Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Rosenbergstrasse
An der Messe für Weihnachtsdeko anfangs Jahr («Christmasworld 23») hat man sich Gedanken gemacht. Weihnachtsbäume, so stellten die Marktstrategen fest, sehen jedes Jahr gleich aus: manchmal etwas Lametta, künstliche Kerzen und natürlich Christbaumkugeln. Und zwar dieselben wie letztes und vorletztes Jahr. Möglicherweise gar noch die Kugeln aus Grossmutters Zeiten, so sie überlebt haben. Aus Marketingsicht eine nutzlose Wiederverwendung. Der Trend, so die Christbaum-Industrie, soll deshalb in Zukunft zu modischem Schmuck gehen.Warum nicht jeden Advent eine neue Sau durchs Dorf treiben bzw. auf den Christbaum jagen? Nächsten Dezember zum Beispiel sollen Haustiere «in» sein: dann tummeln sich Katzen, Hunde, Ratten, Hasen und ebenselbige Sauen (nur – Corona lässt grüssen – hoffentlich keine Fledermäuse!). Im Jahr darauf liesse sich vielleicht mit Foodartikeln wie Crevetten, Fische und Austern punkten (alles aus Kunststoff, versteht sich) und später dann mit dem Thema «Christmas and sports» (was für geschäftliche Synergien sich da auftun!). Dann hängen unsere Plastikbäume voll Fussbälle, Hanteln, Tennisrackets, Minivelos. Die Spielzeugindustrie in Asien liefert alles, schneller und zuverlässiger als die Chemie Paracetamol-Tabletten.
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«Blue zones» sind Gegenden, in denen die Menschen besonders alt werden. Auf Sardinien, Okinawa, in Costa Rica, in Griechenland und anderswo gibt es Dörfer, in denen auffällig viele Hundertjährige leben. Liegt es an den Genen? Die Zeitgeist-affine Wissenschaft meint: nein, es ist unser Lebensstil. Stimmt schon: Fast alle Menschen in Blue zones bewegen sich (gezwungenermassen) viel und arbeiten bis ins hohe Alter. Sie essen wenig, vor allem was im eigenen Garten wächst, manchmal ein Huhn, sie haben angeblich wenig Stress und sind Mitglieder grosser Familien. Die Geschichte tönt gut: Der
unverdorbene, natürliche Mensch wird alt, wir Schreibtischhocker, Industrieprodukte-Mampfer und kinderarmen und urban vereinsamten Westler sterben früh. Ausgleichende Gerechtigkeit quasi: Wohlstand und Komfort bringen uns um. Nur zaghaft fragt man sich: Was ist eigentlich mit den Millionen Menschen, die ebenfalls viel zu Fuss gehen (etwa weil sie Wasser holen müssen), lange arbeiten, kärglich essen (weil Geld fehlt oder nichts wächst) und in beengten Grossfamilien aufgehoben sind – und die das 60. Altersjahr dennoch nicht erreichen? Vielleicht sind Blue zones ja doch nur Zufälligkeiten. So wie im Nachbarstädtchen das grüne Haus ennet der Strasse, in dem zwei Hundertjährige leben. Ehedem erfolgreicher Chemieprofessor bzw. Chefsekretärin. Gearbeitet haben sie in Labors und an Computern, haben sich vorzeitig pensionieren lassen, essen noch immer gerne üppig, trinken teure Weine und haben zwei kinderlose Söhne. Sie freuen sich des Lebens und leisten sich Top-Ärzte. Vielleicht ist der naturnahe Zeitgeist einfach nur blauäugig. Oder farbenblind.
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Königin Marie-Antoinette sagte über den verarmten Pöbel: «Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie Kuchen essen.» Die Herren Macron, Lindner u.a. trifft man in diesen Wochen oft mit Rollkragen-Pulli statt in Hemd und Jacket. Als wollten sie zeigen, wie man sich persönlich vor Kälte, draussen wie drinnen, schützen kann. Die implizite Nachricht: «Wenn sie weder Gas noch Öl für die Heizung haben, dann sollen sie halt Cashmere tragen.»
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Da fragt doch kürzlich jemand in einem Online-Chat: Warum trugen die römischen Soldaten Sandalen? Gute Frage! Warum eigentlich? Warum keine Schuhe? Und wie sahen die Sandalen aus? Das Wichtigste waren offenbar eine dicke
Ledersohle und Nägel. Alte Schweizer Soldaten kennen sie noch: die Nagelschuhe, die so schön Klack-Klack-Klack machten bei der Zugschule – für Laien: beim Marschieren in Formation und Gleichschritt. Einziger Nachteil: Eisen auf Stein rutscht. Aber egal, die Römer marschierten ja nicht auf asphaltierten Strassen. Und wenn sie auf den typisch römischen Karrengleisen unterwegs waren, dann eher nicht in Achterreihe und im Paradeschritt. Genagelte Sandalen waren offenbar bequem, geländetauglich und fussfreundlich. Eine Frage aber blieb: Froren die armen Römer nicht, so halb barfuss? Die Antwort ist geradezu grauslich: Die Römer trugen, zumindest in nördlichen Gefilden, in ihren Sandalen … (igitt!) Wollsocken! Römer, Calze-Aficionados, Italiener überhaupt: Das darf nicht wahr sein! Natürlich kann man sich Epochen vorstellen, in denen ein schöpferisch darnieder liegender Modezar auf die Idee kommt, Sandalen, Socken und Männer zu kombinieren. Aber dass ausgerechnet Italiener für ein derartiges modisches Grauen stehen – non può essere vero!
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Milton Friedman: «Der fundamentale Trugschluss im Wohlfahrtsstaat, welcher sowohl in die Finanzkrise als auch zum Verlust der Freiheit führt, liegt im Versuch, Gutes auf Kosten anderer zu tun.» Vielleicht meinte Ueli Maurer, Ex-Finanzminister, etwas Ähnliches, als er, etwas simpler ausgedrückt, sagte: «Nichts ist einfacher, als das Geld anderer Leute auszugeben.»
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Und das meint Walti: John Steinbeck hatte recht! Die Sklaven von heute werden nicht mit Peitschen, sondern mit Terminkalendern angetrieben.
Richard Altorfer
84 ARS MEDICI 4 | 2023