben bei 10- bis 14-Jährigen in den letzten 20 Jahren glücklicherweise zugenommen. So sind nach Angaben einer Befragung durch das Schweizer Sportobservatorium rund drei Viertel von etwa 1500 Kindern in dieser Altersklasse ausserhalb des obligatorischen Sportunterrichts mehr als 3 Stunden pro Woche sportlich aktiv (4). Ein weiterer Risikofaktor ist das Tabakrauchen. Ob mit oder ohne Filter, als Beedies, Pfeife oder durch Kauen – Tabak ist auf jede Art schädlich, wie die INTERHEART-Studie gezeigt hat. Gemäss dieser ist das Herzinfarktrisiko bei jeder Art von Tabakgenuss mindestens 2-fach erhöht. Selbst das Passivrauchen ist je nach Expositionsdauer mit einem um 24 bis 45 Prozent erhöhten Risiko verbunden (5).
Blutdrucksenkung stufenweise
Der Blutdruck ist bei erhöhten Werten ebenfalls ein modifizierbarer Risikofaktor. Eine Senkung kann Organschäden
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Tabelle 1:
Risikofaktoren für kardiovaskuläre Erkrankungen
Nicht modifizierbar ▲ Alter ▲ Geschlecht ▲ positive Familienanamnese ▲ Ethnie ▲ genetische Prädisposition ▲ vorbekannte kardiovaskuläre
Erkrankung
Modifizierbar ▲ Blutdruck ▲ LDL-Cholesterin ▲ Rauchen ▲ Blutzucker/Diabetes ▲ Body-Mass-Index ▲ Marker einer chronischen
Entzündung
Quelle: Prof. I. Sudano, FOMF-WebUp 2022
Lebensstil ▲ Rauchen ▲ Ernährung ▲ Bewegung ▲ Stress
Soziale Faktoren ▲ Einkommen ▲ soziale Benachteiligung ▲ Umgebung
Tabelle 2:
Zielwerte zur Behandlung von kardiovaskulären Risikofaktoren
Rauchen
keine Exposition in irgendeiner Form
Ernährung
gesunde Ernährung mit wenig gesättigten Fettsäuren und hauptsächlich Vollkorngetreideprodukten,
Gemüse, Früchten und Fisch
Bewegung
3,5 bis 7 Stunden mässig strenge körperliche Aktivität pro Woche (30–60 min/Tag)
Gewicht
Body-Mass-Index 20–25 kg/m2. Taillenumfang < 94 cm (Männer), < 80 cm (Frauen)
Blutdruck
< 140/90 mmHg
LDL-C
sehr hohes Risiko: ≤ 50% Reduktion und < 1,4 mmol/l; hohes Risiko: ≤ 50% Reduktion und < 1,8 mmol/l;
moderates Risiko: < 2,6 mmol/l; tiefes Risiko: < 3,0 mmol/l
Non-HDL-C
< 2,2, 2,6 und 3,4 mmol/l bei sehr hohem, hohem und moderatem Risiko
ApoB
< 65, 80 und 100 mg/dl bei sehr hohem, hohem und moderatem Risiko
Triglyzeride
kein Zielwert, aber < 1,7 mmol/l zeigt ein tiefes Risiko, bei höheren Werten andere Risikofaktoren
kontrollieren
Diabetes HbA1c < 7%
Quelle: mod. nach (12)
und kardiovaskuläre Ereignisse reduzieren. Der erhöhte Blutdruckwert solle fürs Erste auf einen Wert von < 140/90 mmHg gesenkt und 3 Monate auf diesem Niveau gehalten werden, so Sudano. Je nach Patientengruppe könne der Wert anschliessend auf den von Swiss Hypertension empfohlenen Zielwert von 130/80 mmHg (6) weiter gesenkt werden, so Sudano. Zur Senkung sollen von Beginn an 2-fach-Kombinationen mit ACE-Hemmern oder Sartanen plus Kalziumantagonisten oder Diuretika (vorzugsweise thiazidähnlich wie Chlortalidon oder Indapamid) verwendet werden. Bringt die Therapie nicht den erwünschten Effekt, kann eine 3-fach-Kombination (ACE-Hemmer/Sartan + Kalziumantagonist + Diuretikum) eingesetzt werden, reicht das nicht aus, wird zusätzlich mit Spironolacton oder anderen Antihypertensiva kombiniert (7).
Lipidsenkung bringt viel
Eine Reduktion der LDL-Cholesterin-Werte (LDL-C) senkt das kardiovaskuläre Risiko ebenfalls, dies in einer nahezu linearen Weise, wie verschiedenste Studien der letzten 20 Jahre gezeigt haben (8). Je nach kardiovaskulärem Risiko sollen sie auf die entsprechenden Zielwerte (sehr hoch: 1,4 mmol/l; hoch: 1,8 mmol/l; moderat: 2,6 mmol/l; tief: 3,0 mmol/l) gesenkt werden. Zur Senkung des LDL-C stehen
verschiedene Substanzklassen zur Verfügung. Dazu gehören Statine, Ezetimibe, Bempedoinsäure und PCSK9-Hemmer (inkl. Inclisiran). Die beiden Letzteren dürften seit Kurzem vom Spezialisten ohne Kostengutsprache verschrieben werden, wenn der LDL-C-Wert > 1,8 mmol/l in der Sekundärprävention beziehungsweise > 2,6 mmol/l in der Primärprävention betrage, berichtet die Expertin.
Diabetestherapie ist einfacher geworden
Beim Risikofaktor Diabetes sei alles viel einfacher und praxisorientierter geworden, so Sudano. Um die passende Therapie zu finden, müssen nur noch 3 Fragen gestellt werden (9): 1. Besteht ein Insulinmangel? 2. Wie ist die Nierenfunktion (geschätzte glomeruläre Filtrationsrate [eGFR])? 3. Muss einer Herzinsuffizienz vorgebeugt oder diese behandelt werden? Die Therapie besteht dann aus einer Kombination von Metformin und SGLT2-Hemmer oder GLP-1-Rezeptor-Antagonist. Ist die blutzuckersenkende Wirkung nicht ausreichend, soll der jeweils andere Kombinationspartner (GLP-1-RA/ DPP-4-Hemmer oder SGLT2-Hemmer) dazugegeben werden. Falls nötig, kann die Therapie noch mit zusätzlichem Basalinsulin eskaliert werden (9). Wichtig sei auch hier, die Massnahmen mit dem Patienten abzusprechen, rät Sudano. Denn die ärztlichen Ziele Blutzuckerkontrolle und Präven-
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tion von Komplikationen und Mortalität stimmen oft nicht mit den Wünschen der Patienten überein. Diese möchten vor allem keine Hypoglykämien, keine Gewichtszunahme und nicht so viele Medikamente. Ein weiterer kardiovaskulärer Risikofaktor sei die chronische Niereninsuffizienz, betonte die Expertin. Deren Progressionsrisiko kann mit der Eingabe von eGFR und der Albuminurie anhand eines Risikorechners (z. B. agla.ch) geschätzt werden. Auch Stress ist ein nicht zu unterschätzender Risikofaktor. In der INTERHEART-Studie war die psychosoziale Belastung mit einem gleich hohen kardiovaskulären Risiko assoziiert wie Adipositas, Hypertonie, Diabetes und Rauchen (10).
Risikofaktor Adhärenz
Alle genannten Massnahmen sind evidenzbasiert, nützen aber
nichts, wenn sie nicht befolgt werden. Gemäss einer norwegi-
schen Untersuchung bei Patienten mit KHK, nach Myokard-
infarkt, perkutaner oder chirurgischer Intervention oder mit
Angina pectoris war die Adhärenz nie 100 Prozent. Mono-
therapien haben je nach Diagnose noch die grösste Chance,
eingenommen zu werden (> 60%), bei 2 oder 3 Medikamen-
ten ist sie viel kleiner (11). Deshalb müsse die Nichtadhärenz
auch als Risikofaktor gelten, denn damit steige das Risiko für
kardiovaskuläre Ereignisse ebenfalls, so Sudano.
s
Valérie Herzog
Quelle: «Kardiovaskuläre Prävention», FOMF-WebUp für Hausärzte, 28.11.2022, virtuell.
Referenzen: 1. Visseren FLJ et al.: 2021 ESC Guidelines on cardiovascular disease preven-
tion in clinical practice. Eur Heart J. 2021;42(34):3227-3337. 2. Arbeitsgruppe Lipide und Atherosklerose (AGLA): www.agla.ch. Letzter
Abruf: 22.12.22. 3. Bundesamt für Statisk: www.bfs.admin.ch. Letzter Abruf: 22.12.22. 4. Schweizer Sportobservatorium: www.sportobs.ch. Letzter Abruf:
22.12.22. 5. Teo KK et al.: Tobacco use and risk of myocardial infarction in 52 countries
in the INTERHEART study: a case-control study. Lancet. 2006; 368(9536):647-58. 6. Schweizerische Gesellschaft für Hypertonie: www.swisshypertension.ch. Letzter Abruf: 22.12.22. 7. Williams B et al.: 2018 ESC/ESH Guidelines for the management of arterial hypertension. Eur Heart J. 2018;39(33):3021-3104. 8. Ference BA et al.: Low-density lipoproteins cause atherosclerotic cardiovascular disease. 1. Evidence from genetic, epidemiologic, and clinical studies. A consensus statement from the European Atherosclerosis Society Consensus Panel. Eur Heart J. 2017;38(32):2459-2472. 9. Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGED/SSED) für die Behandlung von Diabetes mellitus Typ 2 (2020). 10. Yusuf S et al.: Effect of potentially modifiable risk factors associated with myocardial infarction in 52 countries (the INTERHEART study): case-control study. Lancet. 2004;364(9438):937-952. 11. Pedersen E et al.: Adherence to prescription guidelines and achievement of treatment goals among persons with coronary heart disease in Tromsø 7. BMC Cardiovasc Disord. 2021;21(1):44. 12. Piepoli MF et al.: Preventing heart failure: a position paper of the Heart Failure Association in collaboration with the European Association of Preventive Cardiology. Eur J Prev Cardiol. 2022;29(1):275-300.