Transkript
FORTBILDUNG
Frakturprävention bei primärer Osteoporose
Neue Guideline beziffert den Nutzen verschiedener Medikamente
Das American College of Physicians (ACP) hat seine Guideline zur medikamentösen Frakturprävention bei primärer Osteoporose aktualisiert. Das ACP empfiehlt Bisphosphonate als First-Line- und den RANKL-Hemmer Denosumab als Second-Line-Medikament. Romosozumab oder Teriparatid sind bei einem hohem Frakturrisiko indiziert. Das Besondere an der neuen Guideline ist die anschauliche Darstellung der Nutzen-Risiko-Bilanz in absoluten Zahlen.
Annals of Internal Medicine
In den aktualisierten Guidelines der US-amerikanischen Hausärzte steht nach wie vor die Knochendichte im Mittelpunkt, während das Frakturrisiko als Grundlage für den Therapieentscheid, anders als in den 2020 aktualisierten Guidelines in der Schweiz, weniger eindeutig definiert wird. Die Grenzwerte des ACP für Ostopenie und Osteoporose entsprechen den allgemein üblichen, wobei als Referenzgrösse die Knochendichte von weissen, 20 bis 29 Jahre alten Frauen in der NHANES-III-Datenbank (Third National Health and Nutrition Examination Survey in den USA) herangezogen wird: s Osteopenie: T-Score –1 bis –2,5 (Oberschenkelhals oder lumbale Wir-
belkörper) s Osteoporose: prämenopausale Frauen T-Score ≤ –2,5 (Oberschenkelhals
oder lumbale Wirbelkörper) postmenopausale Frauen und Männer ≥ 50 Jahre: T-Score
≤ –2,5 (lumbale Wirbelkörper, Hüfte oder Oberschenkel-
MERKSÄTZE
� Bei primärer Osteoporose werden in den USA Bisphosphonate als First-Line-Option empfohlen.
� Denosumab ist genauso wirksam, wird aber wegen der höheren Kosten als Second-Line-Option empfohlen, falls Bisphosphonate nicht vertragen werden.
� Teriparatid und Romosozumab sind bei einem sehr hohen Frakturrisiko indiziert.
� Jede anabole Osteoporosetherapie muss von einer antiresorptiven Therapie gefolgt sein, um den Therapieerfolg zu erhalten und das Reboundrisiko mit Wirbelfrakturen zu vermeiden.
hals; es kann auch die Knochendichte am Radius herangezogen werden, der sog. 33%- oder 1/3-Radiuswert).
Frakturrisiko schwammig definiert
Das Frakturrisiko ist in den ACP-Guidelines nur im Zusammenhang mit den antiresorptiven Substanzen Romosozumab und Teriparatid relevant. Sie sollen gemäss ACP nur bei Patienten mit sehr hohem Frakturrisiko eingesetzt werden. Allerdings wird das Frakturrisko schwammig definiert: Man habe sich bei der Einschätzung des Frakturrisikos eher auf die Osteoporosediagnose, osteoporotische Frakturen in der Vergangenheit, die bekannten Risikofaktoren sowie die Unverträglichkeit beziehungsweise die ungenügende Wirksamkeit von Osteoporosemedikamenten gestützt als auf die Scores der gängigen Tools zum Errechnen des Frakturrisikos bei Osteoporose, so die ACP-Autoren.
Nutzen und Nebenwirkungen in absoluten Zahlen
Interessant ist die neue ACP-Guideline in der Praxis trotz der unscharfen Definition des Frakturrisikos, denn die Autoren haben sich die Mühe gemacht, den Nutzen von Osteoporosemedikamenten im Vergleich mit Plazebo in absoluten Zahlen zu errechnen (Tabelle). Für postmenopausale Frauen stufte das ACP den Nutzen von Bisphosphonaten und Denosumab als moderat ein und denjenigen von Raloxifen, Teriparatid und Romosozumab sequenziell mit Alendronat (im Vergleich mit Alendronat allein) als klein. Die Nebenwirkungen wurden für fast alle Medikamente als insgesamt unbedeutend beurteilt, für das Teriparatid als klein. In absoluten Zahlen bedeutet das für Teriparatid, dass bei 1000 Patientinnen in Studien mit Teriparatid im Vergleich mit Plazebo in zusätzlich 127 Fällen das Medikament wegen Nebenwirkungen abgesetzt wurde. Bei Männern mit Osteoporose wurden nur die Bisphosphonate bewertet. Ihr Nutzen wurde hier als klein eingestuft, die Nebenwirkungen als unbedeutend. Absolute Zahlen zur Wirksamkeit von Bisphosphonaten bei Männern mit Osteo-
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Tabelle:
Medikamentöse Reduktion osteoporotischer Frakturen bei postmenopausalen Frauen
Frakturen
Substanz
Behandlungs- dauer
Reduktion von Frakturen pro 1000 Patientinnen
Evidenzgrad
Hüftfraktur Bisphosphonat Denosumab ≥ 36 Monate Raloxifen Bisphosphonat Romosozumab sequenziell mit Alendronat 1 2–36 Monate vs. Alendronat allein Teriparatid
–6 Frakturen –4 Frakturen
±0 –8 Frakturen
hoch moderat niedrig
hoch
–12 Frakturen
moderat
±0 niedrig
Klinische Wirbelfraktur Bisphosphonat Denosumab ≥ 36 Monate Raloxifen Bisphosphonat Romosozumab Teriparatid Raloxifen 12–36 Monate Romosozumab sequenziell mit Alendronat vs. Alendronat allein
–18 Frakturen –16 Frakturen
±0 –21 Frakturen –4 Frakturen –45 Frakturen –35 Frakturen
–13 Frakturen
hoch hoch niedrig hoch moderat niedrig niedrig
moderat
Radiologisch nachweisbare Wirbelfraktur Bisphosphonat Denosumab ≥ 36 Monate Raloxifen Bisphosphonat Denosumab 12–36 Monate Teriparatid Romosozumab
–56 Frakturen (Bildgebung) –48 Frakturen (Bildgebung) –28 Frakturen (Bildgebung) –44 Frakturen (Bildgebung) –64 Frakturen (Bildgebung) –69 Frakturen (Bildgebung) –13 Frakturen (Bildgebung)
hoch moderat moderat moderat moderat
hoch moderat
Jegliche klinische Fraktur Bisphosphonat Denosumab ≥ 36 Monate Raloxifen Bisphosphonat DTeernipoasruamtidab 12– 36 Monate Romosozumab Raloxifen
–24 Frakturen –14 Frakturen
±0 –59 Frakturen
±0 –27 Frakturen –9 Frakturen –53 Frakturen
hoch moderat moderat
hoch niedrig hoch moderat moderat
Alle Angaben, falls nicht anders vermerkt, im Vergleich mit Plazebo; ±0: vermutlich kein Unterschied zu Plazebo.
porose sind nur für radiologisch nachweisbare Wirbelfrakturen nach ≥ 36 Monaten Behandlungsdauer verfügbar: Pro 1000 Patienten waren es mit Bisphosphonaten im Vergleich mit Plazebo 140 radiologisch sichtbare Wirbelfrakturen weniger.
Postmenopausale Frauen
Das ACP empfiehlt, postmenopausale Frauen mit primärer Osteoporose initial mit Bisphosphonaten zu behandeln. Des Weiteren schlägt man Denosumab als Second-Line-Option vor, falls Kontraindikationen für Bisphosphonate bestehen oder diese von der Patientin nicht vertragen werden. Grund hierfür ist nicht die Wirksamkeit, sondern der Preis: Denosu-
mab habe zwar ebenfalls einen gute Langzeitnutzenbilanz, sei jedoch wesentlich teurer als Bisphosphonate, die überdies als Generika verfügbar seien, so die ACP-Autoren. Sowohl Denosumab als auch Bisphosphonate sind bei langfristigem Gebrauch mit einem erhöhten Risiko für Osteonekrosen des Kiefers und atypische femorale Frakturen verbunden. Zurzeit geht man davon aus, dass eine länger als 5 Jahre dauernde Therapie mit Bisphosphonaten das Risiko für neue Wirbelfrakturen, nicht aber für andere Frakturen vermindert. Angesichts der Risiken des Langzeitgebrauchs dieser Medikamente empfiehlt das ACP, einen Stopp der Bisphosphonatbehandlung nach 5 Jahren in Erwägung ziehen, es sei denn es bestehe eine starke Indikation für deren Fortsetzung.
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Der Entscheid für oder gegen die temporäre Aussetzung einer medikamentösen Osteoporosetherapie sei prinzipiell von Faktoren wie dem Frakturrisiko, der Abwägung von Nutzen und Schaden der Medikamentenpause sowie der Halbwertszeit der jeweiligen Substanz abhängig. Nur bei Frauen mit einem sehr hohen Frakturrisiko sollen Romosozumab oder Teriparatid eingesetzt werden. Romosozumab ist mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Nebenwirkungen verbunden. Für beide Medikamente gelte, dass ihre Nutzen-Risiko-Bilanz bei älteren Frauen (mittleres Alter > 74 Jahre) mit einem sehr hohen Frakturrisiko die potenziellen Nebenwirkungsrisiken aufwiege, heisst es in der ACP-Guideline. Jede Frau, die mit einem anabolen Medikament behandelt wurde, soll danach eine antiresorptive Substanz erhalten, um den therapeutischen Nutzen zu erhalten und um das schwerwiegende Risiko eines Rebounds mit Wirbelfrakturen zu verhindern. Neben der medikamentösen Osteoporosetherapie sind ein gesunder Lebensstil, Bewegung und Sturzprophylaxe wichtig. Dasselbe gilt für eine ausreichende Versorgung mit Vitamin D und Kalzium.
Männer mit Osteoporose
Für Männer mit Osteoporose empfiehlt das ACP dieselbe First- und Second-Line-Therapie wie für die Frauen (Bisphosphonate, Denosumab). Es gebe zurzeit keine Anhaltspunkte dafür, dass deren Wirksamkeit bezüglich der Osteoporose geschlechtsabhängig sei, so die Autoren der Guideline. Für Empfehlungen zu anderen Osteoporosemedikamenten sei die Datenlage bei Männern nicht ausreichend.
Was tun bei Osteopenie?
Bei Frauen ab 65 Jahren mit Osteopenie empfiehlt das ACP,
individuell zu entscheiden, ob die Gabe von Bisphosphonaten
sinnvoll sein könnte oder nicht. SERM wie Raloxifen werden
vom ACP in diesem Zusammenhang nicht erwähnt, weil die
Datenlage zu dünn dafür sei.
In den Schweizer Guidelines von 2020 werden die Fraktur-
risiken etwas anders als in den ACP-Guidelines definiert.
Hierzulande gelten SERM als Option bei mittlerem Fraktur-
risiko (T < –2,5, aber ohne vorherige Frakturen), falls paral- lel keine Hormonersatztherapie mit Östrogenen erfolgt; die Alternative sind Bisphosphonate. Bei Osteopenie empfehlen die Schweizer Guidelines hingegen keine Medikamente, son- dern Lebensstilmassnahmen sowie Vitamin D und gegebe- nenfalls Kalzium (1). s Renate Bonifer Quelle: Qaseem A et al.: Clinical Guidelines Committee of the American College of Physicians: Pharmacologic Treatment of Primary Osteoporosis or Low Bone Mass to Prevent Fractures in Adults: A Living Clinical Guideline From the American College of Physicians. Ann Intern Med. 2023;10.7326/ M22-1034. Interessenlage: Keiner der Autoren hatte relevante Interessenkonflikte zu deklarieren. 5 Mitglieder des Clinical-Guideline-Komitees der ACP deklarierten potenziell starke oder moderate Interessenkonflikte, sodass sie wegen Befangenheit von der Mitarbeit an dieser Guideline ausgeschlossen wurden. Referenz: 1. Ferrari S et al.: 2020 recommendations for osteoporosis treatment ac- cording to fracture risk from the Swiss Association against Osteoporosis (SVGO). Swiss Med Wkly. 2020;150:w20352. ARS MEDICI 4 | 2023 107