Transkript
EDITORIAL
Kreative Aufschieberitis
Das Prokrastinieren hat ein schlechtes Image. Es gilt gemeinhein nicht nur als verwerfliche Faulheit, Unzuverlässigkeit und Charakterschwäche, sondern obendrein als Gesundheitsrisiko. Kürzlich erschien dazu eine weitere Studie. In Schweden befragte man 3525 Studenten – eine Bevölkerungsgruppe mit bekannt hoher Prokrastinationsprävalenz – 1 Jahr lang alle 3 Monate zu ihrem Prokrastinationsniveau sowie zur psychischen und physischen Gesundheit, zum Lebensstil und zu psychosozialen Aspekten. Wenn der Prokrastinierungsindex im Lauf der Zeit um eine Standardabweichung anstieg, war das im Durchschnitt mit einem leichten Anstieg von Depressivität, Angst, Stress, Schmerzen im Arm, schlechtem Schlaf, physischer Inaktivität, Einsamkeit und wirtschaftlichen Problemen verbunden. Diese Assoziationen seien allerdings nur schwach gewesen, und ihre Studie beantworte die Frage nach Ursache und Wirkung nicht, schreiben die Autoren. Überdies konnten sie keinen statistischen Zusammenhang zwischen Prokrastination und Schmerzen in anderen Körperregionen, dem Rauchen, dem Alkohol- und Cannabiskonsum oder der Gesundheit im Allgemeinen finden (1). Vielleicht sollte man das Prokrastinieren differenzierter betrachten. Schliesslich ist es ein Phänomen, das wir alle kennen und von dem, nach Aussage des Psychologen Adam M. Grant und der Motivationsforscherin Jihae Shin, rund ein Fünftel der Bevölkerung und die Mehrheit der Studenten betroffen ist (2). Auch Prominente wie Leonardo da Vinci, Albert Einstein, Thomas Edison oder
die vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin Margaret
Atwood sollen zu den Prokrastinierern gehören (2).
Könnte es nicht sein, dass Prokrastinieren auch positive
Effekte hat?
Grant und Shin kommen zu dem Schluss, dass es in der
Tat die Kreativität beim Lösen einer Aufgabe fördern
kann, aber nur unter bestimmten Voraussetzungen:
Erstens muss das Erledigen der Aufgabe Kreativität er-
fordern, zweitens darf man das Erledigen der Aufgabe
nicht bis auf den letzten Drücker, sondern nur moderat
aufschieben, und drittens muss es eine Aufgabe sein, die
von persönlichem Interesse ist. Wenn diese Kriterien
erfüllt sind, scheint ein bisschen Aufschieben im Hin-
blick auf kreative Lösungen keine schlechte Idee zu sein.
Grant und Shin zeigten dies sowohl in Experimenten mit
Probanden als auch in einer Feldstudie auf (2).
Der Zusammenhang zwischen dem Ausmass des Pro-
krastinierens und dem Kreativitätslevel beim Erledigen
einer Aufgabe scheint u-förmig zu verlaufen. Wer sie
extrem schnell erledigt, wird dabei wahrscheinlich nicht
besonders kreativ sein. Das Gleiche gilt für denjengen,
der allzu lang herumtrödelt, denn ihm läuft am Ende die
Zeit davon, sodass er, genauso wie die allzu Schnellen,
zu wenig Zeit für das Ausarbeiten guter Ideen hat. Wer
hingegen bei einer kreativen Aufgabe, wie zum Beispiel
beim Vorbereiten eines Vortrags oder beim Schreiben
eines Artikels, ein bisschen (!) prokrastiniert, kann da-
von durchaus profitieren. Ihm bleibe mehr Zeit, die Fra-
gestellung zu «inkubieren», während er sich mit ande-
ren Dingen ablenke, und die Aufgabe derweil sowohl
bewusst als auch unbewusst aus anderen Perspektiven
zu betrachten, so formulieren es Shin und Grant (2).
Das Prokrastinieren hatte übrigens nicht immer schon
ein schlechtes Image. Zum Beispiel bedeutete der Be-
griff Prokrastinieren für die Römer der Antike, eine wohl-
durchdachte Entscheidung darüber zu treffen, nicht zu
handeln, sondern dafür den richtigen Zeitpunkt abzu-
warten (2).
Seien Sie also nicht allzu streng mit sich, wenn sie das
eine oder andere interessante Projekt für einmal noch
ein wenig aufschieben.
s
Renate Bonifer
1. Johansson F et al.: Associations Between Procrastination and Subsequent Health Outcomes Among University Students in Sweden. JAMA Netw Open. 2023;6(1):e2249346.
2. Shin J, Grant AM: When putting work off pays off: the curvilinear relationsship between procrastination and creativity. Acad Managment J. 2021;64(3).
ARS MEDICI 1+2 | 2023
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