Transkript
FORTBILDUNG
Starke Empfehlungen, wenig Evidenz
Neue Guideline zur Behandlung von Patienten mit funktioneller Dyspepsie
Funktionelle Dyspepsie ist häufig, und die meisten Patienten werden in der Hausarztpraxis betreut. Die neue Guideline der British Society of Gastroenterology geht auf viele Aspekte der Diagnose und der Behandlung ein, und sie beantwortet häufige Praxisfragen: Welche Abklärungen sind notwendig, und welchen Stellenwert haben Diäten, die Eradikation von H. pylori, PPI und Prokinetika?
Gut
Man geht davon aus, dass die funktionelle Dyspepsie (FD), der sogenannte Reizmagen, letztlich auf einer Fehlfunktion der neuronalen Darm-Hirn-Interaktion beruht. Emotionen, Stress und bestimmte Nahrungsmittel können die Beschwerden triggern. Die Patienten empfinden Schmerzen oder ein Brennen im Oberbauch, sie sind zu schnell satt und/oder leiden unter postprandialem Völlegefühl – ohne dass endoskopisch klare Ursachen, wie beispielsweise Ulzera oder ein Tumor, zu finden sind. Die British Society of Gastroenterology (BSG) geht davon aus, dass 80 Prozent der Patienten mit «Dyspepsie» eine FD haben. In den Rom-IV-Kriterien wurde für die Diagnose der FD bis anhin eine Beschwerdedauer von mindestens 3 Monaten gefordert. Dieser Zeitraum wurde 2022 auf 8 Wochen verkürzt, um das Stellen der Diagnose nicht unnötig zu verzögern. Ähnlich wie beim Reizdarmsyndrom können akute gastrointestinale Infektionen mit der Entwicklung einer FD assoziiert sein; eine Metaanalyse ergab ein 3-fach erhöhtes FD-Risiko 6 oder mehr Monate nach einer akuten Gastroenteritis.
Notwendige Abklärungen
Die FD ist eine Auschlussdiagnose, sodass sich zunächst die Frage stellt, welche Abklärungen bei Abwesenheit von Alarmsymptomen (Kasten) nötig sind und welche nicht.
MERKSÄTZE
� Funktionelle Dyspepsie (FD) ist eine Ausschlussdiagnose.
� Bei Helicobacter-pylori-positiven FD-Patienten sollte der Magenkeim eradiziert werden.
� Helicobacter-pylori-negativen FD-Patienten sollte eine empirische PPI-Therapie in der niedrigsten Dosierung angeboten werden.
� FD ist nicht mit einem erhöhten Krebsrisiko verbunden.
� Es gibt individuelle Nahrungsmittel, welche eine FD triggern können, aber keine allgemeingültigen Diätempfehlungen. Vielmehr ist darauf zu achten, dass FD-Patienten keine Fehlernährung oder Essstörung entwickeln.
Serologie: Ein grosses Blutbild wird für Patienten ≥ 55 Jahre empfohlen, eine serologische Untersuchung auf Zöliakie für alle Patienten mit FD plus Reizdarmsymptomen. Endoskopie: Eine umgehende Endoskopie ist nur bei Patienten ≥ 55 Jahre mit Gewichtsverlust notwendig sowie bei Patienten > 40 Jahre, die entweder aus einer Region mit hoher Magenkarzinominzidenz stammen oder in Bezug auf gastroösophageale Tumoren eine familiäre Belastung aufweisen. Weniger dringlich, aber klar indiziert ist eine Endoskopie bei ≥ 55-Jährigen mit behandlungsresistenter Dyspepsie oder Dyspepsie mit erhöhten Thrombozytenwerten oder Dyspepsie mit Übelkeit oder Erbrechen. Computertomografie: Sie wird dringend empfohlen für Patienten ≥ 60 Jahre mit Abdominalschmerzen und Gewichtsverlust, um Pankreaskrebs auszuschliessen. Ultraschall: Eine Ultraschalluntersuchung wird für Patienten empfohlen, die seit weniger als 1 Jahr unter epigastrischen Schmerzen, die typisch für eine biliäre Kolik sind, leiden. Helicobacter-pylori-Test: Die BSG empfiehlt für alle anderen als die oben genannten Patientengruppen einen nicht invasiven Test auf H. pylori (Stuhl- oder Atemtest). Fällt dieser negativ aus, ist eine empirische säurehemmende Therapie anzubieten. Ist der Patient H.-pylori-positiv, soll der Magenkeim eradiziert werden. Diese Empfehlungen gehören zu den wenigen mit hoher Evidenzqualität, während diese bei den meisten Ratschlägen in der Guideline als niedrig oder sehr niedrig klassifiziert wird. Ob die Eradikation erfolgreich war, sollte nur bei Patienten bei einem erhöhten Magenkrebsrisiko überprüft werden.
Weitere Abklärungen?
Die Überweisung an gastroenterologische Spezialisten wird von den britischen Experten eher halbherzig empfohlen. Sie komme infrage, wenn diagnostische Zweifel bestünden, bei schweren Symptomen, bei behandlungsresistenten Beschwerden oder wenn der Patient das wünsche. Wenn schon, solle er einem auf FD-Patienten spezialisierten Zentrum zugewiesen werden, so die BSG. Eindeutig abgeraten wird von der routinemässigen Durchführung eines Magenentleerungstests oder eines 24-Stunden-pH-Monitorings.
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ARS MEDICI 23 | 2022
FORTBILDUNG
Kasten:
Alarmsymptome bei Verdacht auf gastroösophageale Tumoren
Dringende Endoskopie: ▲ Personen jeden Alters mit Dysphagie ▲ Personen ≥ 55 Jahre mit Gewichtsverlust und ≥ 1 der folgenden
Symptome: – Dyspepsie – Oberbauchschmerzen – Reflux
Endoskopie: ▲ Personen mit Hämatemesis ▲ Personen ≥ 55 Jahre mit
– therapieresistenter Dyspepsie – Dyspepsie mit erhöhter Thrombozytenzahl oder Übelkeit oder
Erbrechen – Oberbauchschmerzen mit niedrigem Hämoglobinwert, erhöhter
Thrombozytenzahl oder Übelkeit oder Erbrechen – Reflux mit erhöhter Thrombozytenzahl oder Übelkeit oder Er-
brechen – Übelkeit oder Erbrechen mit ≥ 1 der folgenden Symptome:
Gewichtsverlust, Reflux, Dyspepsie, Oberbauchschmerzen
National Institute for Health and Care Excellence (NICE): Suspected cancer: recognition and referral, NICE guideline [NG12], 2015.
Diagnose FD gut kommunizieren
Wenn die Diagnose FD klar ist, kommt es darauf an, den Betroffenen einige Fakten verständlich zu erklären: s FD ist eine chronische Störung mit fluktuierender Sympto-
matik. s Die FD-Symptome beruhen auf einer Störung der neuro-
nalen Darm-Hirn-Achse. s FD ist nicht mit einem erhöhten Krebsrisiko verbunden. s FD-Symptome können durch Stress getriggert werden. s Bestimmte, individuell unterschiedliche Nahrungsmittel
können FD-Trigger sein, es gibt jedoch keine allgemeine «FD-Diät», die für alle Patienten sinnvoll ist.
First-line-Behandlung
Wie bei allen Patienten mit chronischen Beschwerden rät man auch bei FD prinzipiell zu regelmässiger Bewegung und einem gesunden Lebensstil. Darüber hinaus sollte man darauf achten, dass FD-Patienten keine Fehlernährung oder Essstörung entwickeln. Nachdrücklich empfohlen werden die folgenden Massnahmen: s Eradikation von H. pylori s Protonenpumpenhemmer (PPI) in der niedrigsten Dosis
für alle H.-pylori-negativen FD-Patienten.
Weil ein Teil der FD-Patienten eine abnorme Magenmotilität aufweist, scheinen Prokinetika eine Option zu sein. Aber mit gängigen Prokinetika wie Domperidon oder Metoclopramid gebe es bei FD keine plazebokontrollierten Studien, sodass ihr Nutzen bei diesen Patienten unklar sei, schreiben die Guide-
line-Autoren. Darüber hinaus weisen sie auf Sicherheitsbedenken wegen möglicher Nebenwirkungen dieser Substanzen hin (Arrhythmie, extrapyramidale Wirkungen). Aussen vor lassen die britischen Experten phytotherapeutische Optionen für FD-Patienten, hierzu findet sich in der neuen Guideline keine Stellungnahme. Bei Patienten mit Gewichtsverlust und eingeschränkter Ernährung ist das mögliche Vorliegen von Essstörungen abzuklären. Man sollte gegebenenfalls frühzeitig einen Ernährungsberater hinzuziehen, um übertriebenen Ernährungsrestriktionen vorzubeugen.
Psychopharmaka und Psychotherapie als Second-line-Option
Es ist bekannt, dass psychische Probleme eine Rolle bei der Entwicklung einer FD spielen können. Darüber hinaus scheint die viszerale Sensitivität bei FD-Patienten erhöht zu sein. Beide Phänomene können durch Psychopharmaka beeinflusst werden. Ihre Indikation bei FD müsse dem Patienten gut erklärt werden, betonen die Guideline-Autoren. Psychopharmaka spielten in diesem Setting eine Rolle als Modulatoren der neuronalen Darm-Hirn-Achse. Trizyklische Antidepressiva sind bei FD wirksam. Man beginnt niedrig dosiert (z. B. Amitriptylin 30–50 mg/Tag) und titriert die Dosis langsam auf maximal 30 bis 50 mg/Tag. Für die Anwendung von selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmern (SSRI) oder Serotonin-NoradrenalinWiederaufnahme-Hemmern (SNRI) gibt es keine Evidenz bezüglich einer Wirkung als Modulatoren der neuronalen Darm-Hirn-Achse. Mirtazapin komme eventuell für Patienten mit vorzeitigem Sättigungsgefühl und Gewichtsverlust infrage, es brauche dazu aber noch weitere Studien, heisst es in der BSG-Guideline. Als psychotherapeutische Optionen werden die interpersonelle, psychodynamisch fundierte Psychotherapie (Kurzzeitpsychotherapie), die kognitive Verhaltenstherapie, das Stressmanagement und die Hypnotherapie genannt. Für alle Methoden gilt, dass die Empfehlung dafür nur schwach und die Evidenz sehr niedrig ist.
Mehr Forschung zur FD wird gefordert
Die meisten Ratschläge in der Guideline werden zwar als
starke Empfehlungen klassifiziert, die Evidenzlage jedoch mit
wenigen Ausnahmen als schwach oder sehr schwach. Deshalb
haben die Guideline-Autoren an das Ende ihrer Empfehlun-
gen eine lange Liste künftig zu erforschender Fragestellungen
gestellt. Neben naheliegenden Themen, wie zum Beispiel Stu-
dien zu Medikamenten und Medikamentenkombinationen
bei FD, gehört dazu der Wunsch nach epidemiologischen,
langfristigen Studien, um mehr über Risikofaktoren und Prä-
diktoren für den Verlauf einer FD zu erfahren. Offenbar weiss
man noch immer zu wenig über grundlegende Fakten zu
diesem häufigen gastroenterologischen Phänomen.
s
Renate Bonifer
Black CJ et al.: British Society of Gastroenterology guidelines on the management of functional dyspepsia. Gut. 2022;71(9):1697-1723.
Interessenlage: Die Autoren der Guideline haben keine Interessenkonflikte deklariert.
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