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Titel
Infektiologie und Impfungen – Impfempfehlungen in der Hausarztpraxis schneller und konsequenter umsetzen
Untertitel
Prof. Dr. med. Ulrich Heininger Leitender Arzt und Chefarzt Stv. Pädiatrie Pädiatrische Infektiologie und Vakzinologie Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB)
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Rückblick 2022 / Ausblick 2023
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62508
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RÜCKBLICK 2022/AUSBLICK 2023

Infektiologie und Impfungen
Prof. Dr. med. Ulrich Heininger Leitender Arzt und Chefarzt Stv. Pädiatrie Pädiatrische Infektiologie und Vakzinologie Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB)
Impfempfehlungen in der Hausarztpraxis schneller und konsequenter umsetzen
Worüber haben Sie sich im vergangenen Jahr besonders gefreut?
Ich habe mich sehr gefreut, dass die Eidgenössische Kommission für Impffragen (EKIF) im Herbst 2022 beschlossen hat, ab Januar 2023 die Varizellenimpfung für alle Kinder als Basisimpfung ab dem Alter von 9 Monaten (2. Dosis mit 12 Monaten) einzuführen. Und, sehr wichtig für die Umsetzung: Die Kosten dafür werden von den Krankenkassen übernommen. Zudem sollen neu alle Kinder sowie, wie bisher, Jugendliche und Erwachsene im Alter von 11 bis unter 40 Jahren, die noch keine Varizellen hatten, Nachholimpfungen erhalten. Für die Einführung der allgemeinen Varizellenimpfempfehlung habe ich mich in den letzten 20 Jahren eingesetzt, immer wieder gegen viele Missverständnisse («harmlose Kinderkrankheit») und Widerstände argumentiert. Deshalb ist jetzt meine Freude über diesen wichtigen Schritt gross.
Und worüber haben Sie sich geärgert?
Über so manches. Zum Beispiel, dass wie so oft Kinder die Suppe auslöffeln müssen, die ihnen die Erwachsenen eingebrockt haben. In diesem Fall ist es das Nachholen vieler Infektionskrankheiten, die während der zum Teil rigiden Massnahmen zur Entgegnung der COVID-19-Pandemie zurückgedrängt wurden und jetzt – oh Wunder! – zurückkehren, und das mit voller Wucht. So plagt seit November 2022 insbesondere die jungen Säuglinge und uns im Gesundheitswesen eine RSV-Epidemie bislang ungekannten Ausmasses. Wir haben während der gesamten bisher fast 3 Jahre andauernden Pandemie nicht so viele Kinder wegen COVID-19 im UKBB behandelt wie wegen RSV allein im November 2022 (auch auf unserer Intensivstation!). Und was uns die Influenza sowie die ebenfalls temporär zurückgedrängten invasiven bakteriellen Infektionen (Meningokokken, Pneumokokken, Gruppe-A-Streptokokken u.v.m.) noch bescheren werden, können wir noch nicht abschätzen.
Seit wann besuchen Sie Kongresse und Fortbildungsveranstaltungen wieder vor Ort, und wie haben Sie sich zu Beginn dabei gefühlt?
Schon seit Anfang des Jahres 2022. Ich habe mich von Beginn an sehr wohl dabei gefühlt. Zum einen weil ich den persön-

lichen Kontakt zu und den Austausch mit meinen Kolleginnen und Kollegen sehr schätze, zum anderen weil ich mich auf meinen COVID-19-Impfschutz verlasse und ein hohes Mass an Sicherheit und Zuversicht habe, dass man als vollständig Geimpfter vor schweren Krankheitsverläufen recht gut geschützt ist. Dass ich mich heute anders – sprich: etwas vorsichtiger, aber nicht übertrieben distanziert – verhalte als noch vor 3 Jahren, ist sicher einerseits intuitiv bedingt und andererseits durch die entsprechenden infektiologisch-epidemiologischen Erkenntnisse der letzten 2 bis 3 Jahre zu erklären.
Oder bevorzugen Sie mitterweile Onlineveranstaltungen?
Wie ich schon beim letztjährigen Rück- und Ausblick an dieser Stelle bemerkte, wähle ich sorgfältig aus, welche Veranstaltungen mir die Reise wert sind: Das sind meist ganzoder mehrtägige, für mich wichtige Kongresse, insbesondere die Jahrestagung der Europäischen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (ESPID), welche im Mai in Athen stattfand und grandios organisiert war. Bei Veranstaltungen, welche auch online gewinnbringend sind, beziehungsweise bei Veranstaltungen, die aufgrund der Distanz und anderer Verpflichtungen vor Ort in Basel eine persönliche Anwesenheit nicht erlauben, verzichte ich auf die Reise. Das betraf zum Beispiel den Weltkongress zu Pertussis, meinem wissenschaftlichen «Steckenpferd», welcher im Juni in Vancouver stattfand.
Welche neuen Erkenntnisse und Erfahrungen des letzten Jahres waren für Ihr Fachgebiet besonders spannend?
Als Infektiologe und Vakzinologe waren das die differenziert zu betrachtende Entwicklung der COVID-19-Pandemie und die Impfprävention. Die anfängliche Hoffnung, das Virus eliminieren zu können, hat sich als trügerisch herausgestellt. Es ist klar geworden, dass der Impfschutz gegenüber unkomplizierten Krankheitsverläufen oder gar asymptomatischen Infektionen und Transmission derzeit suboptimal ist. Auch bleibt es wohl beim biologisch-immunologischen Wettrennen zwischen den Virusmutationen und den daraufhin angepassten Impfstoffen, solange kein Universalimpfstoff (den wir uns für die Influenza ja auch schon lange, aber bisher leider vergeblich wünschen) in Aussicht ist. Dem nachlassenden Impfschutz ganz allgemein werden wir mit Auffrischimpfungen begegnen können, deren Frequenz aber noch unklar ist und die sicher von vielen individuellen Faktoren wie zum Beispiel Komorbiditäten abhängen wird. Aber, um positiv zu enden, die heutigen Impfmöglichkeiten haben die Bedrohlichkeit von COVID-19 erheblich reduziert.
Welche neuen Erkenntnisse könnten Diagnose und Therapie in der Hausarztpraxis künftig verändern?
Ich fokussiere hier auf die Impfprävention. In der Hausarztpraxis, davon bin ich zutiefst überzeugt, sollte es möglich sein, die bestehenden EKIF-Empfehlungen schneller und konse-

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quenter umzusetzen, als das heute noch der Fall ist. Ich denke in erster Linie an FSME, Herpes zoster und COVID-19, aber auch an MMR, Varizellen, Pneumokokken und Pertussis bei Erwachsenen (!) sowie spezifisch an die Impfungen in der Schwangerschaft. Eine Schlüsselrolle zur Entlastung der Ärztinnen und Ärzte im Alltag (Aufdeckung von Impflücken, Aufklärung, Umsetzen) können hier die MPA einnehmen.
Haben Sie den Eindruck, dass sich die Impfbereitschaft in der Bevölkerung mit der Coronaviruspandemie verändert hat?
Nein, den Eindruck habe ich nicht. Ich denke eher, dass die von Beginn des moderneren Impfens an (ich denke an die

durch Edward Jenner Ende des 18. Jahrhunderts erprobte und

propagierte Pockenimpfung) zu beobachtende Polarisierung

in Impfbefürworter und Impfgegner weiterhin besteht und

sich sogar verstärkt hat, ohne sich wesentlich prozentual

bezüglich Zugehörigkeit zum einen oder anderen Lager ge-

ändert zu haben. Und dazwischen befinden sich noch die

Impfskeptiker, denen die Dynamik der Pandemie und die

häufigen Aktualisierungen der Impfempfehlungen zu schaf-

fen machen ... Ich mag mich täuschen, und mir sind keine

Studien bekannt, die das für die Schweiz systematisch unter-

sucht hätten.

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