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BERICHT
Lipidsenker und Diabetes
LDL-C-Zielwerte, Nebenwirkungen und neue Substanzen
Jedes Jahr werden am PostADA/PostENDO-Symposium der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie die Highlights der Jahreskongresse der US-amerikanischen Fachgesellschaften für Diabetes und für Endokrinologie zusammengefasst. In diesem Jahr ging es unter anderem darum, was eine Senkung des LDL-Cholesterins (LDL-C) für einen Typ-1-Diabetiker bringt, welche Indikationen für Lipidsenker in diesem Zusammenhang relevant sind und was an der Befürchtung dran ist, dass Statine das Diabetesrisiko erhöhen können.
Diabetiker haben bekanntermassen ein höheres kardiovaskuläres Risiko, und besonders hoch ist die Inzidenz schwerer kardiovaskulärer Ereignisse (MACE) bei Typ-1-Diabetikern, das Gleiche gilt für Herzinsuffizienz und Albuminurie (1). Die prognostisch relevantesten Risikofaktoren bei Typ-1Diabetikern sind je nach betrachtetem Endpunkt unterschiedlich. Für die Mortalität ist das das HbA1c, für den akuten Herzinfarkt die Dauer des Diabetes, für den Schlaganfall der systolische Blutdruck und für die Herzinsuffizienz die Albuminurie beziehungsweise die glomeruläre Filtrationsrate (eGFR) (2). Der LDL-C-Spiegel steht unter den Risikofaktoren für Herzinfarkt an zweiter Stelle, für Schlaganfall und für Herzinsuffizienz auf Platz 3. Doch unabhängig davon, auf welchem statistischen Rang sich die einzelnen Risikofaktoren befänden, seien HbA1c, Albuminurie, Diabetesdauer, systolischer Blutdruck und LDL-C die wichtigsten Prognoseparameter, um das Risikoprofil eines Typ-1Diabetikers zu beschreiben, so die Autoren einer entsprechenden Studie (2).
LDL-C als beeinflussbarer Risikofaktor
Verringert eine LDL-C-Senkung nun tatsächlich die kardiovaskulären Risiken für einen Typ-1-Diabetiker? Randomisierte Studien gibt es hierzu nicht. Gemäss einer Metaanalyse der Cholesterol Treatment Trialists Collaboration vermindere eine LDL-C-Senkung um 1 mmol/l sowohl bei Typ-1- und Typ-2-Diabetikern als auch bei Personen ohne Diabetes das MACE-Risiko um relative 20 bis 23 Prozent. In absoluten Zahlen sind es pro Jahr 0,8 bis 1,5 Prozent weniger MACE bei Diabetikern und Nichtdiabetikern mit Statinen im Vergleich zu Personen ohne oder mit niedrig dosierten Statinen (3). In einer Auswertung schwedischer Registerdaten von 2006/ 2008 bis 2012 ging es um die Lipidsenkung als kardiovaskuläre Primärprävention für Typ-1-Diabetiker. Die Autoren dieser Beobachtungsstudie berichten von einer Verminderung aller einschlägigen Risiken um relative 22 bis 44 Prozent beim Vergleich von unbehandelten (n = 18843) und mit einem Lipidsenker behandelten Typ-1-Diabetikern (n = 5387). Derselbe Vergleich in einer 1:1 gematchten Kohorte (4025 unbe-
handelte und 4025 behandelte Typ-1-Diabetiker) ergab eine geringere Risikominderung. Sie war hier nur noch bei dem Parameter Gesamtmortalität zu sehen (Minderung um relative 26%), was nach Ansicht der Studienautoren daran liegen könne, dass durch die 1:1-Zuordnung zu viele Personen mit hohem Risiko aus der Statistik gefallen seien (4).
LDL-C-Zielwerte bei Diabetes
Für die kardiovaskuläre Risikobewertung bei Diabetikern, die Indikation von Lipidsenkern und die LDL-C-Zielwerte bei Diabetes gelten die Angaben in den Guidelines der European Society of Cardiology (ESC) und der European Atherosclerosis Society (EAS) (5): s Sehr hohes Risiko: Zielorganschaden oder ≥ 3 bedeutende
Risikofaktoren oder früher Beginn eines Typ-1-Diabetes mit langer Dauer von > 20 Jahren; Zielwert: < 1,4 mmol/l, ≥ 50 Prozent LDL-C-Reduktion. s Hohes Risiko: ohne Zielorganschaden mit Diabetesdauer ≥ 10 Jahre oder einem anderen zusätzlichen Risikofaktor; Zielwert: < 1,8 mmol/l, ≥ 50 Prozent LDL-C-Reduktion. s Für Typ-1-Diabetiker mit hohem oder sehr hohem Risiko werden Statine empfohlen. s Mittleres Risiko: junge Patienten (Typ-1-Diabetes < 35 Jahre; Typ-2-Diabetes < 50 Jahre) mit einer Diabetesdauer von < 10 Jahren ohne andere Risikofaktoren: Zielwert: < 2,6 mmol/l. s Niedriges Risiko: SCORE-Risiko für kardiovaskulär bedingten Tod < 1 Prozent innert 10 Jahren; Zielwert: < 3,0 mmol/l.
Neuer Risikorechner für Typ-1-Diabetiker
Wenn das 10-Jahres-Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis mehr als 10 Prozent beträgt, wird empfohlen, mit dem Patienten über den Beginn einer Statintherapie zu diskutieren. Weil in den Risikokriterien der oben genannten Guideline einige diabetesspezifische Parameter nicht berücksichtigt werden, wurde ein neuer Risikorechner erstellt, der für Typ-1-Diabetiker eine bessere Einschätzung ihres kardiovaskulären Risikos bringen soll (6). Der Risikorechner beruht auf den Daten schottischer Patienten, und er wurde mit den
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Daten aus dem schwedischen Register validiert. Er steht auf Englisch zur Verfügung (Linktipp). Dieser Risikorechner sei noch nicht validiert, und er könne nur bedingt auf andere Nationen übertragen werden, sagte Dr. med. Manuela Schöb. Aufgrund eines in der Schweiz vergleichbaren kardiovaskulären Risikos lieferten seine Daten dennoch eine gute Diskussionsgrundlage für das Patientengespräch.
Diabetes als Nebenwirkung der Lipidsenkung
Seit man in einer 2008 publizierten Studie über eine höhere Rate an neu diagnostiziertem Diabetes unter Statintherapie berichtete, wird diskutiert, wie relevant diese Nebenwirkung ist. Damals hatten 270 Personen unter Rosuvastatin einen Diabetes entwickelt, während in der Plazebogruppe 216 Fälle auftraten, was einem relativen Anstieg um 25 Prozent entsprach; die gesamte Studie umfasste 17 802 offensichtlich gesunde Personen, die 1:1 in 2 Gruppen randomisiert worden waren (7). Mittlerweile ist darüber hinaus bekannt, dass niedrige LDLC-Spiegel, unabhängig davon, ob medikamentös oder genetisch bedingt, das Risiko für das Entwickeln eines Diabetes steigern können (8). Diese Nebenwirkung der Statine wird nicht mehr bezweifelt, ihre Relevanz jedoch als gering eingestuft, weil die Vorteile der Lipidsenkung deren Nachteile bei Weitem überträfen. In absoluten Zahlen stellt sich das gemäss einer Publikation aus dem Jahr 2016 folgendermassen dar: In der primären Prävention eines MACE beträgt die «number needed to treat» (NNT) 20, in der Sekundärprävention 10. Die «number needed to harm» (NNH) hingegen beträgt für einen neu auftretenden Diabetes unter Statintherapie 100 bis 200, und das sowohl in der Primär- als auch in der Sekundärprävention (9).
Neue Lipidsenker
Bempedoinsäure greift an der ATP-Citrat-Lyase und somit auf einer anderen Stufe der Cholesterinsynthese als die Statine ein. Die Substanz ist ein Pro-Drug, das in der Leber aktiviert wird. Bempedoinsäure ist in der Schweiz bei Dyslipidämie zugelassen (Nilemdo® und Nustendi® [Kombinationspräparat mit Ezetimib]). Es besteht eine Limitatio. Als wich-
Linktipp
Rechner für das kardiovaskuläre Risiko bei Typ-1-Diabetes https://www.rosenfluh.ch/qr/cvd-risikorechner_t1dm
tige Nebenwirkungen gelten der Anstieg der Harnsäure im
Blut (2,1% mit Bempedoinsäure vs. 0,5% mit Plazebo) be-
ziehungsweise eine Hyperurikämie (1,7% vs. 0,6%) mit
etwas häufigeren Gichtschüben im Vergleich mit Plazebo
(1,4% vs. 0,4%) (10). Das Ergebnis der CLEAR-Studie zur
kardiovaskulären Wirksamkeit von Bempedoinsäure wird
für Ende 2022/Anfang 2023 erwartet.
Inclisiran (Leqvio®) hemmt als «small interfering RNA»
(siRNA) die Produktion von PCSK9, indem es mit der mRNA
für PCSK9 interferiert. Weniger PCSK9 bedeutet eine
Verminderung des LDL-C-Rezeptor-Abbaus, sodass mehr
LDL-C-Rezeptoren auf den Hepatozyten verbleiben und
LDL aus dem Blut ziehen. Das subkutan zu verabreichende
Medikament ist in der Schweiz zugelassen; es besteht eine
Limitatio (siehe www.compendium.ch). Inclisiran ist leber-
spezifisch. Bis anhin sind leichte Reaktionen an der Injek-
tionsstelle als Nebenwirkung bekannt. Das Ergebnis der
ORION-Studie zur kardiovaskulären Wirksamkeit von Incli-
siran wird für 2026 erwartet.
Der monoklonale Antikörper Evinacumab (Evkeeza®) führt
zu einer Senkung von Triglyzeriden und LDL-C. Die Subs-
tanz ist in den USA und in der EU, aber noch nicht in der
Schweiz zugelassen.
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Renate Bonifer
Vortrag «Dislipidemia» von Dr. med. Manuela Schöb am 21st PostADA/PostENDO-Symposium in Bern am 1. September 2022 in Bern.
Literatur: 1. Kristófi R et al.: Cardiovascular and Renal Disease Burden in Type 1 Com-
pared With Type 2 Diabetes: A Two-Country Nationwide Observational Study. Diabetes Care. 2021;44(5):1211-1218. 2. Rawshani A et al.: Relative Prognostic Importance and Optimal Levels of Risk Factors for Mortality and Cardiovascular Outcomes in Type 1 Diabetes Mellitus. Circulation. 2019;139(16):1900-1912. 3. CTT Slide Deck, https://www.cttcollaboration.org/efficacy-web-page, heruntergeladen am 18.11.22. 4. Hero C et al.: Association Between Use of Lipid-Lowering Therapy and Cardiovascular Diseases and Death in Individuals With Type 1 Diabetes. Diabetes Care. 2016;39(6):996-1003. 5. Mach F et al.: 2019 ESC/EAS Guidelines for the management of dyslipidaemias: lipid modification to reduce cardiovascular risk. Eur Heart J. 2020;41(1):111-188. 6. McGurnaghan SJ et al.: Development and validation of a cardiovascular risk prediction model in type 1 diabetes. Diabetologia. 2021;64(9):20012011. 7. Ridker PM et al.: Rosuvastatin to prevent vascular events in men and women with elevated C-reactive protein. N Engl J Med. 2008;359(21):21952207. 8. Ference BA et al.: Variation in PCSK9 and HMGCR and Risk of Cardiovascular Disease and Diabetes. N Engl J Med. 2016;375(22):2144-2153. 9. Collins R et al.: Interpretation of the evidence for the efficacy and safety of statin therapy. Lancet. 2016;388(10059):2532-2561. 10. Banach M et al.: Association of Bempedoic Acid Administration With Atherogenic Lipid Levels in Phase 3 Randomized Clinical Trials of Patients With Hypercholesterolemia. JAMA Cardiol. 2020;5(10):1124-1135.
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