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BERICHT
Wie und wann abklären?
«Nebendiagnose» Anämie
Wird eine Anämie entdeckt, während eine andere Krankheit oder ein Unfall im Vordergrund steht, stellt sich die Frage, ab welchem Hämoglobin-(Hb-)Wert weiter abgeklärt werden sollte. Da für Frauen und Männer unterschiedliche Normwerte definiert worden seien und eine Reihe weiterer Faktoren den physiologischen Hb-Gehalt beeinflussten, sollte man den Grenzwert individuell beurteilen, erläuterte PD Dr. Esther Bächli, Klinik St. Anna, Luzern, am Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM). Da in unserer Bevölkerung der Eisenmangel die am weitaus häufigste Ursache der Anämie ist, sollte man diese «Nebendiagnose» nicht übersehen, vor allem weil sie einfach therapierbar ist und die erfolgreiche Behandlung den Verlauf der Grundkrankheit positiv beeinflusst beziehungsweise das Wohlbefinden des Patienten fördert.
Der Unterschied in der Hb-Konzentration zwischen Mann und Frau ist durch den Testosteronspiegel erklärt; folglich sind die Geschlechtsunterschiede von der Pubertät bis zur Andropause zu beobachten (1). Ein Wohnort in grosser Höhe über Meer (ü. M.) sowie das Rauchen induzieren durch den Sauerstoffmangel einen Hb-Anstieg. Bei einem Wohnort von
2000 m ü. M. steigt der Normwert um 8 g/l, beim Rauchen von 1 bis 2 Päckchen um 5 g/l. Hier sollte man also schon bei einem höheren Hb-Wert abklären. Hingegen besteht bei schwangeren Frauen und bei Kindern ein tieferer Normwert von 110 g/l. Gewisse Ethnien scheinen ebenfalls einen um etwa 5 g/l tieferen Normwert zu haben.
Kasten:
Ursachen für einen absoluten Eisenmangel
▲ erhöhter Bedarf bei Kindern im Wachstum, Schwangerschaft ▲ erniedrigte Einnahme
– Armut oder zu wenig eisenreiche Ernährung (vegan, vegetarisch) ▲ erniedrigte Aufnahme von Eisen
– zeralienreiche Ernährung – chirurgische Entfernung eines Teils des oberen Gastrointestinal-
trakts – Krankheiten wie Helicobacter-pylori-Infektion, Zöliakie, atrophe
Gastritis – Medikamente, PPI ▲ chronische Blutverluste (häufig) – Menstruation – häufiges Blutspenden – gastrointestinal: Entzündungen, Karzinome, Wurmbefall
(Ancylostoma) – urogenital: schwere Menstruationsblutung – kardial intravaskuläre Hämolyse ▲ systemisch-hämorrhagische Teleangiektasien, Dialyse, ▲ Medikamente: Salicylate, NSAID, Antikoagulanzien, Kortikosteroide (machen Schleimhaut vulnerabel)
Normwert versus Grenzwert
Für Männer und Frauen wurden unterschiedliche Hb-Normwerte definiert (siehe Tabelle) (2). Nicht bei jedem Hb-Wert, der geringfügig unter dem Normwert liegt, muss abgeklärt werden, wohl aber sobald eine moderate Anämie von 80–100 g/l besteht. Das gilt für Frauen und Männer. Hier verschwindet die Geschlechtsdifferenz (2). Eine Studie untersuchte, in welchem Alter bei Frauen und Männern am häufigsten eine Anämie besteht (3). Während es in der Kindheit nur geringe Geschlechtsunterschiede gibt, ändert sich das in der Pubertät. Bei Frauen wird die Anämie in den reproduktiven Jahren durch Menstruation, Schwangerschaft und Geburt häufiger. Bei dieser Untersuchung zeigte sich, dass bei älteren Männern die Häufigkeit für eine Anämie stark ansteigt. Dies ist wahrscheinlich teilweise durch den falsch hohen Normwert für ältere Männer bedingt, der nach der Andropause bei geringerer Testosteronproduktion nicht mehr angewendet werden sollte.
Häufigste Ursachen der Anämie: Eisenmangel
In allen Ländern ist der Eisenmangel die häufigste Ursache der Anämie, in unserer Bevölkerung ist ein Eisenmangel in mehr als der Hälfte der Fälle die Ursache (4). Dabei steht eine einfache Behandlung zur Verfügung. Bei Frauen entsteht häufig durch Menstruation und Geburt ein Eisenmangel, der eigentlich behoben werden könnte. Immer an eine Anämie sollte man nach einer Operation denken, besonders bei Operationen des Gastrointestinaltrakts, bei kardialen oder orthopädischen Eingriffen. Eine Anämie ist häufig assoziiert mit einer erhöhten Mortalität und einer
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Tabelle:
Anämie: Definition der WHO (2)
Männer Frauen
< 130 g/l < 120 g/l
(milde Anämie: 100–129g/l, moderate: 80–99 g/l, schwere: < 80 g/l) (milde Anämie: 100–119g/l, moderate: 80–99 g/l, schwere: < 80 g/l)
erhöhten Rate an Rehospitalisationen (5). Wird die Anämie korrigiert, haben die Patienten einen besseren Verlauf. Deshalb sollte eine Anämie nach einer Operation nicht einfach als «normal» angesehen werden. Ohne Korrektur bleibt die Anämie oft lange bestehen (6). Die Ursachen für einen absoluten Eisenmangel sind im Kasten zusammengestellt (7). Die zweithäufigste Ursache ist die Niereninsuffizienz, vor allem im höheren Alter. Bei Menschen mit anderer ethnischer Herkunft, besonders aus dem äquatornahen oder mediterranen Bereich, muss man an Hämoglobinopathien, Sichelzellanämie und Thalassämien denken (8). Diese Krankheiten muss man allerdings nicht gleich in der ersten Abklärung berücksichtigen. Liegt ein normaler früherer Hb-Wert vor, ist eine solche Diagnose unwahrscheinlich.
Anämie: Abklärung in 2 Stufen
Zur Beurteilung der Anämie empfiehlt Bächli einen 2-stufigen Approach, der in 90 Prozent der Fälle zum Ziel führt. Der Grenzwert für eine weitere Abklärung liegt bei einem Hb < 100 g/l, wobei andere Faktoren wie Rauchen und Meereshöhe des Wohnorts berücksichtigt werden sollten. In einem ersten Schritt werden die Retikulozyten bestimmt. Das ist einfacher, als den komplizierten Retikulozytenproduktionsindex zu berechnen, und ebenfalls zuverlässig. Eine erhöhte Retikulozytenzahl (> 100 × 109/l) bedeutet eine erhöhte Erythrozytenproduktion, ausgelöst durch eine erhöhte Zerstörung der Erythrozyten (Hämolyse) oder eine Blutung. Eine verringerte Retikulozytenzahl (< 100 × 109/l) zeigt eine reduzierte Erythrozytenproduktion an. Die verschiedenen Ursachen können durch die Bestimmung des mittleren kor-
50% Eisenüberladung abklären
Transferrinsättigung Eisenmangel
40%
Eisenspeicher adäquat
Eisenspeicher adäquat
bei den meisten chronischen 30% Entzündungszuständen
Eisenmangel möglich
20%
chron. Nierenerkrankung
Eisenmangel
Eisenmangel möglich
wahrscheinlich
chron. Nierenerkrankung
10% bei den meisten mit erythropoiese-
chronischen
stimulierenden Medika-
Entzündungs-
menten mit/ohne Dialyse
zuständen
oder bei Herzinsuffizienz
Gefahr von Eisenüberladung
bei Eisen i.v.
Eisenspeicher adäquat
bei den meisten chronischen Entzündungszuständen
30 100
200 Ferritin (µg/l)
500
1000
Abbildung: Die Eisenspeicherung kann durch die Bestimmung von Ferritin und Transferrinsäure bei verschiedenen chronischen Entzündungszuständen (chronic inflammatory conditions, CIC) beurteilt werden (CKD: chronic kidney disease, ESA: erythropoesestimulierende Agenzien) (9).
puskulären Volumens (MCV) weiter differenziert werden: s tiefes MCV: Eisenmangel, Anämie bei chronischen Er-
krankungen (ACD), myelodysplatisches Syndrom (MDS), Thalassämie s normales MCV: Niereninsuffizienz, aplastische Anämie, ACD s hohes MCV: Schilddrüsendysfunktion, Vitamin-B12- oder Folsäuremangel, MDS, Leberkrankheit, Alkohol.
Eisenmangel: realer Mangel oder Sequestration?
Beim Eisenmangel als häufigste Ursache der Anämie muss man entscheiden, ob das Eisen im Körper tatsächlich fehlt oder ob es sequestriert wird (9). Bei Entzündungen kann das Eisen in den Speicherorganen Knochenmark und Milz zurückbehalten werden. Der Mechanismus läuft über das Hepcidin, das die Aufnahme von Eisen im Darm stoppt und das Eisen in den Speichern bindet. Sämtliches körpereigene Eisen wird in den Speicherorganen eingelagert. So kommt es zu einem funktionellen Eisenmangel. Bei diesen Patienten sollte man zuerst die Grundkrankheit behandeln, dann wird das Eisen wieder verfügbar. Bei einem chronischen Entzündungszustand (wie z. B. bei chronischer Niereninsuffizienz, entzündlichen Darmerkrankungen usw.) kann am besten aufgrund der Ferritinkonzentration und der Transferrinsättigung entschieden werden, ob es sich um einen wahren oder um einen funktionellen Eisenmangel handelt. Die Abbildung zeigt grafisch, wie der Eisenspeicher mit diesen beiden Werten beurteilt werden kann (9). Ein Ferritin < 30 µg/l und eine Transferrinsättigung < 45 Prozent zeigen einen sicheren Eisenmangel an (schwarzer Bereich). Die meisten Patienten mit einem chronischen Entzündungszustand und einem wirklichen Eisenmangel haben ein Ferritin < 200 µg/l und eine Transferrinsättigung < 20 Prozent (roter Bereich). Im gelben Bereich können Patienten mit einer chronischen Niereninsuffizienz einen Eisenmangel aufweisen, wenn die Transferrinsättigung zwischen 20 und 25 Prozent beträgt. Auch wenn das Ferritin < 500 µg/l und die Transferrinsättigung < 20 Prozent liegt, kann bei Patienten mit Dialyse und/oder Erythropotinbehandlung ein Eisenmangel vorliegen. Liegt der Ferritinwert hingegen > 500 µg/l und die Transferrinsättigung > 20 Prozent, hat es genügend Eisen, und man sollte kein Eisen geben, weil sonst eine Eisenüberladung droht (9).
Anämie und das Herz
Das Eisen ist wichtig für die kardiale Muskelfunktion und den Transport von Sauerstoff durch die Erythrozyten. Deshalb sollte man bei Patienten mit Herzerkrankungen immer abklären, ob eine Anämie besteht. Jeder Hb-Gehalt < 80 g/l ist für das Herz eine zusätzliche Belastung (10).
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Therapie des Eisenmangels
Bei einem leichten Eisenmangel kommt man oft mit einer
oralen Therapie zum Ziel. Dabei ist allerdings darauf zu
achten, dass eine tiefe Dosierung und eine Gabe nur jeden
zweiten Tag besser verträglich sind und zu weniger gastro-
intestinalen Nebenwirkungen führen. Wichtig ist auch, bei
Patienten, die eine elektive Operation vor sich haben, das Hb
zu kontrollieren und allenfalls eine Eisensubstitution prä-
operativ durchzuführen.
Bei einer schweren Eisenmangelanämie ist jedoch eine par-
enterale Eisensubstitution zu empfehlen. Der Patient sollte
nach einer Eiseninfusion noch 30 Minuten überwacht wer-
den, weil in dieser Zeit eine Anaphylaxie auftreten kann.
3 Monate nach einer Eiseninfusion sollte der Patient kontrol-
liert werden. Ist die Anämie nicht behoben und der Ferritin-
wert nicht im Normbereich, sollte man nach anderen Er-
krankungen suchen.
s
Barbara Elke
Quelle: SGAIM-Frühjahrskongress, 1. bis 3. Juni 2022, Lausanne; Vortrag «Nebendiagnose Anämie – welche Patienten wie abklären?» von PD Dr. med. Esther Bächli, Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin, Hämatologie und Intensivmedizin, Hirslanden Luzern, St.-Anna-Strasse 32, 6006 Luzern
1. Ferrucci L et al.: Low testosterone levels and the risk of anemia in older men and women. Arch Intern Med. 2006;166(13):13801388.
2. https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/85839/ WHO_NMH_NHD_MNM_11.1_eng.pdf
3. https://www.researchgate.net/figure/Global-number-of-prevalent-cases-and-the-point-prevalence-of-anemiaper-100-000_fig3_355921451
4. Safiri S et al.: Burden of anemia and its underlying causes in 204 countries and territories, 1990–2019: results from the Global Burden of Disease Study 2019. J Hematol Oncol. 2021;14(1):185.
5. Warner MA et al.: Prevalence of and recovery from anemia following hospitalization for critical illness among adults. JAMA Netw Open. 2020;3(9):e2017843.
6. Makam AN et al.: Predictors, and outcomes of hospital-acquired anemia. J Hosp Med. 2017;12(5):317-322.
7. Cappellini MD et al.: Iron deficiency anaemia revisited. J Intern Med. 2020;287(2):153-170.
8. Weatherall DJ: The evolving spectrum of the epidemiology of thalassemia. Hematol Oncol Clin North Am. 2018;32(2):165-175.
9. Fertrin KY: Diagnosis and management of iron deficiency in chronic inflammatory conditions (CIC): is too little iron making your patient sick? Hematology Am Soc Hematol Educ Program. 2020;2020(1):478-486.
10. Loncar G et al.: Iron deficiency in heart failure. ESC Heart Fail. 2021;8(4):2368-2379.
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