Transkript
BERICHT
NACHGEFRAGT
Dr. med. Christian Kahlert Leitender Arzt Infektiologie & Spitalhygiene Ostschweizer Kinderspital St. Gallen
«Generell brauchen wir eine Erklärung für das Fieber»
Dann gibt es aus Ihrer Sicht vermutlich auch keine Temperaturgrenze, ab der ein Kind mit Fieber auf jeden Fall Antipyretika bekommen sollte? Kahlert: Genau, wichtig ist der Allgemeinzustand des Kindes. Wir wissen, dass Fieber per se nicht zu einer Gewebeschädigung führt. Es ist zwar tendenziell so, dass besonders bei kleinen Kindern mit 39 oder 40 Grad Fieber die Wahrscheinlichkeit für einen schweren Infekt ansteigt, aber wir können den Infektverlauf mit einer Fiebersenkung nicht wirklich beeinflussen – wir können damit nur das Wohlbefinden des Kindes beeinflussen. Auch Fieberkrämpfe verhindern wir nicht mit Antipyretika.
ARS MEDICI: Herr Dr. Kahlert, sollte man Eltern dazu ermuntern, bei ihrem Kind mit Fieber möglichst auf Antipyretika zu verzichten? Dr. med. Christian Kahlert: Nein, einen generellen Verzicht soll man nicht aktiv empfehlen, aber man muss die Eltern darüber aufklären, in welcher Situation Antipyretika sinnvoll sind und in welcher nicht. Es gibt ja Situationen, in denen sie gegeben werden sollen. Die Eltern müssen lernen, die Situation richtig einzuschätzen. Wenn die Eltern das Gefühl haben, dass es dem Kind mit dem Fieber nicht gut geht, ist eine Fiebersenkung empfohlen. Aber wenn es sich so verhält, dass sie dem Kind beim Fiebermessen sozusagen hinterherspringen müssen, würde ich empfehlen, trotz erhöhter Körpertemperatur auf Antipyretika zu verzichten oder, noch besser, gar kein Fieber zu messen.
Im Alltag werden viele Eltern in dieser Situation zunächst in der Praxis anrufen. Was muss die MPA die Eltern unbedingt fragen? Kahlert: Zentral ist, dass wir mit den Eltern diskutieren, wie es dem Kind genau geht, und zentrale Punkte aktiv abfragen. Wie ist die Atmung? Ist etwas auffällig? Falls Auffälligkeiten bei der Atmung bestehen, braucht es eine ärztliche Beurteilung. Wie steht es um die Vigilanz? Wenn die Eltern das Gefühl haben, sie kämen nicht mehr richtig an das Kind heran, ist das ebenfalls eine Situation, in der eine Untersuchung notwendig ist. Das Trinkverhalten ist wichtig, denn wir müssen sicherstellen, dass das Kind genug Flüssigkeit bekommt. Je kleiner das Kind ist, vor allem wenn noch Erbrechen und Durchfall hinzukommen, kann es rasch zur Dehydratation kommen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Aktivität. Ein kleines Kind legt sich ja nicht einfach ins
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Bett. Es ist immer aktiv, wenn es wach ist. Man kann in dieser Situation auch fragen, wie das Kind reagiert, wenn die Eltern das Fieber senken. Wird es dann wieder aktiver? Wenn nicht, dann liegt möglicherweise auch Schonungsverhalten aufgrund von Schmerzen bei Bewegung einer Extremität vor.
Kurz gesagt: Was darf man bei Fieber nicht übersehen? Kahlert: Atemnotzeichen, Vigilanzminderung und Dehydratationszeichen. Das heisst, die Eltern nach der trockenen Windel zu fragen, nach trockenen Schleimhäuten im Mund, aber auch nach Schonungsverhalten von Extremitäten. All das sind bei einem Kind mit Fieber Alarmzeichen. Ausserdem sollte länger dauerndes Fieber über einige Tage ohne Erklärung zu einer ärztlichen Beurteilung führen.
Nach welcher Ursache sollte man bei einem Kind mit Fieber zuerst suchen? Kahlert: Generell brauchen wir eine Erklärung für das Fieber. Je länger das Fieber bereits andauert, desto wichtiger ist eine Suche nach Erklärungen. Das heisst, man sollte bei Anamnese und Status alle möglichen Ursachen in Betracht ziehen. In den meisten Fällen sind die Atemwege beteiligt, also braucht es eine klinische Untersuchung der Atemwege inklusive Ohren mit Trommelfell. Zentral bei Kindern ist es immer, Harnwegsinfektionen auszuschliessen und den Urin zu untersuchen, vor allem wenn kein anderer Infektfokus offensichtlich ist. Und selbstverständlich sind bei der Abklärung ebenfalls alle Punkte wichtig, welche die MPA bereits am Telefon abfragen soll, wie Atemnotzeichen, Vigilanzminderung, Dehydratation und Schonungsverhalten. Auch die Anamnese ist hilfreich. Wenn zum Beispiel die Geschwister eine Atemwegsinfektion haben, ist es sehr wahrscheinlich, dass das Kind sich angesteckt hat und das Fieber damit in Zusammenhang steht. Es gibt in der Anamnese noch weitere Punkte, die wichtig sein können, wie zum Beispiel eine Auslandsreise, Ernährung oder Tierkontakte, das hängt vom jeweiligen Setting ab.
Gibt es Laborwerte, die helfen können, die Ursache des Fiebers bei Kindern zu finden? Kahlert: Klassische Infektparameter im Labor sind das CRP und Veränderungen im Blutbild. Im Hinblick auf gefährliches Fieber achten wir vor allem auf tiefe Zahlen von Neutrophilen und Lymphozyten. Neutropenie und Fieber sind ein Alarmzeichen in Abhängigkeit vom Alter des Kindes und von der Dauer des Fiebers. Tiefe Lymphozytenwerte können einen Verbrauch bedeuten, aber auch Hinweis auf einen Immundefekt sein. Leider gibt es keinen Laborwert, der sauber zwischen
einer bakteriellen und einer viralen Infektion unterscheiden kann – das ist ja die Hauptfragestellung. Braucht es lediglich eine symptomatische Therapie mit Fiebersenkung, wenn notwendig, oder eine Analgesie, zum Beispiel bei Otitis media, und vor allem ausreichend Flüssigkeit? Oder braucht es je nachdem auch eine Antibiotikatherapie? Eine spezielle Situation besteht bei Säuglingen in den ersten zwei Lebensmonaten. Bei ihnen wird generell meist eine komplette Sepsisabklärung durchgeführt, inklusive Blutkulturen und Lumbalpunktion. Bei ihnen kann man klinisch noch schwerer zwischen einem bakteriellen und einem viralen Infekt unterscheiden. Überdies ist die Wahrscheinlichkeit für eine bakterielle Ursache des Fiebers bei Säuglingen in den ersten zwei Lebensmonaten höher, weil sie gegen die häufigeren viralen Infektionen eigentlich noch einen gewissen Nestschutz durch mütterliche Antikörper haben. Für die Praxis heisst das, dass bei sehr jungen Kindern mit Fieber, also in den ersten zwei Lebensmonaten, eine Zuweisung ins Spital indiziert ist.
Wie nützlich sind aus Ihrer Sicht Algorithmen wie das NICEAmpelsystem für die Praxis? Kahlert: Solche Algorithmen helfen, eine gewisse Systematik anzuwenden. Diese Listen abzuhaken und über die einzelnen Punkte kurz nachzudenken unterstützt, dass keine wesentlichen Aspekte vergessen gehen, wenn man ein fieberndes Kind untersucht. In diesem Algorithmus wird entsprechend auf die spezielle Situation bei Säuglingen in den ersten zwei, drei Lebensmonaten hingewiesen.
Woran muss man bei Fieber noch denken? Kahlert: Es gibt noch einen Punkt, nämlich Fieber ohne infektiöse Ursache. Das ist eine wichtige Differenzialdiagnose. Es gibt zum Beispiel das im Kindesalter relevante Kawasaki-Syndrom. Wenn Kinder über 5 Tage lang Fieber haben und man zusätzlich Hautphänomene und Lymphknotenschwellungen findet, muss man an diese Erkrankung denken. Daneben gibt es die periodischen Fieber, wenn Kinder regelmässig im Abstand von 4 bis 6 Wochen immer wieder Fieber haben. Dann sollte man weiter abklären, ob es eventuell ein PFAPA-Syndrom* sein könnte. Unklares Fieber, das heisst Fieber, ohne dass wir eine infektiöse Erklärung finden, kann aber auch auf einen Immundefekt hinweisen. Insgesamt wird die Differenzialdiagnose dann sehr breit, die entsprechenden Erkrankungen sind aber auch sehr viel seltener.
* PFAPA-Syndrom: periodisches Fieber mit Stomatitis aphthosa, Pharyngitis und Adenitis)
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