Transkript
EDITORIAL
Es bleibt einfach nicht gleich viel hängen
Die Pandemie ist vorüber. Manche Änderungen, die man während der Lockdowns notgedrungen vornehmen musste, sind geblieben. Dazu gehören unter anderem die Fortbildungsveranstaltungen, die während der Lockdowns auf Online-Lehrveranstaltungen umgestellt werden mussten. Manche sind heute gar nur noch ganz online, andere werden hybrid angeboten. Da hat man die Qual der Wahl: Reiseaufwand, dafür sozialer Austausch versus Zeit sparen, dafür nur Bildschirm. Dass das subjektive Erleben anders ist, wenn man selbst dabei ist, als wenn man via Bildschirm zuschaut, ist nachvollziehbar und bekannt. Aber wie steht es mit dem Lerneffekt? Deutsche Forscher widmeten sich nun dieser Frage. Sie massen den physiologischen Stresspegel von Medizinstudenten im 1. Semester während einer 120 Minuten dauernden Face-to-Face-Anatomiestunde im Vorlesungssaal im Vergleich mit der gleichzeitig stattfindenden Online-Übertragung per Zoom. Stress ist notwendig zum Lernen. Er beeinflusst die kognitive Performance dosisabhängig in einer inversen U-Form: Ein bisschen Stress verbessert die kognitive Leistung, zu viel Stress verschlechtert sie.
Um den physiologischen Stresspegel zu eruieren,
wurde bei den Studenten (n = 82) unter beiden Bedin-
gungen (online und face-to-face) der Cortisolspiegel
im Speichel zu Beginn, nach 60 Minuten und am Ende
des Kurses gemessen. Während einer Cortisolaus-
schüttung ist die geistige Aktivität erhöht und die
Erinnerungsfähigkeit an einen Lerninhalt wird verbes-
sert.
Des Weiteren wurde die Herzfrequenzvariabilität als
Marker für die Aktivität des autonomen Nervensys-
tems während der ganzen Unterrichtseinheit gemes-
sen. Nach dem Kurs füllten die Studenten zusätzlich
standardisierte Fragebögen zum subjektiv empfunde-
nen Stress und zu den erlebten Emotionen aus.
Bei den Studenten im Vorlesungssaal zeigte sich in der
Auswertung eine signifikant reduzierte Herzfrequenz-
variabilität, was auf eine stärkere Stressantwort hin-
weist. Weiter waren die Cortisolkonzentrationen signi-
fikant höher als bei den Kommilitonen am Bildschirm.
Die gemessenen Werte korrelierten überdies mit den
angegebenen positiven Emotionen, die jene im Vorle-
sungssaal erlebten.
Am Bildschirm sind die physiologische Erregung und
die geistige Aktivität demnach geringer während einer
Unterrichtseinheit als bei einer Face-to-Face-Veran-
staltung. Und was für Medizinstudenten gilt, trifft
sicher auch für Teilnehmer von Fortbildungsinhalten
zu. Was man gefühlsmässig schon vermutet hatte, ist
jetzt physiologisch untermauert: Online-Fortbildun-
gen sind zwar praktisch, weil man nirgendwo hinreisen
muss, doch es bleibt einfach nicht gleich viel hängen.
Geht Ihnen das auch so?
s
Valérie Herzog
Quelle: Gellisch M et al.: Decreased sympathetic cardiovascular influences and hormone-physiological changes in response to Covid-19-related adaptations under different learning environments. Anat Sci Educ. 2022;15(5):811-826.
ARS MEDICI 3 | 2023
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